Mitglied
- Beitritt
- 17.08.2005
- Beiträge
- 123
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Das Mädchen und der Hase
Es war einmal ein junges Mädchen, das wünschte sich nichts sehnlicher als einen Spielgefährten. Das Kind war so schön wie der klare Tag. Es hatte langes gold glänzendes Haar, seine Haut war zart wie Ebenholz und in seinen blauen Augen vermochte man zu versinken. An jedem sonnigen Tag sprang es in Wiesen und Feldern umher um Blumen zu sammeln und Vöglein zu bestaunen. Doch ach, wie viel schöner wäre all dies, hätte es nur jemanden, mit dem es die Freude teilen könnte, dachte es bei sich.
Eines Tages trug es sich zu, dass das Mädchen in Mitten der Wiese im hohen Gras hockte und sich aus Margeriten einen Haarreif flocht, als plötzlich ein weißes Häschen ganz vertraulich herbei sprang. Sein Pelz glänzte so seidig, dass es eine Freude war, es anzuschauen. „Was springt so keck mir vor die Schuh’, welch goldig Tierchen bist denn du?“, fragte das Mädchen und nahm den Hasen zu sich auf den Arm. Dabei wunderte es sich, wie mager das arme Ding doch war. „Nicht ein Gramm Fett find ich an dir, gibt’s Gras und Heu doch reichlich hier.“
Das weiße Häschen schnupperte nur neugierig und bald begriff das Mädchen, worauf es aus war. Jeden ersten Tag der Woche gab seine Großmutter dem Mädchen sieben Stücke Zucker, eines für jeden Tag. Heute, am fünften Tage, trug es in der Tasche von seinem Kleid noch drei Stücke Zucker mit sich. Es holte eines hervor und hielt es dem Tier hin. Begierig schnappte es danach und fraß. Das Mädchen lachte herzlich und strich dem Hasen über den Pelz. Doch sowie er den Zucker verschluckt hatte, gierte er nach mehr und reckte und streckte sich nach der Tasche im Kleid. Da sprach das Kind, was die Großmutter es gelehrt hatte: „Nur ein Stück Zucker sollst du haben, an mehr sich’s nicht gesund zu laben.“ Und es fügte alsbald hinzu: „Doch kommst du morgen auch zurück, so geb’ ich dir ein weit’res Stück.“ Mit einem Ruck sprang ihm der Löffler vom Schoß und war im nächsten Augenblick schon fort gesprungen.
Es geschah, dass auch am nächsten Tag die Sonne lachte, und so kam das kleine Mädchen mit dem goldenen Haar wieder über die Weide gesprungen und hockte sich ins hohe Gras seinen Haarreif zu binden. Es dachte an nichts und sang vergnügt vor sich hin, da kam aufs Neue das weiße Häschen herzu gesprungen. Zuerst schnupperte es vorsichtig, doch als das Kind es mit seinen blauen Augen nur so anstrahlte, sprang es ihm gleich zutraulich auf den Schoß. Da sprach das Mädchen fröhlich: „Ach, wie wird das Herz mir warm, halt ich dich in meinem Arm. Scheinst mir redlich, lieb und fein, der rechte Spielgefährt’ zu sein.“ Doch das Häschen reckte nur die kleine Stupsnase nach der Tasche im Kleidchen und das Kind erinnerte sich, was es dem Tier am Tag zuvor versprochen hatte. Es holte ihm das zweite Stück Zucker heraus und das Häschen schnappte danach, als ob es wochenlang furchtbaren Hunger hätte leiden müssen. Gleich als es das Stück verschlungen hatte, lüsterte es nach mehr und klopfte mit dem Hinterlauf, auf das es noch etwas bekäme, doch des Mädchen Herz ließ sich nicht erweichen. Und so sprach es: „Nur ein Stück Zucker sollst du haben, an mehr sich’s nicht gesund zu laben. Doch kommst du morgen auch zurück, bekommst du noch das letzte Stück.“ Der Hase rümpfte kurz das Näschen und sprang dem kleinen Mädchen aus den Armen. Ohne einen Blick zurück sprang er fort und ward am selben Tage nicht wieder gesehen.
Am darauf folgenden Tag strahlte die Sonne noch heiterer und das Mädchen tanzte unbeschwert durch die Wiesen und sang was es nur wusste. Sein goldenes Haar wehte im Wind als es von Fleck zu Fleck sprang um die letzten Margeritten für seinen Haarreif zu sammeln.
Es ließ sich nieder die Blumen ineinander zu schlingen und sann bereits voller Freunde nach dem weißen Häschen. Es flocht den ganzen Tag und der Kranz wurde üppig und dicht, doch so sehr das Mädchen auch darauf hoffte, sein Spielgefährte blieb der Wiese fern.
Alsbald war das Werk vollbracht und das Mädchen hatte so lang an dem Haarreif gearbeitet, dass es darüber sehr hungrig geworden war und nun das größte Verlangen empfand von dem Zucker zu essen. Doch, ach, wie käme es dazu, das arme Häschen um die versprochene Gabe bringen? Und so harrte es noch lange aus und wartete, bis ihm der Magen knurrte wie ein grimmiger Bär. Schließlich dachte es bei sich, dass alles wohl so schien, als dass sich das Tier an diesem Tage nicht mehr blicken ließe, und da es sich vor Hunger nicht anders zu helfen wusste, griff es in sein Kleidchen, nahm das letzte Stück Zucker heraus und aß es auf.
Eine Weile darauf hörte das Mädchen ein Rascheln im Gras. Es lauschte und horchte, und schon im nächsten Moment sprang der weiße Hase forsch aus dem hohen Grün hervor.
„Ei, da bist du ja“, sprach das Mädchen und es blühte ihm das Herz auf. „Du hast mich nicht vergessen!“ Es breitete die Arme aus und das weiße Häschen sprang ihm vertraut auf den Schoß. Doch sowie es die kleine Stupsnase rümpfte und sich nach der Tasche im Kleidchen reckte, kehrte sich dem Mädchen das Herz im Leibe um und ihm ward ganz traurig zu Mute. „Ach, kleines Häschen, wie tut es mir leid, doch ist dort kein Zucker mehr in meinem Kleid. Ich aß ihn vor Hunger, verdenk es mir nicht, bring Neuen dir mit, wenn der Morgen anbricht.“
Das Häschen schaute zu dem Mädchen auf und es strich ihm mitleidig über den Pelz. Eine ganze Weile saß der Hase reglos da, doch dann, ganz unerwartet, tat er einen Satz und sprang dem Kind hinauf auf die Schulter. Das kleine Mädchen erschrak zuerst, doch dann musste es kichern, wie es merkte, dass ihm das Tier lustig am Öhrchen knabberte. Es sprach: „Ach, kleines Häschen, wie hab ich dich lieb, oh wenn doch nur alles gar immer so blieb.“
Mit seinen spitzen Zähnchen knabberte der Hase immer fort und das Mädchen empfand dabei das größte Glück, sodass es gar nicht merkte, wie rote Fädlein von Blut ihm die Wange herab rannen. Wie der Hase fraß, streichelte das Kind ihm das Fell und war darüber ganz selig. Schon bald hatte der Hase dem Mädchen das Ohr zur Gänze abgenagt und schnappte gleich darauf nach der Hand, die ihm über den mageren Rücken strich. Das Tier riss einen Finger ab und verschluckte ihn beinahe ohne zu Kauen. Das Blut färbte sein schneeweißes Fell ganz rot, doch weil das Rote im Weißen so schön aussah, streichelte das Kind es frohgemut weiter.
Voller Undank aber glitt der Hase ihm von der Schulter zurück in den Schoß. Dabei schlug er dem Kind seine Krallen in die zarte Haut und hinterließ darin tiefe Spuren. Das Tier zerriss das schöne Kleid und schnappte forsch in Schenkel und Bauch des Mädchens. Es riss ihm das Fleisch heraus und fraß es begierig auf. Das Kind kicherte und grunzte vor Freude, hatte es so etwas gefräßiges doch sein Lebtag noch nicht gesehen. Als der Hase bald an einem großen Stück Muskel kaute, hob das Mädchen den Löffler auf seinen blutigen Händen hinauf bis vor sein Gesicht und sprach: „Du bist mein größtes Glück auf Erden, wir wollen beste Freunde werden.“ Mit einem Haps schnappte das Tier dann nach der Nase des Mädchens und ehe es sich versah, hatte sie der Hase ganz heraus gebissen. Eine zinnoberrote Fontäne sprudelte dem Kind mitten aus dem Gesicht und es lachte von Herzen. „Der tollkühne Hase, er stiehlt mir die Nase!“, rief es vergnügt. In der Überraschung hatte es den Löffler auf die Weide entgleiten lassen, wo er nun ganz lüstern fraß. Wie er merkte, dass ihm das Mädchen nachstellte, um sich die Nase zurück zu holen, sprang er voran, immer gerade so weit, dass es ihn nicht ganz erreichen konnte. Auf allen Vieren langte es nach dem Mümmler, doch es bekam ihn nicht zu fassen. „Ei, du gutes Hasentier, nun gib doch meine Nase mir!“, gluckste es und man konnte es kaum mehr verstehen, da so viel Blut ihm über die Lippen quoll.
Schon bald hatte das Häschen die Nase ganz vertilgt und sprang dem Kind begierig an den Hals. Mit den spitzen Zähnen biss es sich an der Kehle fest und rüttelte sich und schüttelte sich. Das kleine Mädchen wusste gar nicht mehr wie ihm geschah und ganz schwindelig kam es auf die Beine. Es tollte wild über die Weide, das zappelnde Tier an seinem Halse reißend. Das Kind lachte und frohlockte und verspritzte sein Blut in alle Richtungen.
Und dann, im glücklichsten Moment seines Lebens, brachte der Löffler es zu Ende. Er stemmte seine pelzigen Hinterläufe gegen des Mädchens zierliche Brust und stieß sich mit einem Ruck von ihm ab. Dabei riss es dem Kind die Lebensader entzwei und stahl ihm den Atem seines letzten Sommertages. Glucksend und fiepend schnappte das Kind nach Luft, doch was es durch den Mund hinein sog, entwich ihm bereits am Halse wieder. Das rote Leben schoss in saftigen Bächen aus ihm heraus und vor lauter Entzücken entwich seinem Äuglein eine einzelne kleine Träne.
Der Hase war im weichen Gras gelandet und fraß. Er hatte allein Augen für sein großes Stück Fleisch und so merkte er gar nicht, wie das Mädchen hinter ihm heiser lachend ins Schwanken geriet, das Gleichgewicht zur Gänze verlor und mit ausgestreckten Armen, wie zu einer letzten Umarmung, nach vorn stürzte und seinen besten Freund auf der Welt unter seinem ganzen Gewicht begrub.
So lag es da in der Dämmerung, friedlich, in einem Meer aus rot getränktem Gras, als sei es selig eingeschlafen. Der geflochtene Margeritenkranz hing ihm noch schief im Haar als die Sonne leise am Horizont verschwand.
Doch dann, nach einer Weile, begann das Kind sich erneut zu regen. Nur ganz zart und kaum zu sehen, aber dennoch. Es zuckte leicht, als träume es schlecht, ruckte hier und ruckte dort. Und dann zerriss ihm auf dem Rücken plötzlich das Kleid und heraus schaute ein blutiges Hasenschnäuzchen. Es schmatzte leis und schaute zum aufsteigenden Mond hinauf. Dann tat das Häschen einen Satz und sprang aus dem Mädchen heraus. Satt und zufrieden hoppelte es in den Wald und ward nie mehr gesehen.
Das Mädchen lag nun wieder still.
Und wenn es nicht verrottet ist, so liegt es dort noch heute.