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Das Mädchen mit dem Goldfisch und ich
Sie war das Mädchen mit dem Goldfisch. Ich wusste nichts von dem Fisch, als ich sie kennenlernte. Sie hat ihn nie erwähnt. Als ich bei ihr einzog, sah ich ihn. Er wohnte in einem runden Glas. Das Glas stand auf dem Tisch, außer dem Tisch gab es noch zwei Stühle und ein Bett, sonst war da nichts. Unter dem Tisch lagen die Kleider, sie nähte sie selbst, das konnte sie gut. Sonst ist da nichts, fragte ich.
Das Bad ist draußen im Hausflur, sagte sie.
Toll, sagte ich.
Der Tag war ein Mittwoch. Der Tag, an dem sie aufhörte zu sprechen. Sie sagte einfach nichts mehr. Wir hatten noch miteinander geredet am Tag zuvor. Was genau wir geredet hatten oder was sie zuletzt gesagt hatte, wusste ich nicht mehr. Das war ganz natürlich. Trotzdem war es mir ein wenig peinlich.
Den ganzen Morgen über hatte sie geschwiegen. Als ich sie anbrüllte und ihr drohte, zeigte sie keine Reaktion. Die Drohung war sowieso nicht ernst gemeint, das wusste sie so gut wie ich.
Ich kochte für sie. Nudeln, was anderes kann ich nicht. Ich tue das nicht oft, vielleicht hatte ich sie wirklich nicht gut hinbekommen.
Sie hatte keinen Appetit, sie stützte den Kopf auf ihre linke Hand, mit der rechten stocherte sie in den Nudeln herum, als suchte sie darin nach etwas bestimmtem.
Sie schwieg. Ich schwieg. Ich beobachtete sie. Sie beobachtete die Nudeln.
Ich war gar nicht da für sie. Ich führte mein Glas zum Mund und ließ sie dabei nicht aus den Augen.
Als sie meinen Blick bemerkte, blickte sie von ihrem Teller auf. Sie sah mich an, sie lächelte. Ich hörte auf zu kauen, ich stellte das Glas zurück auf den Tisch. Scheinbar erwartete sie, dass ich nun irgendetwas sagen würde. Aber da gab es nichts, was ich hätte sagen können, mir fiel nichts ein. Ich räusperte mich, wusste nicht, wohin mit den Nudeln in meinem Mund. Mir war jämmerlich zumute.
Ruckartig führte sie ihre Hand an die Schläfe und machte eine Bewegung, als wolle sie sich eine Strähne hinters Ohr streichen. Ihre Hand fasste ins Leere, es gab keine Haare, die sie hätte hinters Ohr streichen können. Schon vor einiger Zeit hatte sie sich die Haare kurz geschnitten, vorm Spiegel. Ich hatte ihr geholfen. Der ganze Boden war damals voll gewesen mit ihren abgeschnittenen Locken. Wir sammelten sie in einem großen Sack und kippten ihn zum Fenster hinaus; unten regnete es Haare. Es war schön.
Wir hätten sie verkaufen sollen, sagte ich später.
Ich bemühte mich zu lächeln. Ich streckte meine Hand über den Tisch und berührte ihre Wange. Sie fühlte sich warm und klein an. Sie zuckte zusammen, ganz leicht nur, fast unmerklich; trotzdem habe ich es gesehen. Und auch sie wusste, dass ich es gesehen hatte. Das erzählten mir ihre Augen.
Als hätte ich sie geweckt. Sie senkte den Blick, entzog ihren Augen das Wort.
Wir starrten beide auf das Goldfischglas. Es stand in der Mitte des Tisches wie das Zentrum unserer kleinen Welt. Wir drehten uns darum und kamen einander nicht näher, beim besten Willen nicht.
Ich beschloss ihr einen zweiten Goldfisch zu kaufen. Ich würde sagen: Damit er nicht so allein ist, dein Fisch.
Im Zoogeschäft ging es eng zu. Der Verkäufer war nett. Trotzdem hatte ich das Gefühl, von ihm über den Tisch gezogen zu werden. Er gab mir einen weißen Fisch mit roten Punkten. Er sagte, ich solle ihn bei den Sonnenuntergängen ans Fenster stellen; bis er die gewünschte Farbe habe. Ich war nicht vollends überzeugt.
Er sagte, das sei wie bei den Chamäleons, eine Art Tarnung.
Ich tippte mir an die Stirn. Blödsinn, sagte ich, wozu sollte er sich denn tarnen. Er hat doch gar keine Feinde.
Der Verkäufer machte eine unbestimmte Handbewegung. Vielleicht sind die auch getarnt, sagte er, so gut, dass man sie nicht sieht.
Er nahm eine durchsichtige Plastiktüte, füllte sie mit Wasser und packte den Goldfisch hinein. Er hielt mir die Tüte hin. Ich betrachtete den Fisch immer noch mit Misstrauen. Kostet das Wasser extra, fragte ich barsch. Er schüttelte den Kopf, seine Augen waren traurig.
Sie saß im Schneidersitz auf dem Bett und guckte in das große O, das zwischen ihren Beinen entstanden war. Ich ging zu ihr hin und hielt ihr den Fisch unter die Nase. Ich sah ihr Gesicht durch die Plastiktüte, es war verzerrt und bewegte sich im Takt der Wellen. Ihr Mund war breit, die Nase zu groß. Hätte sie damals auch so ausgesehen - Ich weiß nicht, ob ich mich in sie verliebt hätte. Sie runzelte die Stirn. Er ist noch nicht fertig, sagte ich entschuldigend.
Es blieb noch reichlich Zeit bis zum Sonnenuntergang. Ich tat den neuen Fisch ins Glas zu ihrem. Ich setzte mich davor und wartete ab, was geschehen würde. Es geschah nichts. Jedenfalls nichts von Bedeutung. Vielleicht hatte ich insgeheim eine Art Begrüßung erwartet, ein Zeichen gegenseitiger Zu- oder Abneigung. Ich versuchte meine Enttäuschung nicht zu zeigen. Vielleicht erwartete ich einfach zu viel. Es waren ja nur Fische. Sie verstanden sich auch so, ohne miteinander zu reden, sie waren das gewohnt, das Nichtreden.
Ich wandte mich um, sie saß noch immer auf dem Bett, ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mich die ganze Zeit über angesehen hatte.
Was ist, fragte ich.
Ihre Augen klappten einfach zu, als wäre ihr Kopf ein Geschäft, das nun geschlossen wurde; über die Nacht, bis morgen, bis irgendwann.
Mein Gott, was ist denn, rief ich, komm doch raus da, aus der Dunkelheit in deinem Kopf, die Welt verschwindet nicht einfach so, zack; wenn du das denkst, bist du dumm, sie ist immer noch da, ich bin immer noch da, hörst du. Mach doch wieder auf. Bitte.
Sie hielt die Augen weiter geschlossen.
Ich sprang auf, gestikulierte, dabei wusste ich genau, dass sie mich nicht sehen konnte. Los komm her, schau sie dir an, deine Fische, sind sie nicht toll, verdammt, lass uns sehen, was sie machen, ob sie sich verstehen, anfreunden, lieben, Kinder kriegen.
Ich war so weit, wollte sie aus dem Bett zerren, wollte sie anschreien, sie wieder sprechend machen. Ich konnte nicht.
Sie sackte vor meinen Augen zusammen, ihre Schultern zitterten, ihr Kopf kippte nach vorne auf die Knie, wie bei einer Puppe. Ich machte einen Schritt auf sie zu, dann noch einen, ganz langsam näherte ich mich dem Bett. Schließlich ließ ich mich neben ihr auf der Bettkante nieder. Die Matratze gab nach und sie begann zu schwanken, ich hielt sie fest und schwankte mit ihr. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Haar und spürte die kurzen Stoppeln auf der Haut. Es piekste. Das Pieksen machte mir nichts aus. Es roch nach Lavendel, dort in ihrem Haar, im Wald auf ihrem Kopf. Lange Zeit saßen wir so, und schwankten vor uns hin. Ihr Atem beruhigte sich.
Ich hauchte die Worte in ihr Ohr: Es war ein blödes Geschenk, ich weiß.
Sie nickte. Sie nahm meine Arme von ihrem Körper und legte sie neben sich auf die Decke, ordentlich nebeneinander, als gehörten sie niemandem.
Du interessierst dich nur noch für die Fische, sagte sie, was ist mit mir, was mit uns.
Was ist mit uns?
Sie sagte, sie bekäme ein Kind. Fragte, ob ich böse sei.
Ich schüttelte den Kopf.
Die Sonne würde bald untergehen. Wir gingen zum Hafen, sie trug das Glas in ihren Armen, unter einer Decke. Die Leute drehten sich um und sahen uns komisch an, die Leute waren uns egal. Sie sprach wieder. Von uns, von den Fischen. Was wäre, wenn sie Flügel hätten, fragte sie.
Das wäre nicht gut, sagte ich, sie würden zu nah an die Sonne fliegen und vertrocknen.
Ich glaube das nicht, sagte sie, ich glaube nicht, dass sie so dumm sind. Niemand ist so dumm.
Sie würden es tun, wegen der Farbe würden sie es tun, weil sie schön sein wollen.
Am Ufer blieben wir stehen. Am Horizont war die Sonne rot. Das Wasser war ölig und trüb, an den Betonwänden klebten Algen. Wir kippten das Glas vorsichtig aus. Einen Moment lang dachten wir, wir hätten die Fische aus den Augen verloren, sie waren einfach weg. Dann tauchten ihre kleinen roten Leiber wieder auf. Sie bewegten sich nicht. Sie trieben an der Oberfläche, wippten hin und her, sie klatschten mit den Wellen an die Hafenwand.
Ich sagte dir doch, die vertragen kein Salzwasser.
Immerhin sind sie gemeinsam gestorben, immerhin.