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Das Mädchen im Park

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07.01.2002
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Das Mädchen im Park

Jeder in der Stadt wußte, daß es gelinde gesagt keine gute Idee war, des Nachts durch den Park zu gehen. Um es dennoch zu wagen, half es, etwa zwei Meter groß zu sein, Schultern von der Breite eines Zuchtbullen zu besitzen und seinen mächtigen Eindruck mit einer Selektion effektiver Waffen zu unterstützen. Vor allem aber, und darin stimmten auch die radikalsten Feministengruppen überein, sollte man ein Mann sein. Besaß man diese Vorraussetzungen, standen die Chancen, unverletzt und mit seinem mitgebrachten Besitz den Park wieder zu verlassen, immer noch nicht gewaltig gut.

Louise war ein an die 1 Meter 60 großes Mädchen, schlank, und hatte noch nicht mal eine Handtasche bei sich. An diesem Abend trug sie eine weiße Bluse, an der der oberste Knopf offen gelassen war, einen dunkelroten Rock, der knapp bis oberhalb der Knie reichte, schwarze Nylonstrümpfe und halbhohe Stiefel in der gleichen Farbe ihrer Jacke. Ihr schulterlanges rotbraunes Haar hatte sie sich mit Wasserstoff blondiert und ihr Gesicht war dezent wie gekonnt geschminkt. So stand sie vor dem Eingang des Parks praktisch als Lehrbeispiel dafür, wie man an den Park in der Nacht am besten nicht einmal denken sollte. Genaugenommen tat Louise das auch nicht, sie dachte an einen Platz jenseits des Parks, ihren Wohnort abseits des Stadtkerns, und an die Tatsache, daß ein Umweg sie eine gute dreiviertel Stunde gekostet hätte. Wie gerne hätte sie in diesem Moment schon gerne friedlich zu Hause geschlafen, denn so sehr sie die Nacht auch genossen hatte, so müde war sie inzwischen geworden. Sie war in einem Club Downtown gewesen, an dem an jenem Abend, im wahrsten Sinn des Wortes, die Hölle los gewesen war. Seit beachtlicher Zeit hatte Louise kein Lokal mehr gesehen gehabt, das mit einer solch enormen Anzahl Menschen gefüllt gewesen war, die trotz der nicht vorhandenen Ellbogenfreiheit so ausgelassen, nicht wenige zweifellos unter Drogeneinfluß, gefeiert hatten. Worauf sie allerdings am meisten stolz war, war die Tatsache, daß ihr der Türsteher ohne Frage nach ihrem Ausweis den Weg in den Club freigegeben hatte. Sie hatte es also geschafft, so auszusehen, daß man ihr nur durch ihren Anblick ein Alter von eindeutig über 18 abnahm. Dem Türsteher gegenüber hatte sie sich ein verdächtiges Lächeln verkniffen, das sie womöglich verraten hätte, als er zur Seite getreten war, um Ihr den Eintritt zu ermöglichen.

´Sich gekonnt herzurichten´, hatte sie sich gedacht ´ist schon der halbe Weg zum Ziel´.

Im Augenblick bedeutete ihr Outfit für ein angenommenes Ziel, unbemerkt in der Dunkelheit durch den Park zu kommen, eine erhebliche Anzahl mächtiger Schritte rückwärts.
Doch Louise hatte keinerlei Angst. Für ein solches Gefühl war sie vielleicht auch schon zu erschöpft zu dieser Zeit, ihre Gedanken waren schon bei einem erholsamen Schlaf und der nicht zu akzeptierenden Strapaze eines zu langen Umweges nach einer erfolgreichen und ermüdenden Nacht. Und so betrat das Mädchen den Park in einem Aufzug, von dem es schon überrascht hätte, wenn sie in ihm die doch recht lange Wegstrecke vom Stadtzentrum zum Parkrand, für die sie kein Geld für ein Taxi gehabt hatte, zurückgelegt hätte, ohne sich einen Verfolger einzufangen.

Zu diesem Zeitpunk war dieser Verfolger keine hundert Meter von ihr entfernt. Im Gegensatz zu dem in der Nacht so gut wie leuchtenden Mädchen, dem er auf den Fersen war, war die Erscheinung des Mannes der Dunkelheit angemessener. Von seinen Schultern hing ein halblanger Stoffmantel, ebenso nachtschwarz wie Kapuzenpullover, Hose und Stiefel, die er trug. Für Farben schien jene Gestalt gar nichts übrig zu haben, waren doch auch seine Haare schwarz gefärbt und überließen es allein einigen kurzen Bartstoppeln, das natürliche Dunkelblond zu verraten. Selbst das satte Blau seiner Augen, eine Farbe, für die so manch anderer einiges gegeben hätte, waren hinter dunkelbraunen Kontaktlinsen verborgen. Ob er mit diesem Detail nicht schon etwas über sein Ziel hinausschoß, war dem Mann selbst nicht klar, doch es war ihm ein wichtiges Anliegen, in der Dunkelheit nicht gesehen zu werden, wenn er selbst das nicht wollte. Er hatte sich nicht erst einmal gewünscht, als Farbiger auf die Welt gekommen zu sein. Doch das war nicht der Fall, und so mußte er darauf achten, so wenig Haut wie nur möglich entblößt zu lassen. So verließ er sich, was sein Gesicht anging, auf die Haare, die lang genug waren um einen guten Teil davon zu verdecken, die über das Haupt gezogene Kapuze, und, was seine Hände betraf, auf ein paar dünne Lederhandschuhe. Obwohl er Leder ungern trug, empfand er es an seinen Händen als unverzichtbar, da er auf den Tastsinn seiner Finger, den ihm Wolle oder dickeres Material zu sehr genommen hätten, nicht verzichten wollte. Die dünne Tierhaut war ein annehmbarer Kompromiß seiner Bedürfnisse.

So gekleidet erreichte eineinhalb Minuten, nachdem Louise den Park betreten hatte, die dunkle Figur ebenfalls dessen Eingang und begann sich nach der von ihr Verfolgten umzusehen.
Im Geiste verfluchte sich der Mann dafür, sie einen Moment aus den Augen gelassen zu haben und konnte trotz versuchter Konzentration das Gefühl der Nervosität nicht ganz unterdrücken. Wo war das Mädchen? Hatte es ihn am Ende bemerkt und sich vor ihm versteckt oder hatte zu laufen begonnen, als er es nicht sah? Unwahrscheinlich, er war vorsichtig gewesen. Er kniff die Augen zusammen, in denen die Linsen in dieser Nacht unüblich intensiv brannten und fixierte die Dunkelheit des Parks. Dort hinten, gerade noch wahrnehmbar, glaubte er einen hellen Schimmer wahrzunehmen. War sie es, war sie wirklich allein in den Park gegangen, nach dieser langen Nacht? Ihm blieb nicht viel Zeit zu überlegen. Falls sie es war, so war sie schnell und er durfte keine Zeit verlieren, ihr zu folgen, und falls er sich irrte und sie sich statt dessen wirklich versteckt hatte, so war sie für ihn ohnehin schon so gut wie verloren. Schweren Herzens betrat er den Park und hielt die Richtung ein, in der er das Mädchen vermutete. Er schritt in seinem schnellsten Tempo den Weg entlang, so vorsichtig wie möglich ohne zu laufen, denn in diesem Fall hätte das Geräusch seiner Schritte ihn zu leicht verraten können. Ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen ließ er seinen Blick durch den Park schweifen. Ausgerechnet durch den Park, das gefiel ihm nicht. Hätte das Mädchen doch bloß den Umweg in Kauf genommen, er hätte es in keinen fünf Minuten eingeholt gehabt und die Straßen wären in diesem Teil der Stadt leer genug gewesen, daß er sie unbemerkt hätte überwältigen können. Selbst wenn es jemand gemerkt hätte, wäre es unwahrscheinlich gewesen, daß dieser jemand ein Wort gesagt oder einen Finger gerührt hätte, um einzugreifen. Das Mädchen wäre das seine gewesen. Doch hier im Park war es selbst der schwarzgewandeten Gestalt nicht ganz geheuer, obwohl sie beachtliche 1 Meter 80 groß, nicht wehr- und waffenlos war und den drahtigen und gut trainierten Körper eines Mannes in seinen späten Dreißigern aufzuweisen hatte. Doch der Park war in der Nacht der Unterschlupf nicht weniger, zwar lose aber doch gut genug organisierter, Gruppen von Abschaum, die das Mädchen vor ihm stellen konnten. Der Gedanke gefiel dem Mann in Schwarz gar nicht. Nein, das Mädchen war seines, das hatte er sich in den Kopf gesetzt. So sehr er sich wünschte, es nicht gegen eine Überzahl von Gegnern aufnehmen zu müssen, so sehr war er nicht bereit, das Mädchen ziehen zu lassen.
Der helle Schimmer war vor ihm jetzt deutlicher. Sie war es, keine Frage. Kurz machte ein Gefühl der Erleichterung sich im Geist des Mannes breit. Wenigstens hatte er sich in diesem Punkt nicht geirrt. Daß sich auch seine Befürchtungen bewahrheiteten, merkte er nur einiger wenige Sekunden später, als er die drei Schatten am Rand seines Gesichtsfeldes wahrnahm, die sich rechts aus der Dunkelheit des Parks auf die helle Gestalt des Mädchens zubewegten. Schneller als die Erleichterung gekommen war, war sie wieder verschwunden. Warum konnte er in solchen Sachen nicht wenigstens ab und zu Unrecht haben?

Eben noch hatte sich Louise bei dem Gedanken, durch die Wahl der Abkürzung gut dreißig Minuten Zeit gewonnen zu haben, die sie zu Hause verbringen konnte, in ihrer Entscheidung bestätigt gefühlt, als sie ihre Verfolger wahrnahm. Das zweite mal seit Verlassen des Clubs blieb sie stehen und sah sich um. Es schien eine ganz natürliche Reaktion zu sein, für jemanden, der sich eben noch allein geglaubt hatte und plötzlich feststellen mußte, daß er sich getäuscht hatte. Doch den Augenblick, an dem sie da stand und in die Dunkelheit starrte, ärgerte sie sich über sich selbst. Sie konnte drei Menschen ausmachen, die noch ein gutes Stück von ihr entfernt waren, sich aber, das konnte sie deutlich erkennen, in ihre Richtung bewegten. Sie begann sich wieder in Bewegung zu setzten. Wäre sie bloß nie stehengeblieben! Sie hatte bisher eine recht beachtliche Geschwindigkeit vorgelegt und hatte, sobald sie den Eindruck bekam, nicht alleine zu sein, nichts besseres zu tun, als dumm die Zeit, die sie zur Durchquerung des Parks benötigte noch mehr in die Länge zu ziehen. Ärgerlich! Gab es außerdem eine bessere Methode, seine Verfolger wissen zu lassen, daß man sie bemerkt hat, als innezuhalten und gedankenlos in deren Richtung zu stieren?

´Naives Mädchen, dummer Fehler!´

Sie versuchte diese Gedanken zu unterdrücken. Was hätte es ihr schon gebracht, einfach weiterzugehen? Wollte sie davonlaufen oder sich verstecken? Lachhaft ? sie war gerade im Zentrum des Parks, strahlte in der Dunkelheit vermutlich heller als der abnehmende Mond über ihr und die Gruppe, die sich auf sie zubewegte, umfaßte drei Leute. Während sie weiter zügig auf dem Ausgang des Parks zuging, suchte Louise krampfhaft nach alternativen Auswegen aus ihrer Lage. Ihre Gedanken waren trotz der Erschöpfung erstaunlich klar, ihre Müdigkeit war auf Grund der bedrohlichen Situation gewichen. Drei Verfolger ? warum mußte sie auch gleich eine Gruppe auf sich ziehen? Wie als Antwort wehte eine leichte Windböe einige ihrer fast weißen Haare in ihr Blickfeld. Louise konnte dieser Ironie gerade nichts komisches abgewinnen. Sie sah sich im Gehen um und suchte nach etwas, was ihr möglicherweise eine Hilfe sein könnte. In ihrem Blickfeld entdeckte sie allerdings wenig Außergewöhnliches. Der Park war riesig, durchzogen von einigen Fußwegen, auf denen Schotter gestreut war und drei oder vier breiteren, asphaltierten Wegen, die befahrbar waren, aber im Augenblick ohnehin zu weit entfernt, um sie rechtzeitig erreichen zu können. Was hätte das außerdem schon geholfen? Abseits der Wege war der Park reich mit allerlei Laub- und Nadelbäumen bewachsen, zwischen denen dichte Sträucher standen, in denen sich zu verstecken in ihrer auffälligen Kleidung wohl auch nicht viel Sinn machte. Die Gruppe würde nicht allzu lange nach ihr suchen müssen. Ihre Gedanken wurden jäh dadurch unterbrochen, daß Louise mit einem mal deutlich die Schritte ihrer Verfolger hinter sich hören konnte. Sie mußte es sich eingestehen ? es gab keine Alternative, sie mußte die Beine in die Hand nehmen und rennen so schnell sie nur konnte, und sie hätte das am besten gleich getan, an Stelle des langen Überlegens. Ihre Chancen auf ein Entkommen mögen mit drei Verfolgern im Rücken, die wohl nicht halb so erschöpft waren wie sie, schlecht stehen, waren aber noch allemal besser als jene, die sie sich durch jede andere Reaktion eingebracht hätte. Und mit dieser Schlußfolgerung im Kopf spurtete sie los. Ihre Verfolger taten es, wie sie deutlich hören konnte, ihr gleich.

Als das Mädchen und die drei Männer, die hinter ihr her waren, zu laufen begannen, war der Mann in schwarz nur mehr etwa fünfzehn Meter vom ihm nächsten Mitglied der Gruppe entfernt. Seine Schritte waren größer als die der anderen, er hatte den schnellen Gang oft genug trainiert und außerdem war das auffällige Mädchen einen Augenblick lang stehen geblieben, in dem es der dunklen Gestalt gelang, den Abstand zwischen ihm und sich selbst nicht unerheblich zu verringern. Daß er es allerdings bis auf wenige Schritte aufgeholt hatte, bevor vor ihm jemand zu rennen begann, was er für unausweichlich gehalten hatte, damit hatte der Mann selbst nicht gerechnet gehabt. Ob sich die Kleine überschätzte?
Nun war es soweit. Er konnte sich wohl kaum beschweren. Sich jemandem, selbst im dunklen Park, bei dieser Geschwindigkeit unbemerkt bis auf jene geringe Entfernung zu nähern, war ohne Frage eine bemerkenswerte, sogar erstaunliche Leistung. Doch die Zeit des Verborgenbleibens war vorüber. Er begann ebenfalls zu sprinten und das erste mal verursachte das Aufsetzen seiner Füße auf dem Schotter ein deutlich hörbares Geräusch. Ob die drei andern Verfolger des Mädchens ihn sofort wahrnahmen, wußte er nicht, doch von ihnen bemerkt zu werden mußte er jetzt sogar provozieren. Er hoffte inständig, nur ein Mitglied der Gruppe würde stehenbleiben, um ihn aufzuhalten. Mit allen auf einmal konnte er es unmöglich aufnehmen, und wenn er floh würde ihm das Mädchen entkommen. Gegen zwei Gegner hätte er sich zwar versucht zur Wehr zu setzten, doch es wäre eine verflucht gefährliche Auseinandersetzung gewesen. Allein, Spekulationen brachten ihn hier nicht weiter. Er stieß einen halblauten Pfiff aus.
Das Geräusch war immer noch laut genug gewesen, daß alle drei der vor ihm laufenden Männer es gleichzeitig hörten, in ihrem Lauf innehielten und sich unisono umdrehten, um nach dessen Urheber zu sehen.
Er hätte eigentlich wissen müssen, daß von allen Möglichkeiten die für ihn ungünstigste eintreten würde. Die schwarz gekleidete Figur blieb abrupt stehen, vermied es dabei gekonnt, auf dem Schotter auszurutschen und sah die Menschen ihm gegenüber an. Es handelte sich um zwei weiße Männer, deren Alter er auf Anfang zwanzig geschätzt hätte und einen dunkelhäutigeren, deutlich jüngeren Burschen, vermutlich einen Latino. Das Mädchen, das fast schon eingeholt gewesen war, vergrößerte ihren Vorsprung rapide, ihr Leuchten war hinter den Gestalten der Verfolger noch immer deutlich zu sehen. Da kein Grund mehr bestand, nur mehr inwendig zu fluchen, stieß der Mann in Schwarz einen deutlichen Zischlaut aus und wich zwei Schritte zurück. Falls alle drei seiner Gegner ihn attackieren würden, selbst wenn sie, wie es seine Hoffnung war, keine Schußwaffen bei sich trugen, blieb ihm nichts anderes übrig als zu fliehen. Doch er wollte das Mädchen! Sein Gesicht wurde kreidebleich vor Wut und Enttäuschung.

Vielleicht war es eben dieses Weichen aller Farbe aus dem Antlitz des Schwarzgewandeten, das die drei jungen Männer als Angst fehlinterpretierten. Möglicherweise war es auch die Gier nach dem Mädchen, die sie zu dem nun folgenden Schritt verleiteten. Was immer es auch war, der erbleichte Verfolger des Mädchens konnte sein Glück im Unglück im ersten Moment gar nicht fassen, als einer der älteren der Gesellen seinen Kumpanen ein spanisches Wort zubellte, in einem Dialekt, den der bleiche Mann in der dunklen Kleidung nicht verstand, und dabei den Kopf in Richtung des flüchtenden Mädchens bewegte. Seine Begleiter sparten sich eine Antwort und innerhalb eines Augenblickes waren sie wieder in vollem Lauf hinter ihrem ursprünglichen Opfer her. Ihr Freund, bereit die seltsame Herausforderung seines noch sonderbareren Gegenübers anzunehmen, setzte ein übertrieben breites Grinsen auf, das wohl, so nahm sein Rivale an, dazu dienen sollte, ihn zu entmutigen und seine Überlegenheit und zu zeigen. Wie haushoch überlegen sich sein Feind wirklich fühlte, war dem dunklen Herausforderer allerdings zu dieser Zeit nicht bewußt, hatte er doch keine Ahnung, daß dieser das einzige Mitglied der Gruppe, das tatsächlich eine kleinkalibrige Pistole eingesteckt hatte, aus dieser Selbstüberschätzung und falschem Stolz heraus, hinter dem kleinen Mädchen hergeschickt hatte.

Louise hatte keine Ahnung, was geschehen war, und diese Tatsache war ihr alles andere als Recht. Sie hatte die Schritte der Verfolger schon fast auf ihrer Höhe gehört und jeden Moment mit dem Unvermeidlichen gerechnet, als sie ein Geräusch wahrgenommen hatte, das sie nicht identifizieren konnte und nach dem alle Geräusche von Schritten außer der Ihren von einer Sekunde auf die nächste verstummten. Dabei hatte sie sich noch vor dem mysteriösen Geräusch eingebildet, gar mehr als die Schritte dreier Personen hinter sich auszumachen. Obwohl sie es wohl hätte beruhigen sollen, war ihr diese Wendung fast unheimlicher als alles zuvor. Sie hörte nicht auf zu rennen, was ihre Beine hergaben, und das war wahrlich keine allzu beeindruckende Geschwindigkeit mehr. In den Sekunden, in denen sie ohne hörbare Schritte hinter sich Richtung Parkausgang lief, wurde der Drang, sich im Laufen umzudrehen, unvorstellbar groß. Was auch immer hinter ihr geschehen war, es mußte etwas außergewöhnliches gewesen sein und es nicht zu wissen und zu verstehen, fraß selbst in dieser Situation an ihrem Verstand. Entgegen aller Vernunft, gab sie ihrer inneren Stimme nach und wendete im Lauf ihren Kopf nach hinten, wobei ihre Schritte ungewollt etwas kürzer und langsamer wurden. Wie als Bestrafung sah sie sofort wieder ihre Verfolger und wurde sich deren ihr weit überlegenen Geschwindigkeit gewahr. Nichtsdestotrotz drehte Louise ihren Kopf nicht sofort wieder in Laufrichtung, sondern kniff die Augen leicht zusammen. Es waren tatsächlich nur mehr zwei Verfolger, da war sie sich sicher und es hatte bisher keine Möglichkeit gegeben, daß sie der Dritte im Bunde überholt und trotzdem noch nicht gestellt hatte. Hatte sie es tatsächlich nur noch mit zwei sie jagenden Menschen zu tun?

Obschon wieder etwas Farbe in das Gesicht des von Louise noch immer unerkannten Mannes zurückgekehrt war und sich die Situation zu seinen Gunsten verändert hatte, so konnte er sich gerade in diesem Augenblick ein Nachlassen der Konzentration nicht leisten. Zum einen stand ihm ein Gegner gegenüber, der ihn um einen halben Kopf überragte und auch den Anspruch der Zuchtbullenschulter erfüllte, zum anderen war er sich bewußt, daß die Zeit nun wie noch nie zuvor eine bedeutende Rolle spielte. Er konnte es sich nicht erlauben, durch die Konfrontation viel Zeit zu verlieren, da er sonst faktisch keine Chance mehr hatte, das Mädchen und die, die es jagten, rechtzeitig einzuholen. Gleichzeitig mußte er warten, bis die Kollegen seines Gegenübers weit genug weg waren, um diesen nicht sofort zu Hilfe zu kommen. Er tat also einen Schritt rückwärts und ließ den jungen Mann mit dem eigenartigen Akzent ein Springmesser ziehen und aufschnappen. Als er sich sicher war, daß dessen Freunde für seine Zwecke weit genug entfernt waren, und der Schläger aus dem Park zum Angriff ansetzen wollte, hob er den ausgestreckten rechten Arm, seine Hand zu einer Faust geballt und auf die Schulter jenes Armes des Angreifers deutend, in dessen Hand sich das Messer befand. Die zweite Hand führte er zum Unterarm der anderen und betätigte einen unter seinem Mantel verborgenen Knopf, dessen Position er nicht lange suchen mußte. Aus dem weiten Ärmel seines Mantels schnellte ein längliches Geschoß aus einer darunter verborgenen Metallschleuder, das der Mann mit dem Messer nicht einmal richtig zu Gesicht bekam, bevor es sich tief in seiner Schulter bohrte und ihn zwang, das Messer fallen zu lassen. Sein Schrei, zu dem er erst nach einer langen Sekunde des Schreckens und des Unglaubens ansetzte, wurde nach einem nur ebensolangen Augenblick wieder erstickt, als ihn ein stumpfer Gegenstand mit voller Wucht am Kinn traf und ihn fest in seine Zunge beißen ließ. Er taumelte eine erstaunliche Anzahl Schritte rückwärts ohne zu fallen, jedoch auch ohne den schrillen Schrei zu hören, der aus Richtung des Parkausgangs zu ihm herüberschallte. Sein Gegner dagegen hatte den Schrei sehr wohl deutlich wahrgenommen, einen Fluch ausgestoßen und war schon wieder zehn Schritte weit entfernt, als der Besiegte sein Bewußtsein verlor und auf den Schotterboden schlug.
Verdammt, er hatte zu lange gebraucht! Sie hatten das Mädchen erreicht, sein Mädchen! Nach schon fünf Schritten hatte der Mann aufgehört zu fluchen wie ein Rohrspatz und alle seine Energie darauf konzentriert zu rennen ? sie durfte nicht fort sein, das war keine Option.

Ein ganzes Stück hinter ihnen, in der Richtung des Weges, auf dem sie gekommen waren, war ein dumpfer Knall zu hören. Louise, die auf dem Boden kauerte, riß ihren Kopf hoch und starrte in die Dunkelheit. Der Junge spanischer Herkunft richtete ebenfalls seinen Blick auf den Weg, den sie entlanggelaufen waren und versuchte eine Weile vergebens, eine Form zu fixieren.

Das Blut war das erste, was er bemerkte, noch vor dem leblosen Körper, der darin lag. Vermutlich war dies so, weil er das letzte Stück des Weges, das er entlanggelaufen war, nur mehr gehofft hatte, eben dieses Blut nicht sehen zu müssen. Die rote Lache zu seinen Füßen gab ihm das bekannte Gefühl zurück, vom Leben verspottet zu werden. Es wirkte gewohnter als der kurze Moment der freudigen Wendung, als der größte der drei Verbrecher seine Kameraden fortgeschickt hatte.
Ohne große Hoffnung, noch ein weiteres Wesen in seiner Nähe zu finden lies der Mann in schwarz seinen Blick durch die Dunkelheit schweifen. Als er die Schemen der Gestalt erkannte, die zusammengekauert am Fuß eines ungewöhnlich großen Baumes einige Meter weiter lehnte, zuckte er aus einem Reflex heraus leicht zusammen, hatte seinen Körper jedoch recht schnell wieder unter Kontrolle. Sein Geist allerdings fing sich nicht so schnell. Irgend etwas sollte ihn an der Situation stören, in der er sich befand, soviel sagte ihm sein Instinkt. Er suchte seine Konzentration und konnte es gleichzeitig nicht ganz vermeiden, sich zu verfluchen.

´Konzentrier' Dich!´

Dann erkannte er alles auf einen Schlag und seine Lage wurde ihm bewußt. Von der Figur am Baum ging keine Gefahr aus. Vermutlich war es ohnehin deren Zittern gewesen, das geholfen hatte, sie, in der Dunkelheit an einen Baum gedrückt, so schnell auszumachen. Die Leiche direkt vor ihm war es, die ihm sofort alles hätte verraten sollen. War er denn so ein blutiger Anfänger? Noch wenige Augenblicke zuvor war ihm der Jugendliche gegenübergestanden, in schwarzer Lederjacke und einem nachtblauen Kopftuch, das seine Haare verborgen hatte, nun lag er vor ihm, mit einem T-Shirt in der kühlen Nacht, seine kurzen dunkelbraunen Haare in seinem eigenen Blut, das sich mit der Erde unter den Kieseln vermischte. Wie verflucht blind konnte man sein?
So schnell es ihm möglich war, riß er mit der linken Hand, in der sich immer noch die Waffe befand, mit der er seinen Gegner niedergeschlagen hatte, seinen Mantel auf und griff mit seiner rechten nach der kleinen Flasche in deren Innentasche. Zweimal rutschte sie ihm durch seine Finger, bevor er sie mehr schlecht als recht zu fassen bekam und sich noch in der selben Bewegung, in der er sie aus der Tasche zog, herumwerfen wollte. In diesem Moment sprang sie ihm mit all ihrem Gewicht in den Rücken, und selbst bei ihrem zarten Körperbau war dies bei weitem genug, um seine Gelenke nachgeben zu lassen.
Er konnte seine Knochen krachen hören, als seine Knie auf den winzigen Steinen aufschlugen und so gezwungen wurden, die Masse seines Oberkörpers abzufangen. Dieser Schmerz war in der Sekunde sogar intensiver als jener, der von seiner Wirbelsäule ausging. Daß er bei alldem noch geistesgegenwärtig genug war, die Flasche über seine Schulter zu heben, war durchaus beeindruckend, daß er sie dort durch den bloßen Druck seiner Hand zerbrach hingegen nicht. Eine Sekunde später war er sich selbst schon nicht mehr sicher, ob er es absichtlich getan hatte oder ob seine Muskeln, durch den Schmerz verkrampft, ihm keine andere Wahl gelassen hatten. Seine Wirkung hatte es auf keinen Fall verfehlt.

Schon das wenige Weihwasser, das sie im Gesicht traf, brannte heiß genug auf Louises Haut, um sie zu zwingen, von ihrem Opfer abzulassen und um ihr Gleichgewicht zu kämpfen, als sie mehrere Schritte rückwärts stolperte. Schließlich fand sie Halt an jenem Busch, hinter dem sie sich versteckt hatte und gab sich einige wenige Sekunden dem Schmerz hin. Dabei riß sie sich das verschwitzte Kopftuch von der Stirn, unter dem sie behelfsmäßig ihre Haare versteckt gehabt hatte, während sie auf der Lauer gelegen hatte, und wischte sich damit über ihr Gesicht, ohne merklichen Erfolg. Sie warf es zu Boden und versuchte sich zu sammeln. Der Mann vor ihr hatte Ahnung, was er tat. Nicht nur, daß sie es im Augenblick schmerzhaft spüren konnte, sie hatte auch nicht den Pflock in seiner Hand übersehen. Kostbare Zeit, auch durch Leiden, zu verlieren konnte sie sich um keinen Preis der Welt leisten, das war sicher auch ihrem Widersacher klar. Sie versuchte, all ihre Energie darauf zu konzentrieren, das Brennen des verhaßten Wassers zu verdrängen. Ihr kam der Gedanke, wie geradezu lachhaft es doch gewesen war, sich darüber Sorgen zu machen, daß ihr eine Gruppe primitiver Freizeitverbrecher ihr sozusagen "aus Versehen" durch Aufschneiden ihrer Kehle ein Ende bereiten könnten, verglichen mit der Bedrohung, die von einem Feind dieser Größenordnung ausging.

Als sie vor ihm stand, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt und dadurch die Augen zugekniffen und die Zähne gefletscht, konnte er ihre Reißer sehen, die im Gegensatz zu ihrem Kinn und ihren Backen schon wieder vom Blut ihres Opfers freigeleckt worden waren. Ihm war sehr wohl bewußt, daß er gerade den besten Augenblick verstreichen ließ, sie zu attackieren, doch weder seine Knie noch sein Rückgrad erlaubten es ihm, schon wieder aufzustehen. Schon sich auf die Seite fallen zu lassen und aus Angst, nicht genug Weihwasser hätte das Mädchen getroffen, um sie von einer schnellen Gegenattacke abzuhalten, ein ganzes Stück nach links zu rollen, hätte ihn beinahe sein Bewußtsein gekostet. Nun konnte er nichts besseres tun, als den Pflock, den er bei sich hatte mit beiden Händen zu umklammern, die Spitze auf sie zu richten und zu warten, entweder auf ihre Attacke oder auf das Zurückkehren seiner Fähigkeit, sich zu erheben. Hätte er bloß nicht den Bolzen an den Schläger verschwendet! Doch es war einfach notwendig gewesen, andernfalls hätte nun wohl auch der Latino nie mehr die Möglichkeit gehabt, vor Angst gelähmt an jenem Baum zu kauern.
Als er nun in Erwartung einer ungewissen Weiterführung des Kampfes mit halb aufgerichtetem Oberkörper auf dem Boden lag, kamen ihm die Zähne des Mädchens ungewöhnlich fremd vor. In der Zeit, in der er ihre Art nun schon jagte, hatte er die Reißer weiß Gott, oder der Teufel, schon zu oft gesehen. Doch in diesem Mädchen wirkten sie so falsch. Sie mußte, so schätzte er, höchstens siebzehn gewesen sein, als sie starb. So eine Junge war ihm noch nie begegnet. Welcher zusätzliche Sadismus mußte in einem dieser Monster stecken, um ein so junges Wesen zu einem der seinen zu machen?
Inzwischen hatte sich, wie er es befürchtet hatte, das Mädchen wieder gefangen. Ihre Zähne waren nun leicht geöffnet, was ihre Angriffslust deutlich machte und ihre Augen weit geöffnet. Ihre Augen waren es auch, an denen er sie, trotz ihrer weit aufgerissenen Pupillen und dem rötlichen Leuchten in ihnen, erkannte. Und damit hatte er, bei allen Möglichkeiten, die ihm durch den Kopf gegangen waren, nicht gerechnet.

"Doutraux?"

Louise bedeckte ihre Zähne wieder mit ihren Lippen und führte den Sprung, von dem sie eben noch nur Sekundenbruchteile entfernt gewesen war, nicht aus. Statt dessen runzelte sie unbewußt ihre Stirn. Woher kannte er ihren Nachnamen? Sie hatte ihn seit - sie überlegte - mehr als vier Jahren nicht mehr benutzt, schon gar nicht in dieser Gegend. Neugier, aber auch ein gewisses Unwohlsein teilten sich ihren Geist nun mit ihrer Aggressivität. Sie kniff ihre Augen zusammen, um noch schärfer sehen zu können, und der Mann, der einige Meter entfernt vor ihr angespannt am Boden lag, kam ihr sogar noch entgegen, indem er seine rechte Hand vom Pflock nahm und seine Kapuze zurückschlug. In seine Augen sah sie einen seltsamen Ausdruck, den Louise Doutraux nicht so recht deuten konnte. Nein, sie kannte ihn nicht! Die schwarzen Haare, die tiefbraunen Augen, die dunklen Ringen darunter auf seiner sonst überdurchschnittlich hellen Haut. Allein seine Gesichtszüge wirkten eigenartig vertraut. Sie legte ihren Kopf zur Seite und ertappte sich bei einem eigenartigen Gedanken. Dieses markante Gesicht auf dem kompletten Gegenpart zu diesem Menschen, einem mit gepflegten dunkelblonden Haar, hellblauen Augen und etwas festerer, nicht gar so drahtig trainiertem Körper, könnte sie möglicherweise, so lachhaft diese Vorstellung auch war, entfernt erinnern an...

"Markus?"

Nichts wäre ihm lieber gewesen, als sich getäuscht zu haben. Doch schon bevor sie seinen Namen gesagt hatte, wußte sein Verstand, daß dem nicht so war. Er hatte Louise zu ihren Lebzeiten zu oft gesehen, als daß er daran zweifelte, daß sie es war, die ihm gegenüberstand. Sie war so häufig in seinem Haus zu Gast gewesen, und Sophie bei den Doutraux', daß man die beiden Kinder als Außenstehender leicht für Schwestern hätte halten können.
Sophie! Lange hatte er nun schon während der Jagd nicht mehr an seiner Tochter gedacht, hatte es nach ewigen Zeiten geschafft, die Gedanken so lange zu verdrängen, bis seine jeweilige Aufgabe erledigt war, und nun stand ihre einst beste Freundin, oder besser das, was aus ihr geworden war, in beinahe greifbarer Nähe vor ihm. Zwar sah sie für ihn fast wie eine Karikatur des fünfzehnjährigen Mädchens mit dem langen, meist schmutzigen rotbraunen Haar aus, das er einst so kannte, doch die Gewißheit war da.
Er spürte die Erinnerungen, die seinen Geist überfluten wollten, all die Bilder seiner Tochter, seiner Frau, der jungen Freundin seiner Tochter, die er damals trotz ihrer rotzfrechen Art selbst liebgewonnen hatte. Bilder des frühen Morgens, an dem er vor nun schon sieben Jahren in sein Dorf zurückgekehrt war, nach jener Nacht, von der er sich bis heute wünschte, zu Hause gewesen zu sein, auch wenn dies wohl seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Die Leichen seiner Familie, die Körper von Sophie und Irene, die die Rotte, die die Gemeinde in der Dunkelheit überfallen hatte, am Zaun der Kirche aufgespießt zurückgelassen hatte, um die Menschen zu verspotten. Das Haus der Doutraux', seiner Freunde war bis auf die Grundmauern niedergebrannt gewesen. In ihm hatte man die verkohlten Überreste von etwa sieben Erwachsenen und vier Kindern gefunden. Vermutlich hatte sich eine Kleingruppe in jenem Haus verbarrikadiert und vergebens darauf gehofft, verschont zu werden. Einigen der Skelette waren damals noch die Schädel entfernt worden, niemand wußte ob vor oder nach dem Verbrennen der Körper. Ebenso erging es manch armer Seele in der Kirche. Vermutlich waren die Biester nach einer Zeit nicht mehr durstig gewesen, sondern nur mehr pervers grausam. Nicht wenige Köper waren ganz verschwunden, einer von Markus Lehrenden hatte sie später zynisch "Wegproviant" genannt und dafür einen heftigen Schlag eingefangen. Daß die Horde einem andern Dorfbewohner als dem Priester, der sie verraten hatte, die zweifelhafte Ehre zuteil werden ließ, ihn in deren Ränge aufzunehmen, hatte nie jemand für glaubhaft gehalten. Und ausgerechnet dieses Kind. Es war einfach nicht fair, und in gewisser Weise grausamer als das Massaker, welches im Dorf angerichtet worden war.

All die Verzweiflung und der Haß, die mit seiner Erinnerung über ihn hereinbrechen wollten, ließen Markus Blick wäßrig werden. Standhaft wehrte sich seine über Jahre trainierte Vernunft dagegen, ihn die Kontrolle über sich selbst im Angesicht eines Feindes verlieren zu lassen. Dieser Auseinandersetzung in seinem Inneren führte zu dem bizarren Effekt, daß Markus fast das Gefühl hatte, sich selbst von außen zu beobachten, als sein Körper seine rechte Hand zum Pfahl zurückführte und ihn mehr mit Hilfe seiner Arme als der seiner Beine rückwärts kriechen ließ, um einen Baum zu finden, der ihm beim Aufstehen helfen sollte. Bei alldem fixierte er die Augen des noch immer überrascht und ungläubig blickenden Mädchens, bereit auf ihre Aktionen zu reagieren. Ein unverständliches, gebrochenes Glucksen drang aus seinem Hals, von dem selbst Markus sich nicht voll bewußt war, daß es "Es tut mir leid!" heißen sollte, und daß zweifellos auch Louise nicht verstehen konnte.
Aus dem Zustand dieser eigenartigen Selbstbeobachtung der Mischung aus Verzweiflung und Anspannung holte Markus der Knall wieder in seinen Körper zurück.

Als Louise die Kugel traf, warf sie mehr die Überraschung und der plötzliche neue Schmerz als der Aufprall der Kugel selbst in die Büsche um. Ihr Unglauben war noch immer nicht vollständig gewichen, als sie auf ihrem Rücken in den Ästen lag und in die Sterne blickte. Allerdings war das auch nicht notwendig. Selbst wenn die kleinste Möglichkeit vorhanden war, daß es sich bei diesem Mann um den Vater der Göre handelte, mit der sie sich abgegeben hatte, bevor sie davon befreit worden war, in einem Körper zu stecken, der unaufhörlich vor sich hin verrottete, würde sie es heute nicht mit ihm aufnehmen. Sie war verletzt, ohne Energie, müde und verwirrt, und ihr Widersacher hatte im schlimmsten Falle sieben Jahre lang dafür trainiert, ihre Art zu vernichten. Die weiteren Geräusche um sich hatte Louise, in ihren Gedanken versunken, kaum wahrgenommen. Sie rollte sich herum, zog die ihr viel zu große Lederjacke so gut wie möglich über ihren Kopf, stand auf und bahnte sich mit Mühe einen Weg durch die Büsche, der sie in Richtung Ausgang führte.

Markus Reflexe waren, bedachte man den Zustand, in dem er sich gerade zuvor noch befunden hatte, so schnell, daß man es kaum für möglich gehalten hatte. Der südländische Junge war aus der Starre erwacht, in die er verfallen war, als er das waghalsige Mädchen, von dem er sich eine Menge Spaß versprochen hatte, über seinen Freund gebückt dessen Blut hatte trinken sehen. Während sie und der merkwürdige dunkle Mann, der irgendwie jenen seiner Kumpel besiegt hatte, vor dem so mancher Preisboxer Reißaus genommen hätte, aufeinander konzentriert waren, war er so leise wie möglich zu dem leblosen Körper in der Mitte des Weges gekrochen. Er wußte, daß dieser eine Pistole bei sich haben mußte, die er selbst nicht mehr die Gelegenheit gehabt hatte, zu ziehen. Die Möglichkeit, einfach loszurennen so schnell er es zu Stande brachte, war ihm durch den Kopf gegangen, doch das Risiko, von einem dieser Tiere verfolgt und eingeholt zu werden, war ihm zu groß gewesen. Es war ihm sicherer erschienen, sie zuvor abzuknallen und dann zu rennen.
Die Kleine war wie erwartet umgefallen, doch danach hatte den Gangster sein Glück verlassen. Als er die Waffe, die er seinem Partner aus dem Halfter gezogen hatte, schon fast auf den liegenden Kerl in schwarz gerichtet hatte, hatte ihn der Holzpflock, den dieser geworfen hatte, mit voller Wucht am Schädel getroffen. Daß der sich lösende Schuß den Werfer verfehlt hatte, konnte er noch sehen, bevor es ihm schwarz vor Augen wurde.

Die Sorge, keine Waffe mehr zu haben, hielt nur wenige Augenblicke an, konnte Markus doch das Rascheln der Büsche hören, das sich von ihm entfernte. Ausmachen konnte er Louises Schemen durch seine feuchten Augen nicht mehr. Sehr langsam und unter Schmerzen gelang es ihm, sich an einem Baum hochziehend, auf die Beine zu kommen. Er überlegte kurz, ob es sich lohnte, den Pflock zu holen, der vom Kopf des Pistolenschützen abgeprallt und in den Büschen gelandet war, entschied sich jedoch dagegen. An eine Verfolgung des Mädchens war ohnehin nicht mehr zu denken, konnte er doch noch nicht einmal venünftig stehen ohne die Hilfe des Baumes. Ganz abgesehen davon blutete er an der rechten Hand, in der noch immer kleine Glasscherben steckten. Eines dieser Wesen blutend zu verfolgen wäre sogar in Bestform Wahnsinn gewesen, in der Markus sich doch schon Sorgen um den Geruch von Leder machte.
Er blickte auf den jungen Burschen, dessen Leben er gerettet hatte. Ein Verbrecher, wahrscheinlich Vergewaltiger und Räuber, möglicherweise Schlimmeres. Stolz konnte er auf sich sein! Unter Schmerzen humpelte er zu dem Jungen hinüber, nahm die Pistole an sich und kehrte zum Baum zurück um sich weiter daran abzustützen. Sein Blick wanderte in den Himmel, der in nicht einmal einer Stunde in ein morgendliches Rot getaucht sein würde. Nun schloß Markus die Augen und lehnte sich gegen den Stamm. Die Emotionen und Erinnerungen, die seit dem Schuß darauf gewartet hatten, mit noch größerer Intensität zurückzukehren, ließen ihn jedoch schnell wieder in die Knie gehen. Er hielt sie nicht mehr zurück, wozu auch? Es gab nichts mehr, worauf er sich konzentrieren mußte oder wollte. Er hockte am Fuß des Baumes, in jener Nacht, der schlimmsten seit sieben Jahren, bis er keine Tränen mehr hatte, was erschreckend schnell der Fall war. In vollkommener Stille verharrte sein Körper danach noch bis in die Morgendämmerung dort.

[Beitrag editiert von: Quirliger Quasar am 24.01.2002 um 20:05]

 

Hmmm, recht gut, die Geschichte. Sie war Spannend und es hat mir Spaß gemacht, sie zu lesen. Allerdings war mir schon von Anfang an klar das der schwarz gekleidete Mann der "Gute" ist. Ich denke, du hättest ihn grausamer und bösartiger, voller Hass beschreiben sollen, dann wäre das Ende überraschender geworden. Naja aber das ist meine bescheidene Meinung.

Aber nett, dass es Leute gibt, die einen meiner beiden Favoriten-Schreibstile trifft. Gut gemacht und mehr in der Machart.

 

Hi Pain und besten Dank für die Kritik!

Natürlich freut mich Dein Lob, was Geschichte und Stil betrifft sehr! Was kann sich der Autor mehr wünschen, als den Leser zu unterhalten und zu fesseln (bis auf ein maßlos überhöhtes Einkommen durch seine Werke, aber sehen wir davon mal ab... :D )?

Es ist natürlich schade, daß Du die Natur des "schwarzen Mannes" schon zu Beginn erkannt hast. Ich wollte seine Haßgefühle nicht überbetonen, um nicht zuviel Verdacht zu erregen. Hätte ich nämlich den Haß auf die Monster, die er jagt, zu sehr in den Vordergrund gestellt, hätte ich mir Sorgen gemacht, daß die Leser schon früh ein persönliches Motiv hinter seiner Verfolgung des Mädchens vermutet.
So, wie ich ihn dann schließlich beschrieben habe, hatte ich gehofft, man könnte ihn bis zu einem gewissen Punkt für einen "gewöhnlichen" Triebtäter halten. Daß Du gerade deshalb schon von Anfang an wußtest, daß es sich nicht um einen "Bösen" handelt , hat natürlich eine gewisse Ironie. :)

Ich selbst habe mir eigentlich mehr Sorgen darum gemacht, daß ich Louises Charakter nicht gut genug beschrieben hatte, um sie am Anfang für ein wehrloses & (mehr oder weniger) unschuldiges Mädchen zu halten. Hast Du denn bei Ihr auch schon so früh gewußt, was es mit ihrer Figur auf sich hat?

Natürlich würde mich auch brennend interessieren, an welcher Stelle andere Leser das wahre Wesen der Charaktere erkannt haben (*mit dem Zaunpfahl wink* :bounce: )!

Trotzdem hoffe ich, daß die Geschichte auch dann noch spannend ist, wenn man weiß, wie die Rollen zwischen "Gut" und "Böse" verteilt sind. Und da Du gemeint hast, sie wäre für Dich spannend zu lesen gewesen, nehme ich mal frech an, es ist mir gar nicht so schlecht gelungen. :rolleyes:

Liebe Grüße,
Quasi

 

Ich fand die Geschichte ziemlich gut. Nur ein wenig zu lang.
Aber die Spannung blieb auf jeden Fall bis zum Schluß.
Ich jedenfalls wußte erst ab der Stelle, wo das Mädchen als Vampir beschrieben wird, wie die Rollenverteilung ist.

Was mich beim lesen gestört hat waren die, oft, langen Sätze.

Einige Stellen hören sich etwas merkwürdig an.

Was hätte ihr es schon gebrach

Hört es sich nicht besser an "Was hätte es ihr schon
gebracht"?

Seltsam liest sich auch diese Stelle für mich:

etwa fünfzehn Meter vom ihm nächsten Mitglied der Gruppe entfernt.

Das jemand "kreidebleich" wird, wenn er wütend ist, ist mir neu. Wird man da nicht eher knallrot?
Irritert mich nur ein wenig.


als sie ein Geräusch wahrgenommen hatte, daß sie nicht identifizieren konnte

Ich weiß ja nicht, aber normalerweiße kann man ein pfeifen schon erkennen bzw. identifizieren. Oder nicht? :confused:

gar mehr als die Schritte dreier Personen hinter sich auszumachen

Auch hier ist mir nicht ganz klar, wie man den Unterschied ausmachen soll. Und wenn die auf Schotter gelaufen sind, dann kann man vielleicht noch erkennen ob es eine oder mehrere Personen sind. Aber doch nicht, ob es zwei, drei oder gar vier Personen sind.
Klingt für mich ein wenig unlogisch. :confused:

Das waren erst mal die hauptsächlichen Dinge, welche mir auffielen.

Bin schon auf deine nächste Geschichte gespannt.

Jetzt kann ich nur noch hoffen, daß es mit dem zitieren geklappt hat. Da habe ich nämlich so meine Probleme mit. *g*

 

Danke für Eure Kritik Milady und meine Entschuldigung für meine so späte Antwort!

Daß meine Geschichte gefallen hat höre ich freilich immer gerne.

Was die Länge der Geschichte angeht, muß ich zugeben, daß der Umfang auch nicht geplant war, als ich begonnen habe zu tippen. Ursprünglich hatte ich vor, höchstens 5 Seiten zu schreiben, doch dann konnte ich, wie man so schön sagt, nicht mehr aufhören. :rolleyes:
Ich wollte die Erzählung nicht überstürzt beenden und ich hatte das Gefühl, daß sie die Länge "brauchte" um ausgegoren zu wirken.
Ich kann mir gut vorstellen, daß der Umfang mehr als nur einen potentiellen Leser angeschreckt hat.

Für Vorschläge bin ich natürlich gerne empfänglich: Wo könnte man kürzen, wo wirkt die Geschichte zu lang, wo verliert sich die Spannung etwas durch die Länge? (Wobei ich froh bin, daß sie sich bei Dir doch bis zum Ende der Geschichte gehalten hat)


Daß ich in teils zu verschachtelten Sätzen schreibe, dessen bin ich mir wohl bewußt. Einerseits lese ich selbst ungern Texte, in denen ein kurzer Satz auf den nächsten folgt, weil sie mir in dem Fall einfach zu "verhackt" vorkommen, andererseits schieße ich beim Schreiben gern über das Ziel hinaus.
Ich habe auch beim Durchlesen dieses Textes nicht wenige Sätze wieder "zerlegt", über die ich selbst den Überblick verloren habe. Was übrig bleibt, ist mein etwas verschachtelter Stil. :)

Einige der Fehler und Holprigkeiten, auf die Du hingewiesen hast, habe ich bereits behoben, andere stimmen meiner Meinung nach.

"Vom ihm nächsten Mitglied" ist eine Kurzform von "von dem ihm nächsten Mitglied", nur finde ich die kürzere Form besser.

Das jemand "kreidebleich" wird, wenn er wütend ist, ist mir neu. Wird man da nicht eher knallrot?

Es stimmt schon, die Mehrzahl der Menschen läuft bei Wut rot an. Einigen schießt das Blut bei großer Wut allerdings auch "aus dem Kopf" und sie werden bleich. Mein Verfolger ist einer dieser wenigen.

Ich weiß ja nicht, aber normalerweiße kann man ein pfeifen schon erkennen bzw. identifizieren. Oder nicht?

Stimmt. Ich hatte auch eher gemeint, daß ihr die Quelle des Pfiffes unklar war, zumal sie wohl nicht damit rechnet, daß ihre Verfolger ihr nachpfeifen. Da habe ich mich wohl verwirrend ausgedrückt. Mal sehen, ob mir noch eine bessere Formulierung einfällt.

Und wenn die auf Schotter gelaufen sind, dann kann man vielleicht noch erkennen ob es eine oder mehrere Personen sind. Aber doch nicht, ob es zwei, drei oder gar vier Personen sind.

Richtig, das kann man normalerweise wohl nicht. Ich habe Louise als Vampir - damit ich das Wort auch mal direkt benutze :D - eine dem Menschen gegenüber sehr viel feinere Sinneswahrnehmung unterstellt. Deutlich habe ich das im Text zwar nicht ausgedrückt, doch ich habe sie auch ihre Verfolgergruppe sehr früh erkennen lassen. Immerhin hat sie diese auch zuerst gehört, und zu diesem Zeitpunkt waren die Männer wie beschrieben noch relativ weit weg und bewegten sich noch dazu auf Erde und Gras.

Damit hoffe ich, ein wenig mehr Klarheit in die Sache gebracht zu haben und sehne mich natürlich weiterhin nach mehr ehrlichen Kommentaren zu meiner Geschichte.

Liebe Grüße,
Quasi

[Beitrag editiert von: Quirliger Quasar am 28.02.2002 um 01:31]

 

Ok, Entschuldigung angenommen. :D


Natürlich würde mich auch brennend interessieren, an welcher Stelle andere Leser das wahre Wesen der Charaktere erkannt haben (*mit dem Zaunpfahl wink*

Nach dieser Äußerung von Dir hat es mich doch sehr gewundert, daß du nix mehr von dir hören/lesen läßt.

 

also ich hatte keine zeit die geschichte vollständig zu lesen! das ist für mich keine kurzgeschichte mehr ehrlich gesagt. was ich gelsen habe war zwar gut aber es waren so viele details der ganzen umgebung und so weiter das ich oft den zusammenhang verloren habe. is nich jedermanns ding!
gewundert habe ich mich am anfang wieso sie so aufgetakelt war, hätte das mit dem club vorgezogen, damit der zusammenhang stimmt.
mehr kann ich nicht sagen tut mir leid wenn cih zeit hae lese ich weiter mir fehlen noch 3 doer 4 abschnitte!

 

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