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Das Mädchen mit der Mortadella
Die Schweine schliefen. Jens startete den Motor. In drei Stunden sollten die Tiere beim Schlachthof sein. Er schob sein Lieblingsalbum von AC/DC in den CD-Spieler und drehte auf. Die Zigaretten allein würden zum Wachbleiben nicht reichen. Drei Stunden, dachte er. Das war zu schaffen, wenn er auch verschlafen hatte. Er war so müde.
Zur selben Zeit stand einige Kilometer entfernt Thomas am Schlafzimmerfenster und wartete auf die Vandalen. Er blickte hinaus auf den Hof. Um zu hören, wie sie sich anschlichen, lauerte er in der Dunkelheit. Das Fenster aufreißen und etwas hinunterrufen, damit würde er sich nicht zufrieden geben. Die Treppe würde er mit zwei Stufen pro Schritt nehmen und die Haustür krachend auffliegen lassen, um ihnen den Schreck ihres Lebens einzujagen. Vielleicht würde er sogar einen festhalten und die Polizei rufen.
Hinter ihm räkelte Sabine sich im Bett. Sie nuschelte, es sei drei Uhr morgens, und seit fast zwei Wochen war doch schon nichts mehr passiert. Aber bis dahin war ja wohl genug passiert, wollte Thomas entgegnen. Stattdessen schnaufte er nur und sagte, er könne ohnehin nicht schlafen. Sabine schnaufte zurück.
Seit dem jüngsten Angriff schob er jede Nacht Wache. Zwei Tage zuvor war er mitten am Tag auf der Toilette eingeschlafen. Sabine prangerte seine Starrköpfigkeit an, aber die Worte wurden immer unverständlicher. Es klang, als hätte sie eine Kieferklemme. Schließlich ging ihr Atem wieder regelmäßig.
Nichts mehr passiert, hatte sie gesagt. Als wäre das vergessen, wie die Nachbarn gelacht hatten über seine Idee. Beim Sportfest, bei den zufälligen Treffen in der Stadt und auf dem Frühjahrsmarkt hatten sie gelacht. Nackensteaks, Bratwurst, Hausmachermett im Glas und vieles mehr – alles, was er auch im Laden anbot, aber zu jeder Zeit. Wie ein Cola-Automat. Das war seine Idee gewesen, sein iPhone, seine Relativitätstheorie. Die ihm den Vogel gezeigt hatten erwischte er später dabei, wie sie Nachschub für ihre Grillfeten holten. Spätestens am Sonntag, wenn die Supermärkte geschlossen waren, lachte niemand mehr.
Sie mussten es alle zugeben. Da hast du eine Idee gehabt, Thomas, ein iPhone, eine Relativitätstheorie. Nicht wie der Bringdienst. Das grinsende Airbrush-Schweinegesicht auf der Motorhaube des Kleinwagens schien von Woche zu Woche ein bisschen trauriger zu gucken. Das Fett-Mobil hatten die Jugendlichen im Dorf das Auto genannt, er hatte es selbst gehört. Sabine fuhr manchmal damit zum Einkaufen.
Der Automat war anders. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen Einfall gehabt, den sein Vater nicht mit einem Augenrollen quittiert hätte. Und da kommt er an einem Sonntagmorgen raus, um die abgepackten Bockwürstchen mit Senf nachzufüllen, und findet das Zeugnis seines Triumphes geschändet mit Graffiti und Aufklebern vor. Einiges war englisch gewesen. „Meat is Murder“ zum Beispiel, oder „Go vegan“. Er hatte nicht im Internet nachgesehen, was „Antispeziesistische Aktion“ bedeutet. Terroristen nennen sich selbst nie Terroristen, soviel wusste er.
Eine männliche und eine weibliche Stimme. Junge Stimmen. Sie kamen näher, und das schnell. Die Sprechenden mussten mit dem Fahrrad unterwegs sein. Eine zweite Jungenstimme. Sie klang betrunken. Die erste männliche Stimme warnte: „Alter, nicht so laut!“
Thomas ging in die Knie und zog den Kopf ein, obwohl kein Licht im Schlafzimmer brannte und sie ihn wahrscheinlich ohnehin nicht gesehen hätten. Durch das auf Kipp stehende Fenster verstand er jedes Wort.
„Mach' da nicht so einen Film von“, sagte die betrunkene Stimme. „Weißt du, wie fett der ist? Selbst wenn er rauskommt, was meinst du denn, was dann passiert? Hast du Angst, dass er uns auffrisst?“ Betrunkenes Gekicher.
„Halt die Fresse!“, zischte die andere Jungenstimme. „Du merkst gar nicht, was du für einen Krach machst, weil du so scheiß besoffen bist, du Idiot!“
„Und du bist so aggro, weil du nüchtern bist.“
„Marco, hör auf jetzt!“, befahl das Mädchen flüsternd.
Marco, dachte Thomas. Marco, Marco, Marco. Merken, für die Polizei. Draußen machte sich jemand die Haare. Jedenfalls klang es so, wegen des Zischens der Sprühdosen.
„So, jetzt seid ihr dran“, versicherte Thomas sich selbst noch einmal leise und näherte sich auf allen Vieren dem kleinen Tisch im Schlafzimmer. Darauf lagen die Schlüssel für das Fett-Mobil. Er nahm sie, nur für den Fall. Dann kam er langsam hoch und öffnete die Tür.
„Thomas?“, fragte Sabine, schläfrig und zu laut. „Thomas, was machst du?“
Er kreuzte hastig die Lippen mit dem Zeigefinger, aber es war bereits zu spät. Die Stimmen fluchten. Eine der Dosen fiel auf den Boden.
„Mann, Sabine!“, entfuhr es Thomas. Er lief zur Treppe, nahm mit einem Schritt zwei Stufen und ließ die Haustür krachend auffliegen. Drei in die Pedale tretende Fahrradfahrer drohten, in der Dunkelheit zu verschwinden. Ein unfertiger grüner Totenkopf mit nur einer Augenhöhle prangte auf dem Schaufenster des Automaten.
„Bleibt stehen!“, schrie Thomas. Und log: „Die Polizei ist unterwegs!“
„Fick dich!“, pöbelte die besoffene Stimme zurück.
Thomas' Finger zitterten. Vier Versuche brauchte er, um den Schlüssel im Schloss der Autotür zu versenken. Als das Fett-Mobil ansprang, schrie er auf, so laut war das Radio eingestellt. Sabine mochte AC/DC. Er drehte die Musik leise und trat aufs Gas.
Mit ständiger Lichthupe versuchte er, die Verbrecher einzuschüchtern, während er sie vor sich her jagte. Es brachte nichts. Sie waren schlau und trennten sich. Einer fuhr geradeaus, einer bog links ab in Richtung Gemeindehaus, einer rechts ins Feld. Blitzschnell kombinierte Thomas, dass seine Chancen am besten stünden, wenn er dem Feldflüchtling hinterher fuhr. Gut zwei Kilometer ging es geradeaus, links ein Graben, rechts ein Graben, dahinter Ackerfläche.
„Das war's, mein Freund“, stellte er zufrieden fest. Es war ihm ein Genuss, zu sehen, wie panisch die Zielperson sich immer wieder umdrehte. Schließlich tat sie es einmal zu oft und zu heftig. Das Vorderrad stellte sich quer. Der Fahrer flog über den Lenker. Thomas trat auf die Bremse.
Das Rad lag am Rande des geschotterten Wegs. Ein schwarzes Etwas war in den Graben gefallen, schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarzer Kapuzenpullover. Es rührte sich nicht. Thomas schluckte und stieg aus.
„Hallo?“ Der Graben war ausgetrocknet wie jedes Jahr im Juli. Er hüpfte hinein. „Hallo?“
Thomas' Emotionen stellten sich gegen ihn. Er empfand Bedauern und Schuld, dabei hatte er sich an niemandes Eigentum vergangen.
Das dunkle Ding bewegte sich kurz. Noch immer zitterten Thomas' Finger vor Aufregung. Er berührte den schwarzen Stoff. Dessen Träger fuhr herum und schrie ihn an, er solle bloß abhauen, du fette Sau. Die Kapuze rutschte dabei vom Kopf. Es war die Mädchenstimme. Jetzt, da er das Gesicht dazu sah, erkannte er sie.
Thomas sagte ihren Namen. Als Kind hatte sie sich die Haare gewaschen, und die waren auch nicht blau gewesen, und die Ohrringe hatte sie da getragen, wo sie hingehörten, nicht in den Lippen und nicht in der Nase, so wie jetzt. Aber ansonsten war es noch immer ihr Gesicht. Früher war sie nach der Schule manchmal in den Laden gekommen, da war sie in der ersten oder zweiten Klasse gewesen. Sein Vater hatte ihr dann immer eine gerollte Scheibe Mortadella über den Tresen gereicht, und sie hatte sich artig bedankt. Wie jedes normale Kind hatte sie Mortadella sehr gemocht.
„Annika.“ Es klang noch immer unecht, wie Conan oder Obi-Wan Kenobi. „Was soll das, ich meine, was machst du denn hier?“
Ihre Augen waren feucht. Sie hielt sich den rechten Arm. „Ich glaube, ich hab mir was gebrochen, du Arschloch“, schluchzte sie. „Dafür zeige ich dich an.“
„Aber … hast du mir den Automaten kaputt gemacht?“
„Wir haben ihn nicht kaputt gemacht, du fette Sau.“
„Aber ...“
„Deine widerliche Aas-Maschine funktioniert doch noch, oder nicht?“ Ein Rotzfaden schwang an ihrem Nasenring wie ein Kunstturner.
„Das tut weh!“, wimmerte sie und fing jetzt richtig an zu heulen. Sie wirkte zehn Jahre jünger, als hätte sie gerade erst eine Scheibe Mortadella abgestaubt. Thomas griff ihr vorsichtig unter den gesunden Arm.
„Was machst du, du Arschloch?“, schrie sie. Dann sogar: „Hilfe!“ Sie hatte wohl Angst, dass er sie auffrisst.
„Ich bring dich ins Krankenhaus.“
Sie keifte, er solle sie in Ruhe lassen, ließ sich ansonsten aber widerstandslos abführen.
Auf dem Feldweg voller Schlaglöcher fuhr er im Schritttempo, damit sie ihren Arm ruhig halten konnte.
„Musst du so schleichen?“, fragte sie. „Mein Arm tut scheiß weh.“
Er trat aufs Gas und sie wurden durchgeschüttelt.
„Aua, Mann, pass doch auf! Fahr gefälligst langsamer!“
Thomas seufzte. Annika war jetzt eine erwachsene Frau. Endlich endete der Feldweg.
„Kannst du bitte diesen Macho-Scheiß ausstellen?“
Er drehte Bon Scott mittendrin den Ton ab, sodass ein unbedarfter Zuhörer nicht mehr erfahren hätte, wohin der Highway führte, den der Rocker da besang.
„Kann ich jetzt auch mal was fragen?“
Annika stierte aus dem Fenster.
„Sagst du mir, was der Quatsch soll?“
Ein spöttisches Prusten entfuhr ihr. Das ganze Zeug aus ihrer Nase und ihren Augen hatte sich vor dem Mund gesammelt und spritzte gegen die Scheibe.
„Das schnallst du sowieso nicht, du blöder Bauer.“
„Tue ich auch nicht. Ich verstehe nicht, warum.“
„Natürlich nicht. Du legst bloß den Hebel um. Wie im KZ.“
„Was?“
„Lass mich in Ruhe. Zeig mich doch an. Ich hab kein Problem damit, dafür in den Knast zu gehen.“
Regen begann, gegen die Windschutzscheibe zu prasseln. Thomas stellte den Scheibenwischer an.
„In den Knast“, sagte er. „Ich denke auch, dass sie dich dafür in den Knast stecken. So ein Hochsicherheitsding, über dem die Hubschrauber kreisen. Wie bei James Bond oder so was.“
Er blickte zur Seite. Jetzt sah sie ihn an. Der Kampf gegen das heraufziehende Lächeln zeichnete sich in ihrem verweinten Gesicht ab, das eine ihrer blauen Filzlocken in zwei Hälften teilte. Als ihre Mundwinkel nach oben gingen, war sie das Mädchen mit der Mortadella. Thomas lächelte zurück. Licht flutete die Fahrerkabine, als würde die Sonne im Zeitraffer aufgehen. Annika sah nach vorn und schrie seinen Namen. Ihr war wohl eingefallen, er hieß gar nicht Arschloch.
Jens sagte, sie wären viel zu weit auf seiner Spur gewesen. Dazu die Straße, schmierig vom Sommerregen. Den Sekundenschlaf behielt er für sich. Auch deshalb weinte er. Die Tränen löschten die Zigarette zwischen seinen Fingern. Er hörte zwei Feuerwehrmänner flüstern.
Das ist kein Witz: Es könnte sein, dass seine Fettpolster den Fahrer gerettet haben, wie ein naturbelassener Airbag. Aber das Mädchen ist hin. Der Regen hatte schon wieder aufgehört. Im Anhänger schrien die Schweine.