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Das Mädchen der Woche
Der Wecker klingelte zum zweiten Mal und Fritz Henning drückte zum zweiten Mal die Schlummertaste. Die Augen zu öffnen erschien als unüberwindbare Herausforderung, doch Ruhe fand er auch nicht mehr. In einer Viertelstunde würde der Wecker wieder klingeln und dann müsste er sich beeilen. Undeutliche Gedanken begannen sich hinter der Mauer zu formen, die mitten durch seinen Kopf verlief.
Muss ... aufstehen ...
Das Bewusstsein kratzte an der Mauer, machte sie porös, drängte sich nach vorne.
Ermäßigter Steuersatz für Bücher ... und lebende Pflanzen ...
Er öffnete sein rechtes Auge (nur halb, es ganz zu öffnen, war zu anstrengend) und griff nach hinten, wo er auf dem Nachttisch herum fühlte, bis er den Wecker gefunden hatte. Die leuchtend roten Zahlen auf der Digitalanzeige schickten zusammen mit der Uhrzeit einen schmerzhaften Impuls durch sein Auge in seinen Kopf. Fünf Uhr Siebzehn. Er musste hoch.
Okay ... fünf ... vier ... drei ... zwei ... eins ...
Mit einer schnellen Bewegung zog er die Decke weg und setzte sich gerade auf. Der Schockaufsteh-Countdown, wie er das nannte, funktionierte immer.
Bei privaten Veräußerungsgeschäften Paragraf dreiundzwanzig prüfen.
Er hatte die halbe Nacht für die Prüfung in allgemeinem Steuerrecht gebüffelt und hoffte nun, dass sein Kurzzeitgedächtnis die nächsten vier Stunden durchhalten würde. Innerhalb von zehn Minuten schaffte er es, sich ein Mettbrötchen reinzuzwingen, die Zähne zu putzen und zwei Koffeintabletten einzuwerfen. Fünf weitere Minuten brauchte er, um sich die Hose anzuziehen. Auf dem Weg nach draußen begann der Wecker wieder zu klingeln.
Scheiß drauf.
Fritz trat auf die Straße und sog die nach Abgasen riechende Luft ein. Als er sich nach rechts wandte, stieß er mit einer Frau zusammen.
„Mist, sorry", murmelte Fritz und bückte sich nach der Milchpackung und den Haferflocken, die sie hatte fallen lassen, worauf beide heftig mit den Köpfen zusammenstießen, weil sie das gleiche vorgehabt hatte.
„Autsch!", riefen sie gleichzeitig und lächelten sich verlegen an. Sie war sehr hübsch mit ihren langen, dunkelblonden Haaren, den grünen Augen und der Stupsnase.
„Okay", sagte Fritz, „ich werde mich jetzt ganz langsam bücken, ja?"
„Gut", sagte sie lächelnd, wobei sie sich die Stirn rieb. Er hob die Sachen auf und reichte sie ihr.
„Danke."
„Nichts zu danken. Ist denn alles noch dran?"
„Wie meinst du das?", fragte sie mit misstrauischem Blick.
Erst jetzt fiel Fritz ihr Akzent auf. Russisch, vielleicht auch polnisch.
„Ach, ich wollte nur wissen ob alles in Ordnung ist", sagte er schüchtern, während er sich verlegen in den Nacken fasste.
„Oh, ja ja, schon gut", erwiderte sie mit einem Lächeln, verabschiedete sich und ging zur Eingangstür, während sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche fischte. Grinsend schaute Fritz ihr hinterher. Lange schlanke Beine in grünen Röhrenjeans, Converse Chucks, abgewetztes Jeanshemd - sie gefiel ihm von Minute zu Minute besser ... und offenbar waren sie Nachbarn.
„Tschüss", rief er und winkte ihr hinterher, worauf sie zurück winkte und im Haus verschwand.
Oh man, wow ... scheiße, die Prüfung!
Die Prüfung lief überraschend gut. Seit seinem Zusammenstoß mit der schönen Russin (oder Polin) strotzte er vor Energie. Leichtfüßig lief er nach Hause, und während er seinen Schlüssel aus der Jackentasche kramte, überprüfte er die Namen an den Klingeln, um herauszufinden, wo seine neue Nachbarin eingezogen war. Er las die Namen einmal, dann noch einmal.
„Hm, seltsam", murmelte er. Es waren keine neuen Namen zu sehen. Keine, bis auf ...
Oh nein, bitte nicht!
Über seinem Namensschild stand, mit rotem Filzstift geschrieben, „Svetlana". Die Wohnung über der von Fritz war ein Laufhaus, in das sich Prostituierte wochenweise einmieteten - und er war sich sicher, dass letzte Woche noch ein anderer Name auf dem Schild gestanden hatte. Irgendwas Französisches.
Besteuerung nach dem Düsseldorfer Modell, fünfundzwanzig Euro pauschal pro Tag.
Fritz schüttelte erschrocken den Kopf. Die Besteuerung von Prostituierten war ihm grade vollkommen egal.
Sie ist eine Nutte. Na klar. Warum sollte ich auch mal eine nette Tierarzthelferin oder Lehrerin kennen lernen? Kann ja jeder.
Die gute Laune war mit einem Mal dahin, und an ihre Stelle traten Müdigkeit und Erschöpfung. Auf halber Treppe hörte er die drei Noten seiner Klingel, und wenige Sekunden später auch seinen Wecker.
Ach, Mist.
Als er seine Tür erreichte, stellte er fest, dass die Russin (oder Polin) vom Morgen vor seiner Tür stand und entnervt Sturm klingelte.
„Hallo", sagte Fritz.
Sie drehte sich um, Arme verschränkt, Beine gekreuzt, Augen zu Schlitzen zusammengezogen. Wenn sie ihn erkannte, dann ließ sie es sich nicht anmerken.
„Ist das dein Wecker? Er nervt mich! Er macht schon den ganzen Tag Krach!"
„Ja ja, jetzt bin ich ja da", murmelte Fritz, während er seine Tür aufschloss.
Dann drehte er sich zu ihr um und fragte sie mit matter Stimme: „Du wohnst über mir?"
Nun wirkte sie nicht mehr ganz so forsch. Ein zucken ging durch ihre Gesichtszüge, dann sagte etwas schrill: „Ja."
„Aha."
Er ließ sie stehen, schlug die Tür hinter sich zu und ging geradewegs zum Bett. Als er einige Stunden später aufwachte, hatte er noch Jacke und Schuhe an. Fritz drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Auf der anderen Seite, nur drei Meter von ihm entfernt, sprang wahrscheinlich grade irgendein fetter Taxifahrer auf der kleinen Russin (oder Polin) Trampolin. Dabei war sie so süß und bestimmt auch ganz lieb, und nach dem Zusammentreffen vor seiner Tür zu urteilen, hatte sie auch Temperament.
Ich war ganz schön gemein.
Der Gedanke an das, was sie da oben trieb, war eklig, aber was wusste er schon - und letztendlich waren Huren auch nur normale Leute, die Rechnungen bezahlen mussten. Zudem war seine Ex-Freundin, wie sich kürzlich herausgestellt hatte, ebenfalls eine Hure, nur nahm sie weder Geld noch Kondome, und bei der kleinen da oben wusste er wenigstens, woran er war. Fritz lauschte, doch es war nichts zu hören. Ob sie grade keine Kundschaft hatte?
Ach, verdammt!
Er rappelte sich auf und machte sich auf den Weg zu der Wohnung über ihm. An der Tür hielt er kurz inne, doch dann überwand er sich und klingelte. Nach ein paar Sekunden hörte er Schritte, Absatzschuhe, dann wurde eine Kette von der Tür gelegt. Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und das Mädchen lugte heraus. Als sie ihn sah, öffnete sie die Tür ganz und bat ihn mit einer Handbewegung herein. Der Flur war in rotes Licht getaucht, Duftkerzen verbreiteten einen blumig süßen Geruch. Sie trug schwarze Dessous mit Spitze und halterlose Strümpfe.
Heilige ...
In seiner Hose regte sich etwas, was ihm die Schamröte ins Gesicht trieb.
Er steckte sich die Hände in die Taschen und versuchte, lässig zu wirken, damit sie nichts merkte.
„Hallo, was möchtest du?", fragte sie, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Ja, also ...", stammelte Fritz, welcher der Verlockung widerstehen musste. Würde er nachgeben, dann könnte er ihr hinterher nie mehr in die Augen sehen.
„Halbe Stunde ist fünfzig Euro, hundert für eine Stunde", sagte sie trocken. Ganz die Geschäftsfrau. Ihr Ton war leicht gelangweilt, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Ungeduld und etwas anderem, das Fritz nicht genau deuten konnte.
„Nein, deshalb bin ich nicht hier!"
Er kratzte sich verlegen am Kopf, dann sagte er schüchtern, ohne sie anzusehen: „Ich wollte mich wegen vorhin entschuldigen. Vielleicht war ich etwas unfreundlich."
„Vielleicht? Etwas?"
Sie lächelte ihn mit hochgezogener Augenbraue keck an, strich ihm mit dem Finger über die Brust und sagte dann freundlich: „Schon gut. Ich habe jetzt keine Zeit. Bis später!"
„Ja ... ja, okay!"
Einen Tag später hörte er Geschrei aus der Wohnung über ihm. Es war so laut, dass er es trotz der Kopfhörer, die er während seines Videospiels trug, hören konnte: Eine schrille Frauenstimme, wahrscheinlich Svetlana, spuckte einige Schimpfwörter aus, worauf eine tiefe Männerstimme brüllte, was für eine dumme Nutte sie sei. Fritz machte sich Sorgen, daher ging er nach oben und klingelte.
„Jetzt nicht!", brüllte die Männerstimme. Dann sagte sie leiser: „Nun zu dir, Fotze!"
Während sich die Schreie von Svetlana und dem Unbekannten mischten, hämmerte Fritz gegen die Tür.
„Lass sie in Ruhe, du Arschloch!"
Okay, ich muss da rein. Also, wie im Film ...
Er ging ein paar Schritte zurück und machte sich bereit, die Tür einzutreten, als ein schriller Schrei ertönte, auf den ein dumpfer Aufprall folgte. Dann: Stille.
Shit!
Er hörte die Kette der Tür klirren, dann öffnete Svetlana die Tür. Sie hatte die Arme vor ihren nackten Brüsten verschränkt. Er ging auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Schultern und fragte: „Bist du okay?"
Sie nickte. Er wollte sie in den Arm nehmen und trösten, doch ein Blick in ihre Augen sagte ihm, dass sie keinen Trost wollte. Im Schlafzimmer lag ein Mann auf dem Boden, fett und sabbernd.
„Wie hast du ..."
Erst jetzt bemerkte er, dass sie einen Elektroschocker in der Hand hielt.
„Wir müssen die Polizei rufen."
„Hab ich schon", sagte sie kalt, während sie sich ein wenig Rotz von der Nase wischte. Ihre Stimme konnte Glas schneiden und Fritz bekam eine Gänsehaut.
Nichts, was sie nicht schon einmal erlebt hat.
Er bemerkte den zerrissenen Büstenhalter auf dem Boden und sagte dann leise, beinahe entschuldigend: „Ich warte draußen, vor der Tür. Wenn was ist, dann ruf mich einfach."
Sie nickte und ging zum Kleiderschrank, wobei sie dem Bewusstlosen im Vorbeigehen in den Magen trat und "Blöder Wichser!" zischte.
Am nächsten Abend klingelte es. Fritz öffnete die Tür. Sie war es. Diesmal trug sie wieder das abgewetzte Jeanshemd, dazu eine Jogginghose und rosa Crocks.
„Hey, wie gehts dir?", fragte sie schüchtern.
„Eigentlich müsste ich dich das fragen", erwiderte Fritz lächelnd.
„Ja, du, ich wollte mich nochmals bedanken."
„Nichts zu danken. Jeder hätte das gemacht."
„Nein, das hätte nicht jeder gemacht", sagte sie, und für ein paar Sekunden wanderten ihre Augen zu ferner Vergangenheit. Keine guten Erinnerungen, dachte Fritz.
„Wie dem auch sei, ich reise noch heute Abend weiter und wollte mich bedanken."
„Ich wünschte, wir hätten uns anders kennengelernt", flüsterte Fritz.
Sie zierte sich einen Augenblick, als würde sie mit sich ringen, dann umarmte und küsste sie ihn. Lange und leidenschaftlich. Dann ging sie. Er sagte nichts und sie auch nicht.
Die Nacht war lang, denn Fritz dachte darüber nach, was er getan und was er nicht getan hatte. In seinem Kopf spielten sich Filme ab, er lebte ganze Leben mit Svetlana, traf ihre Eltern, wurde mit ihr in einem kleinen Haus an einem See alt und züchtete Schäferhunde. Spinnereien.
Am nächsten Morgen war Svetlana das erste Wort, das ihm über die Lippen kam. Er war wieder spät dran. Nach einem schnelle Frühstück und einer notdürftigen Katzenwäsche warf er noch einen Blick in den Briefkasten. Neben Werbeprospekten war dort nur ein unbeschrifteter gelber Briefumschlag. Darin: Ein Brief. In dem Brief:
„Hallo, mein Süßer! Vielen Dank. Wir sehen uns wieder, versprochen! Kuss, Olga (nicht Svetlana)"
Fritz lächelte, faltete den Brief in der Mitte und steckte ihn sich in die Brusttasche.
Olga. So ein schöner Name!