Mitglied
- Beitritt
- 02.04.2002
- Beiträge
- 44
Das Mädchen und der alte Baum
>Ganz früh am Morgen bewegt sich der lange knochige Ast, an dem alten, schon schiefen Baum....Der Wind weht durch die Äste, wie durch die Haare eines kleinen Kindes...<
Es sah so aus, als würde er jeden Moment umkippen und jedes Mal, wenn das kleine Mädchen an ihm vorbeiging, beschleunigte sich ihr Schritt. Noch nie hatte sie sich den Baum aus der Nähe angeschaut. Immer nur hatte sie ihn aus weiter Ferne beguckt. Er sah aus wie ein großes böses Monster, mit hervorstehenden Zähnen und riesigen schwarzen Augen, die größer und gewaltiger zu werden schienen, sobald sie es auch nur wagte ihm näher zu kommen.
Ihre Hand hielt sie stets eng an ihre Stirn, so daß ihre Augen diesen alten, morschen Baum nicht sehen mussten. Sie hatte Angst, die sich mit jedem Tag verschlimmerte.
Eines Nachmittages schlenderte das Mädchen auf einem schmalen Pfad entlang, als plötzlich ein starker Sturm über das Land hereinbrach. Sie rannte den Weg entlang, fing an zu zittern und lief noch schneller. Nach wenigen Minuten erreichte sie erschöpft und durchnäßt den, ihr gut bekannten, knochigen Baum. Sie stand direkt vor ihm.... Betrachtete ihn in all seiner Schönheit und zum ersten Mal, seit sie diesen hier entdeckt hatte, schaute sie ihn sich eingehend an...staunend öffnete sich ihr Mund und ein leises, kaum hörbares Seufzen drang heraus in die kühle Luft. Erleichtert krabbelte sie in den Rachen des Monsters. Ganz eng kuschelte sich das Mädchen an die feuchte, aber warme Rinde des Baumes. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen, zusammengekuschelt wie ein kleines Paket.
Am frühen Morgen wurde sie durch das fröhliche Zwitschern unterschiedlichster Singvögel geweckt. Wiesenpieper, Sommergoldhähnchen und Weidenlaubsänger trällerten vor sich hin und imponierten einander mit den verschiedensten Klängen, die durch die Natur hallten wie ein leidenschaftliches Konzert durch den Saal einer Oper.
Das Mädchen streckte sich kurz, sprang aus ihrem Unterschlupf und richtete ihren Blick der aufgehenden Sonne entgegen. Sie blinzelte leicht....drehte sich um und lächelte. Sie freute sich, ihre Angst überwunden zu haben...war froh, die Nacht an einem gemütlichem, sicheren Ort verbracht zu haben.
Sie hatte einen neuen Freund gefunden und von nun an legte sie sich jede Nacht in den Rachen des ihr nun vertrauten Monsters. Und jede Nacht schlief sie wohlbehütet ein und wachte mit der Musik der Vögel wieder auf.
Was sie jedoch nicht wusste war, dass er ihr aus seinem Leben erzählte. Dies machte er, wenn sie tief und fest schlief....Sie träumte, was er zu berichten vermochte. Am darauffolgenden Tag jedoch konnte sie sich an nichts mehr erinnern.
[Beitrag editiert von: The FallenAngel am 06.04.2002 um 17:49]