Das Mädchen mit der Violine
Er war schon immer etwas Besonderes gewesen.
Als ihn der Doktor vor 31 Jahren zum ersten mal hochhielt, kopfüber und schmierig, das gleißende Licht der Neonlampen des Kreißsaals schmerzhaft in den Augen brennend, hatte Er geschriene. Laut und irgendwie auch ziemlich sauer, so wie es kleine Kinder nun mal tun. Er hatte geschrien und geschrien und der Doktor meinte später zu seiner Mutter, er hätte zwar schon vielen Babys auf die Welt geholfen, aber noch nie hätte eines von ihnen so laut geschrien, wie Er.
Später im Kindergarten hatte Er dann aber nicht mehr geschrien und auch nicht geweint. Er war immer nur dagesessen und hatte die anderen Kinder beobachtet. Wie sie sich an Tischbeinen und Kinderstühlen hochzogen, auf ihren wackeligen Stummelbeine balancierten und immer und immer wieder zu Boden sanken. Irgendwann war ihm dabei langweilig geworden. Also war Er aufgestanden und gegangen, gefolgt von den verblüfften Blicken der Aufseher. Er war damals noch nicht einmal ein halbes Jahr alt.
In der ersten Klasse saß Er neben einem Jungen, der einfach nicht Lesen lernen konnten. Er versuchte es immer und immer wieder, bis sein rundes Gesicht voller Tränen und Rotz war. Aber die Kreise und Schnörkel wollten einfach keinen Sinn ergeben, so lange der Junge sie auch ansah, so oft er sie auch mit seiner ungeschickten, zittrigen Hand nachmalte. Die Lehrerin konnte sich nicht erinnern, dass Er jemals auch nur eine der Übungen mitmachte, die sie der Klasse aufgab. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass Er noch nicht einmal das Buch aufgeschlagen hatte, das mit vielen Bildern und übergroßen Buchstaben erklärte, wie man aus Kreisen Buchstaben und Worte machte und aus Buchstaben und Worte einen Sinn. Aber als sie ihn einmal aufrief, um den Zeitungsartikel vorzulesen, den sie mitgebracht hatte, weil er besonders viele schwere Wörter enthielt, las Er ihn fehlerfrei, jedes Wort.
Er verließ die Grundschule mit Einsen in jedem Fach. Auf dem Gymnasium wurde Er schnell zum beliebtesten Jungen der Schule, sowohl bei den Schülern als auch bei den Lehrern. Er war der erste aus seiner Stufe, der eine Freundin hatte. Und sie war sogar älter als Er. Am Ende der zehnten Klasse beherrschte Er vier Fremdsprachen, drei davon fließend, konnte Klavier und Gitarre spielen und hätte ein Stipendium an drei verschiedenen Topuniversitäten des Landes bekommen – wenn Er nur Lust dazu gehabt hätte. An diesem Tag hatte Er aber keine Lust gehabt.
Und um ihn herum blieben all seine Klassenkameraden und Freunde weit hinter ihm zurück, versuchten es immer und immer wieder und scheiterten.
Er war wirklich etwas besonderes. Er brauchte sich nun vorzunehmen, ein schönes Bild zu malen oder ein Fußballspiel zu gewinnen und es gelang ihm auch. In seinem ganzen Leben hatte Er nie etwas wirklich lernen müssen, es hatte immer gereicht zu wollen. Und das hatte Er schon von Anfang an gekonnt, seit dem Moment, als der Doktor ihn in die Luft gehalten hatte und Er nichts anderes gewollt hatte, als zu überleben und anfing zu schreien.
Er merkte erst, dass Er nicht glücklich war, als Er die Schule und das Studium längst beendet hatte. Er hatte eine hochrangige Stelle in einem gut bezahlten Job in irgendeiner Großstadt, ein nettes Haus im Grünen, eine liebevolle Frau, zwei kleine Kinder und einen Hund. Sehr lange verstand Er nicht, was nicht stimmte. Alles war perfekt. Er konnte immer noch alles, was Er können wollte und erreichte alles, was Er sich vornahm. Über all die Jahre war Er und der Rest der Welt so auf ihn fokussiert gewesen, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam, irgendwo anders zu suchen als bei ihm selbst. Und so gelang ihm zum ersten mal etwas in seinem Leben nicht – So oft Er es auch versuchte, Er fand einfach den Fehler nicht. Er verstand nicht, was ihn so unglücklich machte.
Bis Er eines Abends mit seiner Frau in ein Konzert ging. Es war ein Klavierkonzert und normalerweise hörte Er nicht besonders viel Musik. Wenn ihm nach Musik war, dann holte Er einfach seine Gitarre hervor und spielte. Manchmal sang Er auch dazu. Das gefiel ihm mehr. Aber Er mochte Klavier und seine Frau war ihm schon seit Wochen damit in den Ohren gelegen, dass die Virtuosin Weltklasse sei, eine der Besten und so hatte Er sich schließlich darauf eingelassen.
Sobald Er im Konzert saß und die Pianistin zu spielen begann, bereute Er seine Entscheidung. Sie war nicht gut, nicht einmal annähernd. Sie konnte das Tempo nicht einhalten. Mal war sie zu schnell, mal hielt sie einen Akkord zu lange. Sie betonte das Stück an den falschen Stellen. Einmal spielte sie sogar eine falsche Note. Aber als sie das erste Stück beendet hatte und Er noch überlegte, ob es sich wirklich lohnte, dafür auch noch zu klatschen, immerhin hatte Er schon den Eintritt bezahlt, standen um ihn herum die anderen Zuschauer auf und spendeten der Pianisten Stehenden Beifall und als seine Frau sich begeistert zu ihm umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen. Da hatte Er sich entschuldigt und war auf die Toilette gegangen.
Er hatte sich vor den Spiegel gestellt und sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt und angefangen zu weinen. Er wusste nicht einmal, ob Er froh oder verzweifelt war. Er wusste nur, dass Er begriffen hatte. Er hatte begriffen, warum Er nicht glücklich war. Er war vielleicht perfekt und sein Leben war perfekt, aber der Rest der Welt war es nicht. Und es ist schwer in einer unvollkommenen Welt zu leben, wenn man selber perfekt ist. Wenn man ganz genau weiß, wie die Dinge sein sollten und gleichzeitig ganz genau weiß, dass sie es nie sein werden. Es gibt immer eine falsche Note, jeder kommt irgendwann zwangsläufig aus dem Takt. Jeder außer ihm. Und Er war der einzige, der es jemals bemerken würde. Er würde nie ein Konzert genießen können, weil alles was Er hören würde, die Fehler darin waren. Er würde nie Buch lesen, dass ihn zufrieden stellen konnte. Für ihn würde es voller Rechtschreibfehler und Logiklücken sein. Er würde nie einen Menschen treffen, den Er so lieben konnte, wie sich selbst, weil jeder Mensch ein wenig unvollkommen und egoistisch und falsch war. Das Leben selbst war voller Fehler und damit wollte Er nicht Leben. Und was Er nicht wollte, dass konnte Er nicht.
Es regnete, als Er die Straße hinab lief, die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben. Er hatte gerade seine Arbeit verloren. Er wusste, dass Er darüber ärgerlich sein sollte. Oder traurig. Oder zumindest verstimmt. Aber Er war es nicht. Es war ihm einfach nur egal. In den vergangen Wochen hatte Er nicht mehr gearbeitet. Er war jeden Morgen erschienen, hatte sich an seinen Tisch gesetzt und dann den ganzen Morgen aus dem Fenster gestarrt und versucht, nicht darüber nachzudenken, dass der Bleistiftspitzer auf seinem Tisch einen kleinen Riss hatte und seine Sekretärin viel zu laut keuchte, wenn sie die Treppen zu seinem Büro hinauf lief und dass sein Sohn das letzte Tennisspiel verloren hatte. Dann versuchte Er, nicht darüber nachzudenken, dass seine Frau gegangen war, einfach so, an einem kalten Tag im Dezember, zusammen mit den Kindern. Und dann versuchte Er, nicht darüber nachzudenken, dass es ihm egal war, dass sie gegangen war. Das Er eigentlich sogar ganz froh darüber war, dass Nachts niemand mehr neben ihm leise schnarchte. Das Er nicht mehr die schrägen Flötenversuche seiner Tochter hören musste und seinem Sohn nicht mehr beim Verlieren zusehen musste. Das machte das Leben zwar nicht perfekt, noch lange nicht, aber erträglicher. Und dafür hasste Er sich.
Wie jeden Mittag ging Er zu dem Bäcker, zwei Straßen von seinem ehemaligen Arbeitsplatz entfernt. Er tat das nicht gerne. Die Brötchen schmeckten staubig und der Käse war meistens hart. Aber Er hielt sich an seine Routinen. Es war erträglicher jeden Tag das selbe schlechte Brot zu essen und von besserem zu träumen, als tatsächlich danach zu suchen, nur um dann damit leben zu müssen, dass es kein besseres Brot gab. Natürlich konnte Er selbst welches backen, aber das wollte Er nicht. Er wollte nicht alles selbst machen. Und so konnte Er es nicht.
Wegen dem schlechten Wetter war die Straße wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die mit gesenkten Köpfen an ihm vorbei eilten, hatten es eilig, ins Trockene zu kommen. Alle außer ihm. Er stand in gewisser Hinsicht immer im Regen, also sah Er keinen Grund dazu, ihm ausgerechnet jetzt entkommen zu wollen. So bemerkte Er auch als Einziger das kleine Mädchen am Straßenrand. Sie hatte einen orange gestreiften Sonnenschirm neben sich in eines der alten Beete gesteckt, so einen wie man ihn sonst im Sommer bei Straßencafés sieht und darunter stand ein kleiner, roter Notenständer und eine Violine. Noch hatte sie nicht begonnen zu spielen, sondern blätterte nur mit einem verträumten Gesichtsausdruck durch ihre Noten.
Er überquerte die Straße und blieb vor dem Schirm stehen. Er musste sich bücken, um sie sehen zu können. Aus der Nähe betrachtet war der Schirm ziemlich klein. „Es regnet.“ sagte Er zu ihr. Sie sah ihn an und lächelte. „Ich weiß.“ Er machte einen neuen Versuch. „Es macht keinen Sinn, jetzt zu spielen. Niemand wird dir zuhören.“ Kurz überlegte das Mädchen. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Du hörst mir zu.“ Er hatte es nicht vorgehabt. Normalerweise lief Er schnell weiter, wenn jemand auf der Straße ein Instrument zu spielen begann. Meistens war Er trotzdem nicht schnell genug, um ihren Fehlern zu entgehen. Aber Er wusste, dass das Mädchen Recht hatte. Er würde ihr zuhören. „Es regnet.“ begann Er erneut, in einem letzten Versuch, sich die Qual doch noch zu ersparen. „Das ist wirklich kein Wetter für so etwas. Der Regen wird lauter sein, als du. Er wird dich nur aus dem Takt bringen.“ Wieder lächelte das Mädchen und griff nach ihrer Violine. „Ich mag den Regen. Und ich habe keinen Takt.“
Und dann begann sie zu spielen. Sie konnte keine Violine spielen, da hätte ihm sogar seine Frau zugestimmt. Auf dem Notenständer lag zwar ein Lied, irgendein ihm wage bekannt vorkommendes Kinderlied oder ein Schlaflied vielleicht, aber sie spielte nicht nach den Noten. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt Noten spielte. Ihr Bogen kratze über das Instrument und es quietschte und summte und manchmal hörte es sich fast so an, als würde es schreien. Aber das Mädchen lächelte. Sie hielt die Augen geschlossen und wiegte ihren Oberkörper hin und her, zu einem Takt, den Er nicht hören konnte, so als würde sie gerade Mozart oder Beethoven spielen und Er brauchte eine Weile um zu verstehen, dass sie sich zum Klopfen der Regentropfen bewegte, die auf ihren Schirm fielen.
Irgendwann hörte sie auf zu spielen. Sie stellte die Violine ab und sah ihn erwartungsvoll an. „Das war schön.“ lobte Er sie, obwohl Er das eigentlich gar nicht hatte sagen wollen. Es war grauenhaft gewesen. Aber die Augen des Mädchens leuchteten, als sie begeistert nickte. „Ich weiß.“ Er warf einen weiteren Blick auf das Blatt vor ihr. „Spielst du nie nach Noten?“ fragte Er. „Doch. Ich spiele sie nur so, wie ich will.“ antwortete sie. „Aber dann sind sie doch falsch.“ wandte Er ein. Das Mädchen schüttelte den Kopf nur den Kopf. Dann packte sie ihre Violine vorsichtig in den Geigenkasten. Sie strich ihre Noten sorgfältig glatt, bevor sie sie zurück in die Mappe tat. Schließlich zog sie den Schirm aus der Erde, faltete ihn zusammen und steckte ihn sich unter den Arm. Als sie ging, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Sie sind nicht falsch. Nicht für mich. Für mich sind sie perfekt.“ sagte sie.
Er sah ihr nach, wie sie durch den Regen davon hüpfte, einen orangenen Sonnenschirm unter dem einen Arm, eine Geige unter dem anderen.
Es ist schwer in einer unvollkommenen Welt zu leben, wenn man selber perfekt ist. Aber an diesem Tag beschloss Er, dass seine Welt von nun an auch perfekt sein würde. Und was Er beschloss, das passierte auch.