Das Mädchen das über die Kirschblüten lief
Das Mädchen, das über die Kirschblüten lief
Es regnete. Eigentlich sollten wir heute feiern. Es war Mottowoche, wir standen kurz vor dem Abitur. Wir wollten unseren baldigen Abschluss feiern. Ungeachtet, ob wir schon einen Plan für unsere Zukunft hatten, oder nicht.
Heute war Schlafanzug an der Reihe. Es war Montag. Wir wollten grillen, vor der Schule Bier trinken. Doch es regnete.
Die ganze Welt war in einen grauen Schleier gehüllt, der alles trübe erscheinen ließ. Trotzdem waren viele gut gelaunt. Aus dem Grillen wurde nichts, und alle zogen sich erst in der Schule um. Alles war vertreten: Nachthemden, altmodische Schlafanzüge, Kuscheltiere, Kissen, eine Schlafmütze, ein paar Mädchen trugen Schlafmasken auf dem sorgfältig frisiertem Haar. Keiner kam auf die Idee, in seinen Boxershorts oder gar ohne Schuhe hinaus zu gehen.
Es war schon lustig an zu sehen, wie sich die gesamte Oberstufe im Foyer versammelte und ein Schlaflager errichtete, durch dass sich Lehrer und jüngere Mitschüler kämpfen mussten. Doch dank des Regens wollte meine Laune nicht wirklich halten.
Also ging ich in meiner nächsten Freistunde. Weit war es zwar nicht bis zu mir nach Hause, doch ich entschied mich trotz Regen zu einem etwas längerem Umweg.
Warum, kann ich nicht sagen. Es war aus einer Intuition heraus.
Ich verließ den Block, in dem meine Schule lag, durchquerte den Park und landete schließlich an der Hauptstraße. Zum Regenrauschen mischten sich die Fahrgeräusche der Autos und Busse, die Gespräche der einkaufenden Menschen, der Kleinkinder und deren Eltern. Ein ziemlich normaler Vormittag in unserem Viertel.
Ich beachtete sie nicht wirklich. Wie oft war ich hier schon lang gelaufen. Nichts besonderes.
Doch auf einmal erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Eigentlich nichts extrem spannendes, aber so banal, dass es eine gewisse Faszination auf mich hatte:
Mein Weg war voller Kirschblüten.
Sie waren durchnässt und schienen vom Regen an den gepflasterten Boden geheftet zu sein. Die rosarote Farbe war durch dreckiges Wasser und verunreinigte Luft schmutzig geworden. Seltsam für diese Jahreszeit. Es war schon Mai, es blühte in der Nähe kein Kirschbaum mehr. Das war aber eigentlich nicht das, was mich stehen bleiben und diese Blüten anstarren ließ. Es war, dass die Blüten nicht wild und wie hingeworfen auf dem Boden lagen. Viel mehr schienen sie den Fußabdruck von jemanden wiederzugeben. Diese Person war barfuss, schien einen gemächlichen Gang zu haben, ohne Eile, ganz in Ruhe. Es waren kleine Fußabdrücke, aber nicht von einem Kind, vielmehr von einer nicht sehr großen, zarten Person. Mein Blick folgte der Spur. Und da sah ich sie.
Eine Person, um einiges kleiner als ich selbst, aber wahrscheinlich in meinem Alter, eine normale Statur, nicht zu viel und nicht zu wenig. Die Haare kurz und schwarz, nur im Nacken waren sie länger und zu einem Zopf geflochten. Sie trug nur Boxershorts und eine schwarze Kapuzenjacke, die ihr etwas zu groß war. Sie war barfuss. Wenn sie den Fuß hob, konnte ich Kirschblüten an ihnen haften sehen.
An der nächsten Kreuzung blieb sie stehen. Vor ihr lagen noch keine Blüten.
Diese Person zog sie wie einen Wegweiser hinter sich her.
Sie kam mir bekannt vor. Wegen ihrer Kleidung lag es nahe, dass sie zu meiner Stufe gehörte. Aber ich konnte die Statur niemandem zuordnen. Irgendwie seltsam, dass jemand einem so vertraut und doch so entfernt sein kann. Ich setzte meinen Weg fort, bis ich ein oder zwei Meter hinter ihr stand. Schräg, dass ich ihr Gesicht im Halbprofil erkennen konnte. Es war ein Mädchen. Ein Mädchen mit ausdruckslosen Augen, sie blickten ins Leere, schienen dort irgendetwas erstechen zu wollen. Doch hinter dieser Härten lagen Tränen. Sie waren klar und deutlich zu erkennen. Weg geschlossen vom Rest der Welt, versteckt vor allen anderen. Der Pony fiel ihr ins Gesicht, berührte beinahe ihre gepiercte Lippe. Es war ein Ring. Sie hörte Musik, die kleinen Ohrstöpsel verschwanden unter den Haaren in ihren Ohren. Ließ sie noch weltfremder erscheinen. Vor ihr lag keine einzige Blüte.
Die Straße wurde frei. Und sie ging weiter. Setzte ohne hin zu sehen und doch sicher einen Fuß vor den anderen. Und hinterließ eine Fußspur von Kirschblüten. Es war als würden sie aus ihren Füßen sprießen, als würden ihre Füße sie gebären und durch die Sohlen in die Welt setzen, sie zurück lassen. Eine Spur hinter sich hinterlassen, wie ein Hilfeschrei. Ein stummer Ruf, der nicht durch Sprache geäußert werden konnte.
Sie ging die Straße entlang, vorbei an meinem Hauseingang.
Ich folgte ihr, aus einem inneren Impuls heraus. Ich kann nicht sagen, warum.
Irgendwie wollte ich ihr folgen. Egal wohin. Das Ziel war nebensächlich.
Die Kirschblüten zeigten einen Pfad. Einen Pfad ins Ungewisse. Plötzlich wurde es mir klar. Sie war genauso allein wie ich. Fühlte sich genauso hilflos. Sie kannte den Weg ebenso wenig wie ich, hatte vielleicht sogar bei jedem Schritt Angst vor dem Nächsten, als würde dieser sie in einen Abgrund führen.
Ihr Weg war nicht mein Weg, aber ein ähnlicher. Vielleicht konnten wir ihn gemeinsam ein Stück gehen. Und versuchen unsere Richtung wieder zu finden.