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Das Mädchen, das ich sah
Von weitem sah ich sie. Verzaubert von ihrem Anmut konnte ich meine Augen nicht von ihr abwenden. Sie war so schön, wie sie dort am verlassenen Hafenbecken stand. Ich konnte nicht sagen wieso, ich wusste nur, dass es so war.
Sie stand da als hätte sie nie woanders gestanden, als wäre es gerade der Ort, wo sie stehen musste. Sie hatte rabenschwarzes Haar, das ihr im starken Wind ins Gesicht peitschte. Sie trug einen langen Mantel, der ebenso schwarz war wie ihr Haar, eng um den dünnen Körper geschlungen.
Immer wieder fuhr sie sich mit der linken Hand durch das zerzauste Haar. In der rechten trug sie eine lederne Tasche etwa von der Größe einer Reisetasche.
Sie weinte. Sie war so jung und trotzdem war ihr Gesicht voll Hilflosigkeit und Verzweifelung.
Bei diesem Anblick bekam ich ein laues Gefühl im Magen. Ich stellte mir immer wieder die Frage, was ein so hübsches junges Mädchen in eine solche Situation purer Verzweifelung bringen konnte.
Ich sah ihr noch lange zu, sah wie sie nach einiger Zeit die Tasche abstellte. Im ersten Moment hatte es den Anschein, als würde sie sie mit dem Fuß ins Hafenbecken stoßen wollen, doch dann drehte sie sich um, ließ die Tasche, wo sie war und ging. Zuerst schleichend, dann laufend und schließlich rennend.
Ich sah ihr nach bis sie hinter dem Deich verschwand.
Erst nach einigen Minuten erwachte ich aus meiner Trance. Langsam, sehr langsam machte ich mich auf den Weg zur Tasche, die noch immer unberührt an diesem Platz stand.
Als ich sie öffnete hatte ich ein komisches Gefühl im Magen, vielleicht hatte ich eine Vorahnung.
Ich erschrak, als ich sah was die Tasche enthielt. Darin war ein Neugeborenes. Es hatte rabenschwarzes Haar, wie seine Mutter.
Es war tot. Was war mit ihm geschehen? Ich nahm es heraus, legte ihm die Hand aufs Gesicht und wollte es schon wieder in die Tasche zurücklegen, da merkte ich, dass es noch atmete.