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Das Mädchen und die Taube
Sie saß am Bahnsteig und wartete auf ihre Bahn. Es war 6:30 Uhr Sonntagmorgen, sie kam gerade von der Nachtschicht. Für diese Uhrzeit war ungewöhnlich viel los, nicht nur die übrigen Partygänger, sondern auch normale Menschen, mehr als sonst. Sie beobachtete müde den Bahnsteig gegenüber. Nun ja sie beobachtete nicht wirklich, da die Müdigkeit sie überschattete. Ihre Augenlider waren schwer und sie hatte Schwierigkeiten, diese offen zu halten. Ihre Gedanken schweiften zurück zur vergangenen Nacht, hatte sie alles erledigt? Sie versuchte in Gedanken aufzuzählen, was sie alles gemacht hatte, es gelang ihr aber nicht. Ihre Glieder fühlten sich schwer an, ihre Augen brannten. Ihr ganzer Körper ächzte nach Schlaf. Neben sie setzte sich eine alte, gebrechlich wirkende Frau. Sie nestelte in ihrer Tasche und zog dann umständlich Taschentücher hervor. Nachdem sie sich geräuschvoll die Nase geputzt hatte, begann sie zu schimpfen. Überall diese Drecksviecher, und der da füttert sich auch noch. Mit Drecksviecher meinte sie wohl die Tauben. Als sie sich konzentrierte, um ihre Umgebung besser wahrzunehmen viel ihr auf, dass auch die Tauben ungewöhnlich viele waren. Sie bewegten sich in Gruppen von einer potenziellen Futterquelle zur nächsten, ganz ohne Menschenscheu. Es waren graue, schmutzige Stadttauben. Wahrscheinlich suchen sie hier drinnen Schutz vor der Kälte. An einer Stelle war eine ganze Taubenschar. Ihre Köpfchen gingen aufgeregt hoch und runter, man konnte ihr gurren hören. Es war vor einer Bank. Ein Mann saß darauf. Dieser warf ihnen Brotkrumen zu. Sie war in Versuchung ihre Augen zu schließen, nur für einen Augenblick. Doch sie hatte Angst, dass der Schlaf sie übermannte und sie ihre Bahn verpassen würde. Also zwang sie sich ihre Augen offen zu behalten. Sie starrte gedankenlos zu dem Mann. Er war vielleicht um die vierzig. Hatte schwarzes langes lockiges Haar, und trug einen Bart. Eher ein Zehntage als ein Dreitagebart. Er wirkte sehr ungepflegt. Vielleicht war er genauso schmutzig, wie die Tauben, die er füttert, dachte sie träge vor sich hin. Wieder überkam sie das Verlangen, die Augen zu schließen, und als sie diesem fast nachgeben wollte, schnellte auf einmal die Hand des Mannes nach unten. Die Taubenschar wurde unruhig. Alle flogen ein Stück davon, man hörte das Flattern ihrer Flügel. Sie verstand nicht sofort, was die Tauben so aufgebracht hatte. Sie konnte sich kein klares Bild machen, bis sie entdeckte, dass der Mann, mit der schnellenden Handbewegung, eine Taube gefangen hatte. Diese hielt er nun fest in seinem Griff und setzt sie sich auf seinem Schoß. Sie rieb sich ihre Augen. Ihr Gehirn machte ihr vor Müdigkeit einen Streich, das wusste sie. Niemand würde freiwillig eine Stadttaube anfassen, geschweige denn auf seinen Schoß setzt. Mit der anderen Hand warf der Mann den Tauben die restlichen Brotkrumen zu. Doch diese wurden nicht angerührt. Und wie nach einem kurzen Zögern flogen alle Tauben davon. Sie sah immer noch das Täubchen auf seinem Schoß. Es wirkte ganz starr vor Schreck. Dann kam seine Bahn und er stieg ein. Sie glaubte nicht an das, was sie gesehen hatte. Doch dann hörte sie die alte Dame. Jetzt hat er einfach die Taube mitgenommen. Die Frau klang entsetzt.
Dann kam ihre Bahn. Sie stieg ein. Ein beklemmendes Gefühl vertrieb die Müdigkeit.
Ende.