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Das Mädchen mit der eisernen Maske

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28.11.2016
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Das Mädchen mit der eisernen Maske

I. Jette und Sandra

Die achtjährige Jette - in ihrem Schlabberlook - hatte das Gesicht eines Kieselsteins, mit kleiner Nase und einem fast lippenlosen Mund, aus dem das gesunde Auge ungläubig blickte. Vier Mädchen, alle älter als sie, standen um sie herum und hielten sie fest. Sandra Tenne, die Anführerin, schnitt ihr mit der Schere Löcher in die langen, hellbraunen Haare, die Jette jeden Morgen wusch. Franziska, Viola und Kim machten aus Spaß an der Grausamkeit mit. Kim filmte das Geschehen dabei mit der Handykamera. Sandra hatte kurze Haare und das Gesicht eines Knaben. Sie trug Hot Pants und ein kurzes T-Shirt. Ihre Freundinnen nannten sie „Die Leopardin“ und ihr Schweiß roch nach dem einer Jägerin auf der Jagd. Sie war stolz auf ihren Spitznamen. Die Ausdünstungen ihres Schweißes stachelten die anderen an.
Die vier Mädchen sangen: „Jette ist ein Hinkebein, eine Blindschleiche, eine hässliche Kröte, na na na na na. Ein mal vier ist vier, Hexen, die sind wir.“
Der Sing-Sang trennte sich von ihren Kehlen und wurde in die flirrende Sommerluft des frühen Morgen geschleudert. Er breitete sich über Jette aus wie eine zerfasernde Wolke im Himmelsblau.
Jettes Rucksack war ausgeschüttet worden und zerbrochene Malstifte, zerrissene Hefte und andere Sachen lagen auf dem Boden.
Nach Außen blieb Jette stoisch, still und kalt, während im Inneren ihres Herzens Vulkane glommen, die über kurz oder lang vor dem Ausbruch standen. Sie hatte das Bedürfnis zu weinen, aber sie wollte es nicht vor ihren Peinigerinnen tun, sondern heimlich und leise, wenn sie in ihrem Bett lag, so wie sie es schon immer getan hatte.
Jette sagte kaum hörbar: „Lasst mich doch endlich in Frieden.“
„Wir rupfen dich wie ein totes Huhn“, sagte Sandra.
Jette versuchte ihren linken Arm frei zu bekommen, doch Violas Griff war wie ein Schraubstock.
Da kam Sebastian, aus der vierten Klasse, zu der Gruppe, der das Treiben mitbekommen hatte.
„Was macht ihr da, ihr Hexen? Lasst sie sofort los!“ Die vier kicherten.
Sandra rief: „Da kommt der Romeo zu seiner behinderten Julia.“
Sebastian schubste Franziska gegen den Baumstamm, die ein überraschtes „Au“ von sich gab.
„Hört auf damit und schleicht euch“, sagte Sebastian.
Er hob seine Hand, feingliedrig und gepflegt, fast wie bei einem Mädchen, und war kurz davor Sandra eine Ohrfeige zu geben. Die richtete reflexartig die Schere auf Sebastian und zeigte ein Raubtiergrinsen in ihrem Gesicht.
„Ich werde euch bei der Schulleitung melden“, sagte Sebastian und nahm die Hand herunter.
Viola zündete ein Büschel langer Haarsträhnen, die zu Boden gefallen waren, mit ihrem Feuerzeug an. Der Geruch von verbranntem Haar stieg ihnen in die Nasen.
„Na gut, für heute soll es genug sein Jette, vielleicht fackeln wir dich nächstes Mal ganz ab, gehen wir“, sagte Sandra.
Die vier schlenderten zum Schuleingang. Franziska drehte sich noch einmal um, streckte Sebastian die Zunge heraus und zeigte ihm den Mittelfinger.
Jette tastete ihre Haare ab.
„Jetzt kann ich mir ja eine Glatze verpassen“, sagte sie.
Sebastian lächelte und sagte: „Ja, das sieht übel aus, Jette.“
„Meld es bitte nicht der Schulleitung, dann habe ich nur noch mehr Probleme.“
„Du brauchst dich nicht von denen fertig machen lassen. Ich finde, du bist keine hässliche Kröte. Du hast ein hübsches Gesicht.“
Das sagt Sebastian nur aus Mitleid mit dir, dachte Jette. Sie kniete sich vorsichtig hin und packte alles, was auf dem Boden war, in ihren Rucksack. Ihr Handy hatte einen Sprung auf dem Display.
„Hast du eine Mütze?“, sagte Jette.
„Keine dabei!“, erwiderte Sebastian.
Sie warf den Rucksack mit geübtem Griff um die linke Schulter. Strich mit der gesunden Linken über ihre lange, weite Strickjacke.
„Danke, ich lass mich heut von meiner Mutter krank melden.“
„Gern, bis dann. Und überleg dir das noch mal.“

II. Jettes Behinderungen und Timo

Timo Brometh schüttelte seine Tochter Jette, als sie ein halbes Jahr alt war, wie ein Berserker bis zur Bewusstlosigkeit. Als Konsequenz davon, war Jette auf dem rechten Auge erblindet, ihr rechter Arm blieb gelähmt, hing reglos am Körper herab und seit sie laufen konnte, zog sie hinkend das rechte Bein nach. Ihrer Mutter brach es das Herz, als sie Jettes erste qualvolle Schritte miterlebte. Jette nahm, seit sie vier war, regelmäßig Rivotril gegen ihre epileptischen Anfälle. Ihr Vater beteuerte anfangs, sie wäre ihm versehentlich aus den Händen und auf den Boden gefallen. Eine rechtsmedizinische Untersuchung ergab, dass davon die Schädigungen nicht begründbar waren. Schließlich verstrickte er sich in Widersprüche und gab dann alles zu. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Im Gerichtssaal weinte er. Ihre Mutter, Beate Brometh, trennte sich von Timo und reichte die Scheidung ein. Sie behielt jedoch ihren verhassten Ehenamen bei, aus Solidarität mit Jette. Nach Verbüßung der Haft wollte Beate nicht, dass Timo Jette noch einmal sah. Jette kannte somit ihren Vater nicht und hatte keine Vorstellung, wie er aussehen mochte. Timo wanderte nach Spanien aus und gründete in Valencia einen Segelyachtverleih, was immer schon sein Traum gewesen war. Einzige Verbindung zu seiner Tochter waren die monatlichen Unterhaltszahlungen, die er pünktlich per Dauerauftrag leistete. Das beruhigte Timos Gewissen. Im Grunde wollte er Jette und die Konsequenzen seiner Handlung gar nicht sehen. Er ging eine Beziehung mit einer Spanierin ein und hatte mit ihr ein Baby, einen Jungen, mit dem Namen Carlos.

III. Beate

Als Jette die Wohnungstür öffnete, wollte sie, so schnell es ging, in ihr Zimmer, ohne ihre Mutter anzutreffen. Sie hatte vor, später zu sagen, dass sie sich die Löcher in die Haare geschnitten hätte. Doch ihre Mutter stand schon im Flur. Obwohl sie noch keine Vierzig war, war sie schon ergraut und ihre Augen schauten trübe. Die Ärzte hatten Beate gesagt, dass Jette wegen ihren Gehirnschädigungen keine dreißig werden würde. Das hatte Beate für sich behalten. Sie würde es ihr sagen, wenn sie erwachsener wäre, damit sie es in ihrer Lebensplanung berücksichtigte.
„Oh Gott. Wie siehst du denn aus? Was ist dir passiert?“, sagte Beate.
Jette überlegte kurz und log: „Zwei Männer haben mich überfallen.“
„Hhh, haben sie dir noch was angetan?“
„Nur einige Sachen aus dem Rucksack kaputt gemacht.“
„Dann müssen wir die Polizei verständigen.“
„Bitte nicht! Die hatten Skimasken auf und an mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich will nicht zur Polizei. Bitte dränge mich nicht!“
Beate konnte ihrer Tochter nichts abschlagen.
„Dann aber ab zum Friseur, der muss dir wohl oder übel die Haare komplett abrasieren, damit du nicht wie ein Hamster mit Haarausfall aussiehst. Und in Zukunft werde ich dich immer zur Schule bringen und wieder abholen.“
Das würde mich vielleicht, bei diesen Gelegenheiten für einen Angriff, vor Sandra und ihrer Clique schützen, dachte Jette.
So schön konnten Lügen sein.
„Eine Mütze müssen wir noch kaufen, wenn ich aussehe wie eine Krebspatient“, sagte Jette.
Beate nickte. Sie verzog dabei ihre Mundwinkel.
Beate Brometh arbeitete sechs Tage in der Woche in einem Supermarkt von 20:00 – 22:00 Uhr als Kassiererin. Eine stupide Tätigkeit. Sie war vorher in einer Bank tätig gewesen und hatte einen anspruchslosen Job gehabt, musste ihren Beruf jedoch aufgrund von immer wiederkehrenden Angriffen des schwarzen Panthers aufgeben, wie sie ihre Depression beschrieb.
Den Rest des Einkommens bekam sie, neben Timos Unterhaltszahlungen, vom Amt.
Sie hatten also nicht viel Geld zur Verfügung und am Monatsende wurde es schon mal eng, sodass Beate beim türkischen Minimarkt vor der Haustür manchmal anschreiben lassen musste. Das war ihr noch immer peinlich.
Beate hatte seit Timo keinen Mann mehr gehabt. Sie empfand inzwischen, nur bei dem Gedanken an Männer, Widerwillen. Sie kümmerte sich ausschließlich um ihre Tochter.
In dieser Nacht weinte Jette in ihrem Bett. Sie war unsicher, wie sie sich weiter gegenüber den Mädchen verhalten sollte.

IV. Die Maske

An einem Herbsttag war Jette im Wald Pilze sammeln. Einen Giftpilz für Sandra, stellte sie sich vor und lächelte. Sie trug ihre Strickjacke mit den Bärchenmustern und eine Regenjacke. Darüber den Rucksack, den sie wie die Tüte mit den Pilzen mit der linken Hand – am linken Gurt - festhielt. Ihr Haar war schon etwa mehr als streichholzlang. Auf dem Kopf hatte sie eine rote Baseball-Kappe. Seit dem Vorfall vor der Schule hatte es nur noch verbale Schmähungen seitens Sandras und den anderen gegeben. Wie versprochen, brachte ihre Mutter sie immer zur Schule und holte sie auch wieder ab. In den Pausen war Sebastian bei ihr.
Pilze unterscheiden und sammeln hatte sie von ihrer Großmutter mütterlicherseits gelernt. Mit ihr war sie oft im Herbst im Wald gewesen. Jetzt war ihre Großmutter schon ein Jahr tot.
Sie stapfte durch das Dickicht und war müde. Sie entdeckte einen umgestürzten Baumstamm und setzte sich hin. Der Bodennebel, eine unruhige Haut, lag dicht über dem Waldboden. Er wallte und bewegte sich wie eine Schlange über die lehmige Erde. Sie setzte den Rucksack und die Tüte zu ihren Füßen ab und holte ihre Barbie-Puppe mit der blonden Mähne aus dem Rucksack. Sie nannte sie Ophelia. Ophelia war makellos. Jette betrachtete versunken die Puppe mit ihrem gesunden Auge, das konzentriert auf sie gerichtet war, während sich ihr blindes Auge unstet hin- und her bewegte, ohne dass sie dies merkte. Das konnte für manchen Beobachter befremdlich wirken. Wie schön wäre es, auch eine Barbie-Puppe zu sein, dachte sie. Sie stellte die Puppe in den Boden. Beinahe verschwand Ophelia ganz im Nebel. Jette streckte die Füße aus und berührte auf einmal etwas, das aus dem Boden ragte. Sie griff danach, wo es etwa sein musste und bekam einen metallenen Gegenstand zu fassen. Sie zerrte daran und aus dem Nebel tauchte eine etwa ein Zentimeter dicke, eiserne Maske auf. Die Maske schimmerte graubraun im Herbstlicht, das durch die Bäume hierher gelangte und war von Bodenresten verklebt. Jette säuberte die Maske. Sie roch an ihr und es war der Geschmack von Blut, den sie auf einmal im Mund hatte. Sie hielt die Maske vor ihr Gesicht und plötzlich schossen an beiden Enden Gummibänder aus der Maske hervor, die sich hinter ihrem Kopf verbanden. Die Maske begann ihre Form ihrem Gesicht anzupassen. Es kitzelte und rieb an ihrer Haut. Sie verspürte Angst, aber auch Erregung, was noch geschehen würde. Überrascht bemerkte Jette, dass sie mit dem rechten Auge durch den Augenschlitz der Maske sehen konnte. Zum ersten Mal in ihrem bewussten Leben sah sie auf dem rechten Auge. Das war erstaunlich. Da kam ihr ein Gedanke und sie versuchte den gelähmten Arm zu bewegen. Es funktionierte. Sie streckte ihn weit von sich und rief: „Yuhu!“. Sie stand auf und ging ein paar Schritte. Ihre Beine bewegten sich geschmeidig und fehlerlos.
Wie von einem Blitzschlag getroffen, blieb sie auf einmal stehen. Sie hörte eine Stimme in ihrem Inneren, die nicht die ihre war.
„Ich bin der Geist der eisernen Maske. Ich lebe von den Aggressionen meiner Träger und vervielfältige sie. Solange du mich trägst, sind deine Behinderungen aufgehoben. Du kannst normal sehen und dich frei bewegen. Auch hast du durch mich starke telekinetische Kräfte.“
Was bedeutet telekinetisch, sagte sie in ihren Gedanken.
„Du kannst beliebige Dinge bewegen oder zerstören, ohne sie berühren zu müssen, kraft deines Willens.“
Kann ich den umgestürzten Baumstamm hochheben?
„Versuch es!“
Jette konzentrierte sich auf den Baumstamm und tatsächlich er bewegte sich langsam in die Höhe, nahm Geäst und Blätter mit sich und schwebte einige Meter über dem Boden. Sie ließ ihn lustig um sich selbst drehen. Sie spürte so etwas wie unendliche Macht durch sich strömen. Sie setzte ihn wieder auf den Boden ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen wenige Meter entfernt stehenden Baum. Sie riss ihn aus dem Boden und ließ ihn umfallen. Das fühlte sich gut an, das war fantastisch. Sie tanzte und wünschte sich, dass Sebastian auch mit ihr tanzen würde. Ein neues Leben würde für sie anfangen.
„Räche dich an deinem Vater! Räche dich an der Welt!“
Jette hielt inne, als sie dies hörte. Für alles, das man bekam, musste man zahlen. Das hatte sie in ihrem bisherigen Leben gelernt.

V. Madame Bovary

Jette lag auf dem Bett und hatte die Maske an. Niemandem hatte sie von ihr erzählt und das würde auch so bleiben. Die Maske war ihr Geheimnis. Mit ihrer Mutter hatte sie vereinbart, dass sie immer anklopfte, bevor sie eintrat und nicht in ihren Sachen kramte. Sie las gerade „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert. Sie genoss es beim Lesen, mit beiden Augen zu sehen und so hatte sie es sich angewöhnt, beim Lesen die Maske zu tragen. Emma Bovary machte sie wütend und sie verstand noch nicht, wie man sich dermaßen von Männern abhängig machen konnte. Sie ließ das Buch aus ihren Händen gleiten, es schließlich in der Luft über ihr schweben und riss durch ihre Gedankenkraft eine Seite nach der andren aus. Trunkene Wörter-Schneeflocken schwankten links und rechts auf ihr Bett und den Boden ihres Zimmers. Sie kicherte. Sie bevorzugte inzwischen eher Bücher von Stephen King, wie „Carrie“ oder „Feuerkind“, ihre Schicksalsschwestern. Sie konnte sich nur ein Buch pro Monat leisten. Schade um „Madame Bovary“, dachte sie. Sie schob die Maske über ihren Kopf und verstaute sie in dem Rucksack, der an den Bettenden lag. Sie stellte das Metronom auf ihrem Nachttisch an. Der Taktgeber gab ihr den Rhythmus für den Schlaf vor, denn sie fürchtete sich vor der Totenruhe der Nacht.
Sie träumte, dass drei abgeschnittene Köpfe auf ihrem Schreibtisch lagen, die weh- und anklagend sangen. Der Gesang war unheimlich gewesen und bewegte sie im Traum sehr. Jedoch, sobald sie um sechs Uhr morgens aufgestanden war, hatte sie den Traum auch schon wieder vergessen.

VI. Das Massaker auf dem Klo

Heute werde ich Sandra zur Rede stellen, dachte Jette während der Deutschstunde. Der Zwist sollte endlich beendet werden. Sie wollte nicht mehr in Angst leben vor Sandras gewalttätigen Übergriffen. Zur Not kann ich sie ja mit der Maske erschrecken, sagte sie sich. In der Pause hielt sie Ausschau nach Sandra und hörte Sebastian nur unkonzentriert zu, der davon erzählte, was er in den Winterferien tun wollte. Als die Pause zu Ende war, schleppte sie sich in das Schulgebäude, wobei sie an ihrer Strickjacke herumspielte. Sie sah Sandra, wie sie zu den Toiletten lief. Eine perfekte Gelegenheit, dachte sie. Sie folgte ihr und betrat den Toilettenraum kurz nach Sandra.
„Sandra warte. Ich möchte mit dir sprechen. Ich will wissen, warum du so zu mir bist?“
„Das werde ich dir nicht verraten! Hau ab, du Stück Scheiße. Ich will beim Kacken mit dir nicht in einem Raum sein. Geh du Clown, sonst spül ich dich im Klo runter.“
Und Sandra schloss sich hinter eine der Toilettentüren ein.
„Jetzt reicht’s“, sagte Jette. Sie nahm die Maske aus dem Rucksack und legte sie an. Sie sprengte die graue Toilettentüre auf und erblickte Sandra mit herunter gelassener Hose auf dem Klo sitzend. Die sah nur verstört und mit offenem Mund Jette mit der Maske an. Jette verspürte in diesem Augenblick tödliche Wut.
„So, jetzt ist es mit deinem Terror ein für alle mal aus! Im Klo runterspülen? Das sollst du haben.“
Sie hob Sandra an und drehte sie in der Luft um 180 Grad. Dann rammte sie Sandra mit dem Kopf voran in die Abflussöffnung des Klos. Sie hob sie wieder an und rammte sie erneut ins Klo. Sie hämmerte und stampfte ihren Kopf in die Abflussöffnung, bis sie die Schädelknochen knacken hörte. Als letztes Lebenszeichen gab Sandra „Nicht!“ von sich. Sandras Kopf steckte im Klo fest und ihre Füße fielen auf den Boden. Eine lächerliche Skulptur, dachte Jette. Sandra war tot. Befriedigt ging sie zu der Toilettentür und lehnte sie an, damit man Sandra nicht gleich sah. Blutspuren von Sandras zerplatztem Schädel waren im Klo. Dann nahm sie die Maske ab und verließ den Toilettenraum. In der darauf folgenden Mathestunde dachte Jette über das Geschehne nach. Sie konnte sich jetzt auf Mathe nicht konzentrieren. Sie war einerseits befreit, andererseits tat es ihr auch leid, dass sie Sandra getötet hatte. Sie hatte Sandra zwar gehasst, insgeheim aber auch bewundert. Mit der Maske war eben nicht zu spaßen, sagte sie sich. Die nächsten Tage herrschte gedrückte Stimmung in der Schule wegen Sandras Tod. Die Polizei vermutete einen bizarren Selbstmord, ermittelte aber trotzdem in alle Richtungen weiter.

VII. Jettes Gedichte

Das nächste halbe Jahr verlief ereignislos. Jette hatte seit dem Tod von Sandra die Maske nicht mehr aufgezogen. Seit Sandra nicht mehr da war, hatten die Mädchen die Lust verloren, Jette zu quälen. Im Mai hatte sie Geburtstag. Sie feierte ihn mit ihrer Mutter, Tamara und Sebastian. Sebastian schenkte ihr einen Gedichtband von Heinrich Heine. Jette hatte im Winter zwei Gedichte geschrieben und danach lang an ihnen mit den Wörterbüchern gearbeitet, die noch von ihrem Vater stammten, der sehr sprachbegabt war. Auf der Feier trug sie die Gedichte vor:

Zeitpfeile

Die Sonne versteckt sich in ihrem Haar.
Das Haar glüht.
In Asche gemessene Zeit.
Das aschfarbene Schwalbengesicht,
es fliegt vorüber.
Im Flügelschlag gemessene Zeit.
Das Gesicht eines alten Mannes,
es lächelt ermüdet.
In Falten gemessene Zeit.
Ein geschriebener Satz,
er ist gefroren.
In Worten gemessene Zeit.

Wahrheitsworte

Wie ist Wahrheit?
Die Worte betrügen einander,
verlieren ihre Unschuld,
stehlen deine Einsamkeit,
fressen dein Eigenes,
bluten in dein Gewissen,
sperren deinen Weg.
Wahrheit in Worten,
erregt Leere,
verpasst sich und dich bei einer bunten Jahrmarktsliebelei.

Sebastian, Tamara und ihre Mutter johlten. Jette hatte jetzt immer ein kleines Notizbüchlein bei sich, um ihre Einfälle an geeigneten Plätzen nieder zu schreiben.
Sie mochte es, fremde Wörter anzusehen, nachzusprechen und ihre Bedeutung zu erkunden. Sel…bst…quä…lerei.
Ihr Vater hatte es auch zu diesem Geburtstag verpasst, sich zu melden. Sie sehnte sich nach ihm. Zwei Briefe hatte sie ihm heimlich geschrieben. Würde sie sich mit ihrem Vater versöhnen, könnte sie sich vielleicht auch mit ihrem eigenen Schicksal versöhnen, dachte sie.
Jette begann Ende Mai mit den minutiösen Planungen, ihren Vater zu besuchen.

VIII. Vorbereitungen


Vor allem ihre Mutter dürfte nichts von ihrem Vorhaben erfahren. Sie würde es ihr mit aller Macht verbieten. In den Stunden, in denen Beate auf Arbeit war, tüftelte sie die Einzelheiten ihres Plans aus. Es musste alles bis ins kleinste Detail bedacht werden. Das kostete sie große Mühe und ihr Gehirn kam dabei oft aus dem Takt. In der Kommode im Flur, das wusste Jette, hatte Beate die aktuelle Adresse von Timo verwahrt, sowie ihren Kinderreisepass. Die Handynummer Timos hatte Beate, soviel sie wusste, nicht. Das Wichtigste war, sie brauchte Geld, um nach Valencia in Spanien zu fahren und davon hatten sie nur wenig. Auch bereitete es ihr Kopfzerbrechen, was geschah, wenn sie als unbegleitetes Kind an den Grenzen kontrolliert würde, da die Kontrollen ausgeweitet worden waren, wegen der Terroristen. Würden die Grenzer sie nicht zurückschicken? Das war ein Risiko, das sie eingehen musste. Und sie würde Beate das Herz brechen, wenn sie einfach so verschwand. Das ist unvermeidlich, dachte sie und wurde etwas traurig bei dem Gedanken, welche Angst Beate um sie haben würde. Da fielen ihr wieder die Männer mit den Skimasken ein.
Aber sie wollte auch nur wenige Tage in Valencia bleiben und ihr Vater könnte ja Beate gleich benachrichtigen. So war ihre Mutter vor vollendete Tatsachen gestellt und musste den Besuch bei ihrem Vater hinnehmen. Ein, zwei Tage brauchte sie wohl bis nach Valencia. Sie würde mit der Bahn fahren, soweit sie mit dem Geld kam, das sie noch auftreiben musste, und dann gezwungenermaßen den Rest der Strecke trampen. Hoffentlich griff sie nicht die Polizei dabei auf, ängstigte sie sich. Sie studierte im Weltatlas, der im Wohnzimmerschrank stand, die Karte von Südfrankreich und Spanien und prägte sich die Städtenamen auf den verschiedenen Routen genau ein. Am dritten Juli begannen die Sommerferien in diesem Jahr. Anfang des Monats legte Beate immer 120 Euro Essensgeld in die Blech-Kassette in der Küche. Das musste dann für eine Woche reichen. Also sollte sie am besten Anfang August die Reise beginnen. Beate würde dann finanziell auf dem Trockenen sitzen. Sie müsste wieder anschreiben lassen. Wenn Jette zurückkam, wollte sie sich einen Job suchen und das Geld ersetzen. Es war nur heikel, wenn Beate bemerkte, dass das Geld und der Kinderreisepass fort waren. Sie käme womöglich auf den Gedanken, dass Jette auf dem Weg zu ihrem Vater war. Auch ein weiteres Risiko. Sie wurde mutlos, was ihren Plan betraf. Zuviel Unbekannte in dieser Gleichung. Sie rief bei der Bahn an, um zu erfahren, wie weit sie mit dem Geld voraussichtlich käme. Bis nach Marseille waren es 111,00 Euro. Jetzt brauchte sie nur noch ein großes Stück Pappe, auf das sie mit einem Edding Valencia zu schreiben hätte, für die Strecke, die sie trampen musste. Im Deutsch-Französischlexikon schlug sie nach was „Autobahn nach Spanien“ hieß. Autoroute a l’Espagne.

IX. Die Bahnfahrt und der Mitreisende

Es war am Abend des ersten August und sie war auf dem Weg nach Marseille. In Strasbourg und Lyon würde sie umsteigen müssen und um 12:20 am nächsten Tag wäre sie dann am Hauptbahnhof in Marseille. Sie hatte ihrer Mutter am Morgen gesagt, dass sie über Nacht bei Tamara schlafen wollte. Dies verschaffte Jette einen zeitlichen Vorsprung. In dem Abteil, in dem Jette saß, war noch ein Mitreisender. Etwa vierzig Jahre alt und sportlich gekleidet. Er las „Die Zeit“. Auf dem freien Sitz neben ihr lag ihr Rucksack. Ihr Handy hatte sie nicht mitgenommen, wegen der möglichen Ortungsgefahr. Sie fixierte ihren Reisegenossen mit dem Blick, er sah sympathisch aus, mit weichen braunen Augen und sie überlegte, wie sie ein Gespräch mit ihm anfangen konnte. Sie entschied sich für einen saloppen Anfang.
„Wohin fährst du?“
Er legte die Zeitung auf seine Beine und sah Jette an. Irritiert schaute er auf Jettes blindes Auge, das sich wieder unruhig bewegte, behielt aber seine Eindrücke für sich.
„Lyon und du?“
„Marseille, muss aber in Lyon umsteigen. Dann können wir ja bis Lyon zusammen fahren…“
„Bist du allein unterwegs?“
Jette nestelte an ihrer Strickjacke und setzte alles auf eine Karte.
Sie erzählte ihm alles, außer von der Maske. Dabei erfuhr sie, dass er Eduard Kux hieß und Immobilien in Frankreich an deutsche Kunden verkaufte. Schließlich bat sie ihn, bei einer Grenzkontrolle zu sagen, dass er Ihr Onkel mütterlicherseits wäre.
Eduard sah ihr tief ins gesunde Auge.
„Danke für deine Offenheit. Du hast Glück, ich hab ein Herz für Ausreißer. Ich bin ein Heimkind und aus vielen Heimen immer wieder ausgerissen. Leider haben sie mich immer wieder geschnappt. Ich weiß also, wie es ist. Ich verrate dich daher nicht, werde dir aber auch nicht helfen. Die Verantwortung ist mir dafür zu groß. Ich wünsche dir, dass du mit deinem Vater Frieden schließen kannst.“
Und seine Lippen wurden hart wie Eisstücke.
Jette war kurz davor zu schluchzen. Sie nahm ihren Rucksack und verließ das Abteil. Dieser Blödmann, ich hab mich in ihm getäuscht, sagte sie sich.
Sie ging ein paar Schritte und sah aus dem Fenster. Sie wartete eine halbe Stunde und hoffte verzweifelt auf eine Idee, die sie über die Grenze bringen würde.
Da kam ein Mitglied der Bahn-Crew, der einen Wäschewagen vor sich her schob und am Ende des Gangs die Tür zum Wäscheabteil aufschloss. Jette beobachtete ihn genau. Der Mann verstaute einige Wäschesäcke, schloss die Tür zu und ging mit dem Wäschewagen weiter.
Sie bummelte zu dem Wäscheabteil, wandte ihm den Rücken zu und stellte sich vor das Fenster. Es war mittlerweile dunkel geworden. Sie sah ihr Gesicht sich in der Fensterscheibe widerspiegeln und dahinter Baumreihen an ihm vorüberziehen. Dann nahm sie ein fremdes Gesicht wahr, das wie das Antlitz eines Bösewichts in einer Theateraufführung aussah.
Sie hatte die Maske aufgesetzt. Wenn jemand käme, würde sie sagen, dass sie Künstlerin sei, fiel es ihr absurder Weise ein. Sie lächelte über diesen Gedanken.
Der Zug hielt an. Es war die Grenze. Sie sah sich um und verbog dann das Schloss mit ihrer telekinetischen Kraft, bis die Tür aufsprang. Sie huschte hinein und der Geruch muffiger Wäsche empfing sie. Sie musste jetzt ganz wachsam sein und die Tür zugedrückt halten. Wenn sie hier erwischt würde, wäre dies das Ende ihrer Reise. Sie lauschte an der Tür. „Guten Abend, Grenzkontrolle!“, hörte sie mehrfach sagen.
Sie hoffte, dass die Beschädigung der Tür nicht zu offensichtlich war. Schließlich stand irgendwer vor der Tür und drückte die Klinke. Panisch hielt sie die Tür geschlossen.
„Ist wohl das Schloss kaputt“, sagte jemand.
Nach einer Ewigkeit begann der Zug sich wieder zu bewegen. Sie setzte die Maske ab, schlüpfte aus dem Abteil und suchte sich eine neue Sitzgelegenheit. Am besten eins, in dem niemand saß, sie hatte die Lust auf Gesellschaft verloren.


X. Die blutige LKW-Fahrt

Jette war an der Autobahnzufahrt nach Süden bei Marseille. Alles hatte bisher prima geklappt. Soviel Glück hatte man nicht zweimal. Es begann dicke Tropfen zu regnen. Sie arbeitete sich in ihre Regenjacke. Auf der Fahrt nach Marseille hatte sie aufgeregter Weise und schon an den kommenden Winter denkend, doch noch die Muße gefunden, ein weiteres Gedicht in ihr Notizbüchlein zu schreiben:

Einsames Lachen

Ein rollendes Rad auf der Wiese.
Winterlandschaft ohne Weiß,
die Zeit gräbt die Zeit aus.
Der Weise lacht,
der gewöhnliche Mensch verzweifelt.
Das Metronom tickt,
meine Erinnerung verbirgt sich,
ich bin ein Monster.
Der Weise lacht,
der gewöhnliche Mensch verzweifelt.
Die Wiese blüht bunt,
jetzt ist Herbst!
Werd ich die Schwärze des Winters überleben?
Der Weise lacht,
der gewöhnliche Mensch verzweifelt.

Etwa eine Stunde wartete sie an der Zufahrt, als ein LKW am Straßenrand hielt. Sie hinkte zu dem Lastwagen. Der Fahrer machte die Beifahrertür auf und sie sagte: „Valencia?“.
„Tak!“, sagte der Fahrer auf Polnisch, der wulstige Lippen und blonde Haare hatte.
Jette krabbelte auf den Beifahrersitz und schnallte den Gurt um. Ihr etwa dreizehn Zentimeter langes Haar klebte in ihrem Gesicht. Der Fahrer machte Musik an und sie fuhren durch den Regen. Jette dämmerte vor sich hin, denn sie hatte auf der Fahrt nach Marseille nicht schlafen können.
An der Grenze zu Spanien staute sich der LKW-Verkehr in einer langen Reihe. Sie drehte sich zum Fahrer und sagte: „Ich muss mich verstecken!“.
Sie deutete auf die Schlafkoje hinter den Sitzen.
„Nix Passport“, schwindelte sie, in der Hoffnung, dass der Fahrer ihr Problem verstand. Der nickte nur. Sie öffnete den Gurt und stieg über den Beifahrersitz in die Koje und machte die Vorhänge zu.
Als sie am Schlagbaum waren, kurbelte der Fahrer das Fenster auf seiner Seite herunter und sprach Spanisch mit einem Grenzbeamten. Da fiel ihr ein, dass sie ihren Rucksack vor dem Beifahrersitz hatte stehen lassen. Hoffentlich schöpfte der Grenzbeamte keinen Verdacht, falls er ihn sah. Jette betete. Der Fahrer musste aussteigen, seine Papiere vorzeigen und die LKW-Türen hinten öffnen. Nach einer Prüfung stieg der Fahrer wieder ein und sie fuhren weiter.
„Jak tam“, sagte der Fahrer und Jette bemühte sich wieder auf den Beifahrersitz.
Kurz vor Barcelona hielt der Fahrer an und sagte: „Przerwa!“.
Es war bereits dunkel.
Jette dachte an ihre Mutter. Jetzt war bereits alles aufgeflogen, aber niemand konnte sie noch daran hindern, nach Valencia zu kommen.
Der Fahrer holte eine Tüte an seiner Fahrerseite hervor und legte sie auf seinen Schoß. Er nahm eine Banane aus der Tüte und schälte sie bis zur Hälfte. Dann hielt er die Banane Jette vor den Mund und sagte: „Czy chciatabys?“.
Jette hatte seit etwa über einen Tag nichts mehr gegessen und war hungrig. Sie biss ein großes Stück von der Banane ab und bemerkte dabei seine breiten Finger mit den schmutzigen Fingernägeln. Der Fahrer freute sich und aß den Rest der Banane.
Dann nahm er eine Flasche Wodka aus der Tüte und sagte: „Flaschki wodki?“. Er lächelte und reichte sie ihr hin. Jette schüttelte, unangenehm berührt, den Kopf.
Der Fahrer trank aus der Flasche und in seine Kehle strömte der Wodka. Er gab einen wohligen Laut von sich. Dann drehte er sich zu Jette hin und züngelte ihr mit seinem Mund entgegen, dabei deutete er mit dem Kopf zur Schlafkoje. Jette war sofort hellwach. Sie sehnte sich nach ihrer Beweglichkeit und der Macht der Maske. Sie zog sie blitzschnell aus dem Rucksack und setzte sie auf.
Der Fahrer sagte überrascht: „Co to jest?“
„Töte ihn!“, hörte sie die Maske sagen.
Ist das nicht übertrieben, sagte sie in Gedanken zur Maske.
„Er wird dich nicht rauslassen und er will dich vergewaltigen.“
Obwohl Jette nur verschwommene Vorstellungen von einer Vergewaltigung hatte, bekam sie Angst.
Sie fühlte den Sadismus der Maske auf sich überspringen.
Sie zwang den Fahrer, durch ihre telekinetische Kraft, den rechten Arm zu beugen und mit der Hand seinen Kehlkopf zu umfassen. Tief gruben sich die Finger ins Fleisch. Der Fahrer rief: „Pomoc!“.
Und dann riss er sich den Kehlkopf heraus. Blut spritzte auf die Maske und ihre Hose. Der Kopf des Fahrers wackelte vor und zurück und er ersoff in seinem eigenen Blut. Dabei röchelte er furchtbar.
Jettes Miene zeigte ein Raubtiergrinsen unter der Maske. Sie wartete ab, bis der Körper des Fahrers leblos zusammensackte. Dann suchte sie mit zwei Fingern in seiner blutbesudelten Hosentasche nach seinem Portemonnaie.
Sie öffnete den Gurt, nahm ihren Rucksack und hastete aus der Fahrerkabine.

XI. Timo

Als Jette vor der Wohnungstür im neunten Stock eines Wohnblocks in Valencia stand, öffnete ein Mann. Jette hatte aus dem Portemonnaie des Fahrers 200 Euro genommen und war die Strecke von Barcelona nach Valencia mit dem Zug gefahren und mit einem Taxi vom Hauptbahnhof in Valencia zu Timos Adresse. Sie war erschöpft, zupfte jedoch an ihrer Strickjacke. Es war jetzt mittags. Die warme Luft lag faul auf Jettes Haut. Sie hatte fast zwei Tage bis hierher gebraucht.
Sie sagte zu dem Mann: „Timo?“.
Der Mann hatte ein pockennarbiges Gesicht und große Hände.
„Ja“, sagte er.
„Ich bins, Jette!“
Timo sah sie verwirrt an.
„Mensch… Jette, … kann es sein… was machst du hier?“
„Ich wollte dich kennen lernen.“
Instinktiv machte Timo die Tür zu, öffnete sie dann aber wieder und Jette trat in die Wohnung.
„Weiß Beate Bescheid?“, sagte Timo.
„Nein, ich bin ausgerissen. Kannst Du sie anrufen, ich geb dir die Nummer?“
Froh über diese Unterbrechung sagte Timo: „Ich ruf sie gleich über Handy an, hab kein Festnetz.“ Timo sprach darauf mit Beate. Die war außer sich und wollte Jette am Hörer haben, die winkte aber nur ab.
„Wie viele Tage willst du hierbleiben? “, sagte Timo zu Jette gerichtet, während er das Handy noch am Ohr hielt.
„Eins, zwei Tage. In spätestens vier Tagen bin ich wieder zurück.“
Nachdem Anruf erzählte Jette Timo alles, was es aus ihrem Leben zu berichten gab, außer natürlich von der Maske und den zwei Morden. Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Dabei sah sie immer ihren Vater an. Der berichtete ihr von dem Leben in Spanien. Von seinem Geschäft, dass er heute frei hatte und dass er mit Maite, seiner spanischen Freundin, zusammen war. Die war mit ihrem gemeinsamen eineinhalbjährigen Sohn Carlos in Cadiz bei ihren Eltern zu Besuch. Timo zeigte Jette Fotos von Maite und Carlos. Auch von den schweren Tagen seiner Haft erzählte er und warum er aus Deutschland fort gegangen war.
„Warum hast du dich nie bei mir gemeldet?“, sagte Jette.
„Nach der Trennung von deiner Mutter, wollte sie es nicht, dass ich Kontakt zu dir aufnehme“, sagte Timo.
„Hast du keinen eigenen Willen? Eine Karte zum Geburtstag wär schon was gewesen. Weißt du noch, wann ich Geburtstag habe?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
Jette sah ihn traurig an.
„Ich kenn deinen auch nicht.“
Timo fragte Jette, ob sie Hunger hätte. Jette bejahte und sie gingen in ein kleines Restaurant in der Nähe des Wohnblocks.
Sie aßen eine Paella zusammen. Während des Essens besprachen sie sich weiter.
„Wieso hast du mich eigentlich so schlimm geschüttelt?“, sagte Jette.
„… es war nachts und du hast so fürchterlich geschrien… ich wollte, dass das endlich aufhört. Ich war allein. Ich war überfordert…Es tut mir leid.“
Er war angeekelt von der Situation, in die Jette ihn brachte.
„Dadurch bin ich zum halben Monster geworden. Ich hab viel durchgemacht wegen dir“, sagte sie.
„Ich auch wegen dir!“, sagte Timo und aß schweigend weiter.
Nach dem Essen trank Timo noch einen Kaffee und Jette eine Cola.
„Ich hab nie aufgehört deine Mutter zu lieben. Wie geht es ihr?“, sagte Timo.
„Sie ist eine gebrochene Frau“, erwiderte Jette. Jette legte ihre linke Hand auf die rechte Hand Timos. Es sind dies die Hände, die mich zu dem gemacht haben, was ich jetzt bin, dachte sie und empfand Zärtlichkeit für diesen pockennarbigen Mann, der ihr Schicksal war. Timo hatte seinen ganz eigenen Charme.
„Hast du meine Briefe bekommen?“, sagte sie.
„Ich hab sie nicht gelesen“, sagte Timo.
Jette blickte Timo verloren an.
„Ich wollte immer einen Vater und Freund haben, aber du warst nicht da.“
Sie trank gierig die Cola aus.
„Ich hab viel in den Büchern geschmökert, die du uns zurück gelassen hast. Ich habe einige Gedichte geschrieben. Das letzte auf der Fahrt hierher. Willst du sie lesen?“
„Woher hast du eigentlich die Blutflecke?“
Als es Abend war, saß Timo in kurzen Hosen vor dem Fernseher. Jette hatte sich schlafbereit gemacht und ging früh im Gästezimmer zu Bett. Timo hatte Jette kurz vor dem zu Bett gehen einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Er grübelte beim Fernsehgucken über den Tag nach. Er hatte gemischte Gefühle. Einerseits störte ihn Jettes Besuch, er hatte alles noch einmal aufgewirbelt, andererseits war er froh, sie endlich mal wieder gesehen zu haben. Und sie war so begabt, dachte er stolz. Er dachte auch an Beate. Jette hatte ihm erzählt, dass sie grau geworden und gelegentlich depressiv war. Er hatte mit seiner Tat seine kleine Familie zerstört und fast sein eigenes Leben dazu. Jetzt hatte er eine neue Familie. Er erinnerte sich, wie ihn zwei Mitgefangene in der Haft zusammengeschlagen hatten, als bekannt wurde, weswegen er im Gefängnis saß. Zwei Zähne hatte er dabei verloren. Er hasste seine Zeit in Deutschland und er hasste auch Jette und Beate etwas. Morgen würde er Jette Geld geben und sie wegschicken. Es war ihm einfach alles zuviel. Er legte schon mal das Geld für einen Flug auf den Wohnzimmertisch, er hatte ja immer eine volle Brieftasche. Vielleicht noch mehr, damit sie sich neue Bücher kaufen konnte und etwas andres zum Anziehen als diese Bärchen-Strickjacke, dachte er sich.
Jette war sofort eingeschlafen, auch ohne das beruhigende Ticken des Metronoms.
Im Traum sah sie den Wald und die Maske, wie sie sie dort gefunden hatte. Es war so, als spräche die Maske im Traum zu ihr. Sie sah die Gesichter von Sandra und dem LKW-Fahrer. Sie verspürte keine Reue im Traum. Schließlich Timos Gesicht. Darauf hörte sie Carlos schreien. Timo ging ins Kinderzimmer und sagte: „Willst du wohl aufhören zu schreien, du kleines Balg.“ Timo nahm den kleinen Körper aus dem Kinderbettchen in seine Hände und er schüttelte Carlos, als wäre er von Besinnung. Carlos schrie noch lauter und das machte Timo nur noch wütender. Plötzlich war Jette es, die Carlos schüttelte und er wurde bewusstlos in ihren Händen. Verschwitzt, erwachte sie. Sie stand auf, zog sich an und setzte die Maske auf.
„Du musst Carlos schützen. Nicht dass ein zweites Leben durch deinen Vater zerstört wird.“
Sie ging ins Wohnzimmer. Timo schlief.
Der Fernseher lief noch. Ein spanisches Lied wurde gesungen. Sie sah das Geld auf dem Tisch liegen. Es roch nach Schnaps.
Er will mich also loswerden, dachte sie. Sie hob Timo an und schleuderte ihn gegen die große Fensterscheibe, die bis zum Boden reichte. Die Scheibe splitterte, zerbrach jedoch nicht. Timo wachte auf und rief: „Nein!“ Jette warf ihn noch einmal gegen das Fenster. Es zerbrach und Timo stürzte, die Stockwerke hinab, auf die Straße.
Sie setzte die Maske ab, nahm das Geld und verließ eiligst die Wohnung. Auf der Straße hatten sich schon Passanten um den Gestürzten versammelt. Ich werde die Maske nicht mehr aufziehen, komme, was wolle, sagte sich Jette, als sie die Straße entlang ins Dunkle hinkte, denn die Maske wollte töten.

XII. Abschiedstränen der Maske

An einem Spätsommertag, es schien die Sonne, war Jette wieder im Wald. Die Haare waren nun dauerhaft kurz. Sie trug ein weißes Kleid, das bis zu den Knien reichte. Mit ihrer Mutter hatte sie sich inzwischen wieder vertragen. Timos Selbstmord hatte Beate sehr erschüttert.
Die Maske auf dem Gesicht grub Jette, abseits vom Weg auf einer Lichtung, auf den Unterschenkeln hockend, mit beiden Händen, ein Loch in den Boden.
„Warum willst du dich von mir trennen, habe ich dir nicht gute Dienste geleistet und dir die Macht über Leben und Tod verliehen?“
Das ist es ja, was ich nicht mehr will, sagte sie der Maske in ihren Gedanken.
Als es tief genug war, nahm sie die eiserne Maske ab und legte sie in das Loch.
„Nicht!“, war ihr letzter, verzweifelter telepathischer Ausruf.
Die Maske brauchte sie nicht mehr. Sie wusste jetzt, wie Aggressionen sich anfühlten. Sie hatte eine harte Lektion gelernt. Man konnte der Grausamkeit nur durch Grausamkeit begegnen.
Die Aufhebung ihrer Behinderungen durch das Tragen der Maske würde sie vermissen, jedoch war das nur ein Leben aus zweiter, manipulierender Hand gewesen, in Wirklichkeit musste sie ihre Behinderungen akzeptieren, ohne auf Hilfsmittel und deren Konsequenzen zurück zu greifen.
Aus ihrem Rucksack entnahm sie ihre Barbie-Puppe und tat sie zu der Maske.
Nach der Barbie-Puppen-Schönheit strebte sie nicht mehr.
Ich bin eben nicht makellos, aber ja, ich habe tatsächlich ein Gesicht von eigenwilliger Schönheit – mein Kieselsteingesicht, dachte sie. Wie treffend das Wort eigenwillig war. Ihr Mund zeigte ein Lächeln. Sie war schon sehr erwachsen, fand sie.
Sie berührte noch einmal die glatte Oberfläche der Maske. Welche Geschichte hatte sie wohl? Wer waren ihre früheren Träger gewesen und welches Schicksal hatten sie? Alles Fragen, auf die ich nie Antworten bekommen werde, überlegte sie sich. Sie schüttete das Loch mit der Hand zu und stand auf.
Plötzlich schoss aus dem Waldboden, an der Stelle, an der sie gerade die Maske und Ophelia vergraben hatte, eine Blutfontäne hoch empor.
Sie legte den Kopf in den Nacken und schrie befreit in den Blutregen, der ihr Kleid rot musterte und nach ein paar Sekunden versiegte.
Sie war zu einer Leopardin geworden, ob sie es nun gewollt hatte oder nicht. Ihrer Mutter würde sie sagen, dass sie bei der Schlachtung eines Schweins dabei gewesen war. Sie grinste. Am Abend schrieb sie ein Gedicht und dachte dabei an ihren Vater, das vergangene Jahr und die Maske:

Morgengrauen

Du hast mich geküsst und
doch auch ganz allein gelassen.
Eine berührte Haut war mein Zuhause
in den Nächten unserer Verlogenheit.

Du erzähltest Geschichten,
die absonderlich waren:
Von verlassenen Türmen und
schwimmenden Toten.
Geschichten,
die vernunftwidrig waren.

Ein Betrogener sieht das Bild hinter dem Bild.
Seine Freundin zweifelt.
Er liest Heine ununterbrochen in einem fort…

Zwei überraschte Clowns an der Tür,
in der Begegnungshitze geschminkt,
hämmern gefährlich sie dagegen.

Noch bin ich gefangen,
doch dieser heran brechende Morgen wird
das Irrfeuer der Nacht begraben.


ENDE

 

Hallo PeterMa

Gleich zu Beginn: Ich werde hier mal nicht so detailliert auf die Geschichte eingehen, wie es im letzten Kommentar gemacht wurde. Deine Geschichte ist sehr lang und dabei jede Kleinigkeit anzumerken würde jetzt zu viel Zeit in Anspruch nehmen.

Ich finde die Story nicht soooo gut. Für Jette läuft irgendwie alles zu glatt. Sie findet die Maske und tötet konfliktlos einfach alle, die sie nerven. Das finde ich etwas unglaubwürdig für so ein junges Mädchen. Sie macht einen Roadtrip bis nach Valencia und hat auch keinerlei Probleme auf dem Weg (die angenommene Vergewaltigung war ihr ja auch nicht wirklich ein Stein im Weg). Der Vater sieht sie nach langer Zeit mal wieder und sie wird gleich mit (semi-)offenen Armen empfangen und bekommt sogar noch Geld von ihm ... Das ist alles viel zu einfach.

Der Stil der Geschichte ist meiner Meinung nach auch ganz gut, die verschiedenen Kapitel und die Gedichte zwischendrin ... man merkt, dass du dir wirklich Mühe gegeben hast. Natürlich wirkt es sprachlich noch sehr holprig, aber ich glaube, dass das mit etwas Übung von alleine verschwindet.

Was mir sehr gut gefallen hat ist Jette an sich. Da hast du dir eine sehr gute Protagonistin zusammengebaut, die Behinderungen, die ihr Vater ihr angetan hat, wie sie mit dem Mobbing zu Beginn der Geschichte umgeht und dass sie gerne so schön wäre wie eine Barbie-Puppe. Vielleicht ein wenig zu klischeehaft (dass sie dazu noch Gedichte schreibt und so arm ist), aber das ist eigentlich gerade an der Grenze.
Ich hätte mich gefreut, wenn ein Charakter wie Jette in einer Geschichte vorgekommen wäre, deren Story (für meinen Geschmack) etwas interessanter gewesen wäre.

Ansonsten bleibt zu sagen: Weitermachen :thumbsup:

lg, zash

 

Hallo Maria,

vielen Dank für Deine Kritik. Hab einiges aufgenommen und werde die Bahnfahrt noch etwas spannender gestalten in der nächsten Woche. Das telepathische Sprechen der Maske werde ich beibehalten, mir gefällt es... Hab zur Zeit noch einige Geschichten geschrieben, will jedoch nicht alles mit meinen Geschichten zumüllen. Daher musst Du auf die nächste Geschichte von mir noch etwas warten. Sie heißt "Hexenherzen"!

VG
PeterMa

 

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