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Das Mädchen und die Nacht
Durchbrochen wird die Stille in den Gassen von den Flügeltüren, die aufgerissen werden. Sofort strömen Menschen heraus, schon wieder vergessend, was der Priester ihnen versuchte, mit auf den Weg zu geben. Einige haben bereits ihre Handys gezückt, widmen sich ihren Geschäften oder schmieden Pläne für den Abend. Mitten unter ihnen ist Tamilia. Sie ist noch bei den Worten des Geistlichen. Das Böse sei wie ein Dornenstrauch und der gute Mensch sei wenigstens dazu angehalten, ihn zurückzuschneiden. „Wem Böses widerfährt, der wird Böses denken. Und ist der böse, der nicht weiß, dass er es ist?“, fragt sie sich, als sie von einem groß gewachsenen Herrn mit dunklen Haaren zur Seite gedrängt wird. Sie ist umringt von Menschen, die keine Zeit haben.
Ihre Mutter soll sie gleich abholen. Ehe sich Tamilia versieht, ist die Menge verschwunden und sie sitzt allein auf einer hellen, steinernen Bank auf dem kleinen Platz vor der Kirche, der sich scheinbar in die engen Gassen der Stadt gezwängt hat, Gassen, die mit runden, glatten Steinen gepflastert sind und die noch enger zu werden scheinen, wenn man an den Fassaden nach oben blickt. Der Platz liegt mitten in diesem Labyrinth und dennoch kann man mit Glück, wie heute, das Rauschen des Meeres hören. Die Kirche selbst ist klein, einfach und schnörkellos, aus weißen Steinen gemauert und besitzt keinen Turm, die Glocke ist in einem Raum unter dem flach anlaufenden Dach untergebracht, durch das runde Fenster über der Tür kann man sie sehen. Gerade reflektiert Staub in der Luft den azurblauen Himmel. Die Kirche glitzert nur einen Moment in grün, rot und blau.
Ein warmes Lächeln huscht über Tamilias zartes Gesicht. Dieser Ort ist für sie ein Fleck, um Frieden zu finden. Den Alltagslärm von Mensch und Maschinen hinter sich zu lassen. Links und rechts auf dem in der Abenddämmerung leuchtenden Platz stehen zwei alte, schmale Bäume. Ihre langen, hohen Äste berühren die Häuser in ihrer Nähe. Ein Vogel kommt über die Dächer herangeflogen und versucht auf einem der oberen Zweige zu landen, vorsichtig setzt er sich ab. Der Ast hält dem Gewicht nicht stand und biegt sich weit dem Boden entgegen, der Vogel balanciert und schafft es, sich zu halten.
Während der Zweig schwingt, sieht Tamilia zu dem Tier und dieses erwidert den Blick. Neugierig neigt er den Kopf zur Seite. Im nächsten Augenblick verlässt das Tier die Ruhe und verschwindet in der mittlerweile eingekehrten Dunkelheit. Der Kirchplatz liegt in einem ungewöhnlich hellen, diffusen Licht, dennoch lässt der Abend keine Blicke in die Ferne zu. Das Mädchen schließt die Augen, horcht in den endenden Tag hinein. Ein Windstoß durchbricht die lautlose Leere und bringt die Blätter zum Rascheln. Der Baum beschließt, wieder ein paar Blätter abzuwerfen, die goldgelb, rostbraun und orange durch die Luft wirbeln und schließlich auf dem weißen Pflaster bunte Flecken hinterlassen.
Einige von ihnen sind dem mächtigen Engel in die ausgebreiteten Flügel gefallen. Seine überlebensgroße Statur steht in der Mitte des Platzes, seine starken Schwingen hat er schützend über die Stadt ausgebreitet. Er hat eine sanfte Miene, als könne er in jedem Menschen stets das Gute sehen.
Vor mehreren hundert Jahren, so erzählt man sich, sei ein reicher Händler mit seinem Schiff in der Stadt angekommen. Er galt als gierig und unbarmherzig und unglücklicherweise war er nach mehreren Missernten der Einzige, der eine Versorgung der Menschen versichern konnte. Aber alles Flehen erweichte sein Herz nicht, denn die Menschen waren arm und konnten seine Waren nicht bezahlen. Nach wenigen Tagen kam er an der Kirche vorbei und beobachtete dort einen Raben, der etwas vom Boden aufpickte und er setzte sich auf eine der Bänke. Es wird gesagt, dass er sich in diesem Augenblick in die Kirche verliebt habe, andere meinen, dass der Raben zu sprechen begann und ihn für sein menschenunwürdiges Verhalten ermahnte. Der Händler sei panisch geworden und habe nach dem Tier geschlagen, der habe ihm die Augen ausgepickt und sei davongeflogen. Am nächsten Morgen war der Mann verschwunden und alle seine Lebensmittel waren zurückgeblieben. Bald darauf begann ein geachteter Bildhauer der Region mit den Arbeiten an der Engelsstatue. Der Auftragsgeber sei jener Händler, der damals so plötzlich verschwand.
Güte erfährt man wohl immer dann, wenn man sie nicht erwartet, denkt das Mädchen. Jetzt ist es vollständig dunkel geworden. Und still. Eben hatte man in der Ferne noch einen Lieferwagen hören können, jetzt scheint die die Welt wirklich stillzustehen. Der Platz liegt noch immer im selben Licht wie vorher. „Oder haben sich meine Augen bloß an die Dunkelheit gewöhnt?“, schießt es ihr durch den Kopf. Irgendwo knackt ein Ast. Der Laut verursacht einen langen Hall, man kann nicht sagen, woher er kommt. Dann ist das aufgeregte Schlagen von Flügeln zu hören. Direkt vor ihren Augen. Aber es ist nichts zu sehen. Es regt sich etwas. Das Mädchen schaut auf. Links vom Kirchengebäude blitzt etwas Helles auf. Etwas Langes, Glänzendes taucht aus der Dunkelheit auf. Zurrest erkennt sie es nicht. Dann erstarrt sie.
Ein Messer. Während es sich aus dem Schatten schiebt, wird es immer länger, schärfer. Ihre Augen bewegen sich sprungartig wie kleine, schwarze Punkte hin und her. Ihre Finger versuchen sich in die Bank zu bohren. Unfähig sich zu bewegen, beobachtet sie die Hand, die das Messer hält und jetzt sichtbar wird. Ihr Blick wandert den auftauchenden Arm herauf, einen Moment später ist der ganze Körper sichtbar. Das Mädchen glaubt, einen Mann zu erkennen. Er ist in eine schwarze Kutte gehüllt, sein Gesicht ist von einer weiten Kapuze verdeckt. Leicht gebückt kommt er mit quälend langsamen Schritten auf sie zu. Hinter ihr scheint eine Mauer zu sein, sie fühlt nur Kälte im Rücken. Sie will es nicht wagen, nach hinten zu sehen, denn eines weiß sie genau: „Er kommt auf mich zu.“
Die Entfernung über den Platz scheint immer kleiner zu werden. Das Mädchen fühlt den starren Blick der Gestalt. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie laut Luft holt, sodass es über den ganzen Platz zu hören ist. „Ich muss hier weg!“, ist ihr einziger Gedanke. Ohne den Kopf zu bewegen, sieht sie sich um und erblickt den Engel, einen mächtigen Beschützer. Der Mann kommt näher. Tamilia glaubt sogar ein höhnisches Grinsen aufblitzen zu sehen, er braucht sich nicht zu beeilen, wird bekommen, was er will.
Sie schleicht nun so leise, wie es geht, zur Engelsstatue herüber. Der Mann bemerkt es, ist unbeeindruckt. Dort angekommen, steigt sie auf den Sockel und presst sich mit dem Rücken an den steinernen Körper. Ein ohrenbetäubendes Geräusch durchfährt die Szene. Es ist so intensiv, dass es von den Häuserwänden reflektiert, noch lauter wird und die Bäume erzittern lässt. Es ist ein tiefes Knarzen, wie als wenn man schwere Metallteile verbiegt. Das Mädchen zuckt zusammen und hält sich vor Schreck die Ohren zu, sich von diesem Ort wegwünschend. Und sie kann sich nicht mehr bewegen. Die Statur hat ihre Flügel um sie geschlossen, sie eingesperrt! Und sie drückt zu, fester und fester. Die steinernen Flügel pressen sich an ihren Körper. Bis er dem Druck nicht mehr stand halten kann. Die Haut beginnt aufzuplatzen, Rinnsale fließen an den Flügeln herunter und bilden eine rote Pfütze auf dem Sockel. Ein markerschütterndes Knacken erfüllt die Umgebung, gefolgt von einem krächzenden Todesschrei.
Im nächsten Moment ist der Engel verschwunden. Auf dem Sockel sitzt stattdessen ein Rabe und steckt seinen Schnabel in die Blutlache, die sich ihren Weg zum Boden sucht. Der Körper des Mädchens ist zusammengesackt und liegt schlaff dahinter. Die weißen Steine des Platzes sind mit roten Spritzern übersät. Neben dem Raben liegen der lange Dolch und die Kutte, aber keine Gestalt. Die Nacht hat nun ihre dunkelste Zeit erreicht. Die kleine Kirche sieht still aus, alles scheint zu sein wie vorher. Durchbrochen wird die Stille der Nacht. Von ihr selbst. Denn sie braucht den Menschen nicht.