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Das Mädchen aus Schweden
Das Mädchen aus Schweden
Es war ein ganz gewöhnlicher Montag im Leben von Daniel Senf. Er stand morgens auf, frühstückte und ging zur Schule. Als er in den Raum der 4d kam, waren die meisten Schüler schon da. Er setzte sich auf seinen Platz und tratschte noch etwas mit seinem Nachbarn Herbert Petterson. Sie redeten über dies und das und merkten zuerst gar nicht, dass der Lehrer in den Klassenraum gekommen war. Erst als er in einem etwas lauten Tonfall um Ruhe bat, bemerkten ihn Daniel und Herbert.
Nun sagte der Lehrer: "Guten Morgen, liebe Klasse. Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Wochenende und seid jetzt fit für eine neue Schulwoche. Heute habe ich eine besondere Überraschung für euch. In unsere Klasse kommt eine neue Schülerin. Sie heißt Prikilla Kopenka und kommt aus Stockholm." Der Lehrer öffnete die Tür und es erschien ein kleines Mädchen, das bestimmt zwei Jahre jünger war als Daniel. "Prikilla ist erst 8", fuhr der Lehrer fort, "weil ihre Eltern meinten, dass sie schon mit fünf in die Schule gehen müsse. Leider sind sie vor drei Wochen bei einem Autounfall gestorben. Nun wohnt Prikilla bei ihrer Schwester hier in Frankfurt. Seid nett zu ihr. Vielleicht muss sie ein Schuljahr zurück, denn sie versteht nur ein paar Wörter Deutsch." Damit beendete der Lehrer seine Einführung. Prikilla setzte er in die vorderste Reihe neben Mehmet Linkz. Nun begann der Unterricht. In den ersten beiden Stunden hatte die Klasse Mathe. Sie rechneten mit Tausendern. Prikilla sagte kein Wort, hatte aber die Rechenaufgaben im Buch als Erste gelöst.
In der Pause war Prikilla das einzige Gesprächsthema. Alle meinten, dass so ein kleines Kind nicht in die Klasse gehöre. Doch Daniel tat sie leid. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie es ist ohne Eltern in ein fremdes Land zu ziehen. Er ging zu Herbert und fragte ihn, ob sie nicht mal versuchen sollten, mit Prikilla zu reden. Doch der lehnte ab: "Wieso sollte ich zu der hingehen? Ich wäre froh, wenn sie bald wieder aus der Klasse raus ist."
Aber Daniel wollte unbedingt mit ihr reden. Sollte doch der blöde Herbert denken was er wollte. Er würde jetzt zu Prikilla gehen und sie ansprechen. Er lief zu der Ecke des Schulhofs, in der sie stand. Kein anderer Schüler der Klasse war bei ihr. Keiner wollte etwas mit ihr zu tun haben. Ein paar Erstklässler turnten auf den Bäumen, die ringsum standen. Er ging zu Prikilla und sagte: "Hallo!" Keine Antwort. Sie drehte sich nicht mal zu ihm. Er versuchte es wieder: "Hal-lo! Ich-hei-ße Da-ni-el!"
Doch auch dieser Versuch war erfolglos. Daniel versuchte noch bis zum Ende der Pause mit Prikilla zu reden, aber sie verstand ihn nicht. Daniel war enttäuscht. Konnte man sich denn gar nicht mit ihr verständigen?
In den nächsten zwei Stunden dachte er nicht mehr an die Ereignisse in der Pause, denn sie hatten Sport. Daniel war der beste Sportler in der Klasse. Doch beim Laufen überholte Prikilla selbst ihn. Obwohl sie eigentlich eine Zweitklässlerin hätte sein müssen, war sie einfach besser als alle anderen in der Klasse.
Die beiden letzten Stunden waren frei. Daniel beschloss, Prikilla auf dem Heimweg zu begleiten, doch aus seinem Plan wurde nichts. Ein weißer Mercedes fuhr vor und rollte, als Prikilla eingestiegen war, auch schon wieder ab.
Daniel ging traurig nach Hause. Er hätte sie so gern begleitet, aber sie schirmte sich von allem ab. Beim Mittagessen aß er nur ein bisschen, ging in sein Zimmer und machte Hausaufgaben. Dann ging er zu Herbert. Sie spielten mit Herberts neuem Nintendo 64. Dann redeten sie über die Schule. Daniel erzählte von seinen Versuchen, mit Prikilla zu reden. Herbert lachte und sagte: "Ich hab dir doch gleich gesagt, dass die doof ist. Außerdem müsste sie viel älter sein, um in die vierte Klasse gehen zu können."
Dann ging Daniel nach Hause. Er dachte den ganzen Abend darüber nach, wie er sich am nächsten Tag mit Prikilla unterhalten könnte. Doch es fiel ihm nichts ein. Sie konnte ihn eindeutig nicht verstehen und Zeichensprache konnte er nicht. Er dachte daran, sich ein schwedisches Wörterbuch zu kaufen, aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder, denn genug Geld für so etwas hatte er nicht. Daniel überlegte sich noch viele Sachen, die aber alle nicht realisierbar waren. Dann ging er ins Bett. Er würde schon sehen, wie er sich mit Prikilla unterhalten konnte. Und wenn er ihr eigenhändig Deutsch beibringen würde, irgendwie könnte er sich bestimmt mit ihr verständigen.
Am nächsten Morgen ging Daniel fröhlich zur Schule. Heute würde er garantiert mit ihr ins Gespräch kommen. Als er ins Klassenzimmer kam, war Prikilla noch nicht da. Er setzte sich auf seinen Platz. Mit Herbert wechselte er kein Wort.
Der Lehrer erschien. Er begrüßte die Klasse. Dann sagte er: "Ihr habt sicher bemerkt, dass Prikilla nicht da ist. Sie wird auch nicht mehr kommen, denn sie ist mit ihrer Schwester zu ihren Großeltern nach Schweden gezogen. Dort hat sie es bestimmt leichter in der Schule als bei uns. So, nun lasst uns mit dem Mathe-Unterricht beginnen."
Daniel traute seinen Ohren nicht. Sie konnte doch nicht einfach weg sein.
Einen Tag war sie da - und jetzt einfach weg?
Dann fragte er sich:
Hätte er sich wirklich mit ihr unterhalten können?
Hätte sie ihn verstanden?
Doch diese Fragen blieben nun ungeklärt.
In der kurzen Zeit, in der sie zur Klasse gehörte, empfand Daniel für Prikilla etwas, das ein bisschen so wie Liebe war.
© 1998, 2005 by Jano Rohleder