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Das Mädchen auf der Brücke
Das Mädchen auf der Brücke
In jener Nacht war es kalt.
Dichte Nebelschleier hingen über der Stadt, graue Wolkenfetzen wurden behäbig an der bleichen Scheibe des Mondes vorbei getrieben, um dann wieder in der Anonymität der Nacht zu verschwinden.
Die Luft war feucht und schwer.
Danny Michaels zog an seiner Zigarette. Er schloß seine Augen, inhalierte den scharfen Rauch tief in seinen Lungen und blies ihn dann in den Nebel hinaus.
Unwillkürlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Nur ganz kurz, nicht mehr als eine Andeutung um seine Mundwinkel. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst und ausdruckslos. Der Blick seiner Augen leer.
Er beugte sich über das Brückengeländer und blickte auf den Fluß hinab, der sich tief unter ihm mit leisem Plätschern seinen Weg durch die Nacht suchte. In der Dunkelheit unter der Brücke konnte Danny ein waberndes Nebeltuch erkennen, das den Fluß fast vollständig bedeckte. Die beiden Lampen am Brückengeländer warfen einen unheimlichen, fahlen Schein in die Tiefe.
Danny lauschte dem leisen Rauschen des Wassers, dem einzigen Geräusch in dieser Nacht.
Ein kühler, unangenehmer Wind spielte mit seinen Haaren. Es war, als würden kleine, kalte Finger zärtlich über sein Gesicht streicheln.
Danny spürte die Kälte nicht.
Er zog wieder an seiner Zigarette und blies den Rauch langsam in die Nacht unter sich; ganz langsam, während er den bitteren Geschmack noch im Mund spürte.
Er genoß diesen kalten, fahlen Geschmack, denn es war sein letzter Zug gewesen.
Der allerletzte. Seine letzte Zigarette.
Er schnippte die Kippe in den Nebel hinein, sah zu, wie sie wie ein glühender Funkenregen verschluckt wurde und vergrub dann sein Gesicht in den Händen.
Hinter seinen geschlossenen Lidern spürte er eine bleierne Müdigkeit. Er rieb sich mit den Händen über seine Augen, die sich heiß und krank anfühlten.
Dann blickte er hinauf zur milchigen Scheibe des Mondes, der sich hinter den Schleiern des Nebels zu verstecken schien.
Einen Mond, den er als Kind gekannt und bewundert hatte. Ein Mond, der all seine Leiden und Erniedrigungen stumm beobachtet hatte, mit der stillen Freude eines Fremden.
Es wurde Zeit.
Die Nacht wurde alt und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich zurückzog und die Welt ihm wieder ihr häßliches Gesicht in all seiner Abscheulichkeit präsentierte.
Aber wenn die Dunkelheit ihren Kampf verlor, dann würde Danny nicht mehr da sein. Dann würde er bereits mit der Nacht gegangen sein. Eins mit dem Nebel sein...eins mit dem Vergessenen.
Er atmete tief ein, spürte die feuchte und kalte Luft stechend in seinen Lungen.
Vorsichtig stellte er seinen Fuß auf die unterste Verstrebung des Geländers.
Seine Hände krallten sich krampfhaft um den kalten Stahl einer der beiden Laternen.
Sein Atem ging schneller.
Plötzlich schien das Plätschern des Wassers tief unter ihm lauter zu werden. Das Rauschen verwandelte sich in Flüstern. Sanfte, verlockende Worte, die in seinen Verstand drangen, wie der Gesang von Sirenen. Der Fluß flüsterte seinen Namen, das kalte, hungrige Wasser rief nach ihm.
Danny...Danny...
Er beugte sich weiter über das Geländer, spürte, wie der kalte Stahl jetzt in seinen Unterleib drückte. Die Luft schien kälter zu werden, die zärtlichen Finger fordernder und heftiger.
Sein hektischer Atem wurde rasend, die kalte, neblige Nachtluft füllte seine gesamten Lungen aus und ließ seinen Körper erzittern.
Zittern vor Kälte...zittern vor Angst...
„Was tun Sie da?“
Danny zuckte zusammen, als hätte sich die Kälte des Brückengeländers in hektischen Strom verwandelt. Sein Kopf fuhr herum.
Einige Schritte von ihm entfernt, auf der Straße, stand ein Mädchen.
Sie war in einen langen, dunklen Mantel gekleidet, ihr blondes Haar hing offen auf ihren Schultern und wehte wie ein Schleier im Nachtwind. Sie stand mitten auf der Straße, ihre Hände waren in den tiefen Manteltaschen vergraben.
Danny konnte nicht sagen, wie alt das Mädchen war. Sie mochte vielleicht dreizehn Jahre alt gewesen sein, aber ihr Gesicht wirkte ernst und abwesend.
Sie kam auf Danny zu, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Als sie näher kam und er sie durch den Dunstschleier des Nebels besser erkennen konnte, bemerkte Danny, daß sie wunderschöne, helle Augen hatte.
Allerdings erkannte er im gleichen Augenblick eine tiefe Traurigkeit in ihnen. Eine Traurigkeit, die das ganze Gesicht, das ganze Mädchen gefangen zu halten schien.
Sie trat neben ihn, lehnte sich auf das Geländer und starrte in die Dunkelheit des Flusses hinab. Dünne Atemwölkchen stiegen vor ihrem Mund auf und verflogen in der Nacht.
Erst jetzt bemerkte Danny, daß er immer noch auf der unteren Verstrebung des Geländers stand und sich an der Laterne festhielt. Er stieg hinunter und lehnte sich ebenfalls über den kalten Stahl des Geländers. Er verschränkte seine Hände ineinander, damit das Mädchen das Zittern nicht sehen konnte.
„Sag mir lieber, was Du hier tust, mitten in der Nacht?“ fragte er sie.
Das Mädchen schien zunächst nicht auf seine Frage zu reagieren. Ihr Blick war leer und gedankenverloren, auf irgendeinen Punkt tief unter ihnen in der Nacht fixiert.
Dann blickte sie ihn an, mit ihren hellen, großen Augen, die so voller Trauer steckten. Ein flüchtiges Lächeln spielte um ihren Mund.
„Vielleicht das gleiche wie Sie, Mister.“
Ihre Blicke trafen sich einige Sekunden, stumm, und doch konnte Danny unsäglichen Schmerz in diesen Augen erkennen.
Er blickte wieder in die kalte Nacht hinaus und massierte dabei seine Hände. Sie zitterten immer noch, und sein Herz raste weiterhin in wildem Galopp.
„Danny ist mein Name“, sagte er. „Nicht `Mister´“.
Er zögerte kurz, dann hielt er dem Mädchen seine Hand entgegen.
„Ich heiße Tami“, flüsterte das Mädchen fast, während ihre zierliche Hand zwischen Dannys Fingern verschwand. Sie war klamm, das spürte er trotz der Kälte, die durch seinen eigenen Körper floß.
„Und was tust Du um diese Zeit hier draußen auf der Brücke, Tami?“ fragte Danny, ohne ihre Hand loszulassen.
„Ich komme oft hierher“, sagte sie leise, wich seinem Blick aus und blickte mit leeren Augen wieder in die Dunkelheit unter ihnen.
„Ist es nicht wunderbar?“
Plötzlich hatte sich ihre Stimme verändert. Von einer Sekunde auf die andere schien die Traurigkeit einer glücklichen Erinnerung gewichen zu sein.
„Der Fluß“, fuhr sie fort, als Danny nicht antwortete.
„Das Rauschen des Wassers. Es ist das schönste Geräusch auf der Welt.“
Jetzt glänzten ihre Augen und ein entzücktes Lächeln stand auf ihrem Gesicht.
„Es ist, als könnte der Fluß sprechen. Als würden darin Tausende Kobolde leben.“
Tami wandte sich Danny zu, der ihr stumm zuhörte.
„Nicht am Tag. Da hört man ihn nicht. Der Tag ist schlecht und voller falscher Stimmen. Das wissen Sie selbst sehr gut, Danny. Aber in der Nacht, da erwacht das Wasser und erzählt seine Geschichten.“
Danny betrachtete sich das Mädchen. Er sah das Lächeln auf ihrem Gesicht, das all die Trauer vertrieben zu haben schien. Er sah das Strahlen ihrer Augen, das Aufleben ihre Gesichtes, das so viel schöner war, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.
„Du liebst diesen Ort, nicht wahr?“
Tamis Lächeln verschwand fast augenblicklich, und zurück blieb wieder diese tiefe Schwermut.
„Ich hab ihn früher einmal geliebt“, sagte sie mit leiser Stimme.
„Bevor...“ Sie verstummte.
„Heute komme ich nur noch hierher, um die Geschichten des Flusses zu hören“, fuhr sie dann ebenso leise fort.
Danny wurde plötzlich bewußt, daß er mitten in der Nacht alleine mit einem Mädchen auf einer einsamen Brücke stand. Er fragte sich, was wohl ein zufällig vorbeikommender Passant von der Szene halten würde.
„Was ist mit Ihnen, Danny?“ rissen ihn Tamis Worte plötzlich aus seinen Gedanken.
„Warum kommen Sie hierher?“
Danny sah, wie das Mädchen ihn anblickte. Ihn beobachtete. Dann starrte sie wieder mit diesem verträumten und traurigen Lächeln auf dem Gesicht in die Nacht hinab, als hätte sie ihre Frage schon vergessen.
„Ich weiß es nicht“, antworte er nach einer Weile. Und seltsamerweise waren seine Worte noch nicht einmal eine Lüge. Er wußte wirklich nicht mehr, was ihn in dieser kalten, nebelgetränkten Nacht zu der alten Brücke getrieben hatte. Das heißt, er wußte es schon, aber er wollte sich nicht daran erinnern. Nicht, solange das Mädchen da war, denn er wollte nicht, daß sie es in seinen Augen lesen konnte.
„Vielleicht wollte ich auch nur den Stimmen des Flusses lauschen.“
Mit Schaudern erinnerte er sich daran, wie er geglaubt hatte seinen Namen aus den Tiefen gehört zu haben.
„Ja, sie sind wunderschön.“
Tamis Stimme war lieblich und klar. Danny mochte sie vom ersten Augenblick an.
„Wenn es Nacht wird, erzählt der Fluß Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, wußten Sie das, Danny?“
„Der Fluß ist alt“, antwortete er fast augenblicklich. Noch im gleichen Moment wunderte er sich über seine eigenen Worte.
„Er kennt viele Geschichten. Tausende und Abertausende. Aus alten Zeiten und fernen Welten.“
Waren das wirklich seine Worte? Die Worte von Danny Michaels?
Tami blickte ihn an, und jetzt war ihr Gesicht so wunderschön wie die Nacht selbst.
„Aber er erzählt sie nur nachts“, flüsterte sie. „Und nur ganz besonderen Menschen.“
Mit diesen Worten schwiegen sie für eine Weile. Tami blickte gedankenverloren in die Tiefe hinab und lauschte den alten Geschichten des Flusses. Während Danny das Mädchen betrachtete und sich fragte, welche Geschichte sie hier oben auf der Brücke zusammengeführt hatte.
Im Osten färbte sich der Horizont bereits grau. Der Kampf der Nacht mit den `falschen Stimmen´ des Tages – wie sie Tami bezeichnet hatte – hatte begonnen.
„Haben Sie Kinder, Danny?“ fragte das Mädchen plötzlich, ohne ihn dabei anzusehen.
„Ich habe zwei Jungen“, sagte Danny leise und spürte im gleichen Augenblick, wie seine Stimme brach.
„Todd und Daniel. Aber sie leben bei ihrer Mutter.“
Jetzt sah das Mädchen ihn an. Ihr Gesicht wirkte ernst.
„Dann haben Sie sie wohl schon lange nicht mehr gesehen.“
Danny schüttelte den Kopf. Ein bitterer Kloß stieg in seinem Hals auf.
„Nein. Schon seit zwei Monaten nicht mehr. Es ist mir verboten worden.“
Tami nickte leicht, als könnte sie Dannys Geschichte verstehen. Doch er bezweifelte, daß ein dreizehnjähriges Mädchen derartige Geschichten begreifen konnte.
„Sie lieben Ihre Kinder, nicht wahr? Wie alt sind Todd und Daniel?“
Es war seltsam. Danny hatte das Mädchen vor weniger als zwanzig Minuten erst kennengelernt. Mitten in der Nacht, auf einer einsamen Brücke. Und doch kam es ihm völlig natürlich vor, mit ihr über Dinge zu sprechen, die ihm das Herz zerrissen und jeglichen Mut zum Leben geraubt hatten.
Dinge, die ihn hierher, auf die alte Brücke getrieben hatten.
„Todd und Daniel sind Zwillinge. Sie werden jetzt zehn Jahre alt.“
„Ich glaube, das ist schlimm, wenn man seine Kinder nicht mehr sehen darf.“
Als Danny Tamis traurige und leise Stimme hörte, spürte er, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Denn ihre Worte waren seine Gedanken, die ihn in den letzten Wochen vernichtet hatten und so unsäglich tiefe Wunden in seiner Seele hinterlassen hatten.
„Sind Sie deshalb hierher gekommen, Danny? Um ihre Geschichte dem alten Fluß anzuvertrauen?“
Danny schüttelte fast automatisch den Kopf, während er sich die Träne wegwischte.
„Nein...ich...“
Seine Stimme brach, und er starrte in die Nacht jenseits der Brücke. Er war nicht fähig seine Gedanken in Worte zu kleiden.
Der graue Streifen am Horizont wurde zunehmend breiter und heller.
„Es ist nichts schlimmes, seine Geschichte jemandem zu erzählen, der zuhören kann“, fuhr Tami mit einem Flüstern fort.
„Und der alte Fluß kann ewig zuhören.“
Danny fuhr sich über die Augen. Das Mädchen hatte mit seinen Worten alte Wunden wieder aufgerissen, hatte ihm allerdings gleichzeitig gezeigt, wie sehr er den Grund für diese Male liebte. Er selbst hatte es nie begriffen, seine eigenen Gedanken hatten diese Liebe nicht aufzudecken vermocht. Erst die Worte dieses Mädchens hatte ihn in die wirkliche Welt zurückgezogen. Worte, die mehr bewirkt hatten, als seine eigenen, in Mitleid suhlenden Gedanken.
„Was ist mit Deinen Eltern?“ fragte er mit brechender Stimme.
Das Mädchen reagierte nicht. Ihr langes, blondes Haar wehte im kalten Nachtwind, ihr Blick konzentrierte sich auf die Dunkelheit unter der Brücke.
„Wissen sie, daß Du hier bist?“
Tami sah ihn an, während sie mit einer Hand das Haar aus ihrem Gesicht strich.
„Sie wissen, daß ich hier bin. Glauben Sie mir, Danny, sie wissen es.“
„Und...“
Danny suchte nach den richtigen Worten.
„...werden sie Dich nicht suchen? Ich meine...Du bist gerade mal dreizehn Jahre alt.“
„Zwölf. Ich bin erst zwölf.“
Tami lächelte ihn an, dann versank ihr Blick wieder in der Nacht.
„Sie suchen mich nicht, Danny. Sie wissen, daß ich hier bin.“
Plötzlich wurde ihr Gesicht wieder traurig.
„Sie haben es immer gewußt.“
Danny bemerkte die Resignation in der Stimme des Mädchens. Er rieb sich erneut über die Augen und spürte die alte, unnachgiebige Müdigkeit hinter den Lidern. Die Müdigkeit zum Leben.
Als er in die Ferne blickte, über die Dächer der Stadt, sah er die ersten vereinzelten Lichter wie Diamanten in der Nacht funkeln. Der Tag erwachte, und mit ihm würden wieder die falschen Stimmen erwachen.
Er dachte an Todd und Daniel, dachte an die Streitereien mit Darleen, der Frau, bei der sie lebten und die einmal seine große Liebe gewesen war.
Er dachte an die verzweifelten Abende, an denen er still im dunklen Zimmer gesessen hatte, mit Tränen in den Augen und einem Brandyglas in der Hand.
Er dachte an all den Schmerz, der ihn gezeichnet hatte, dachte an die Trauer um seine Söhne, die ihn um den Verstand gebracht und der Realität immer mehr entrissen hatte.
Und er dachte an seinen Entschluß, in einer kalten und nebligen Herbstnacht zur alten Brücke zu gehen...und seine Geschichte dem alten Fluß anzuvertrauen.
Das Mädchen hatte ihn wieder aus seinen düsteren und schweren Gedanken gerissen und ihm die Wirklichkeit gezeigt. Die unschuldige und unwissende Stimme eines fremden Mädchens in der Nacht...sie hatte ihn davor bewahrt, nicht nur seine Geschichte den rauschenden Wellen tief unter der Brücke anzuvertrauen.
„Tami, ich muß Dir etwas erzählen“, begann er, weil er dachte, daß das Mädchen sich ein Recht erworben hatte, die Wahrheit über Danny zu erfahren.
Er wandte sich dem Mädchen zu...doch Tami war verschwunden !
Danny stieß sich vom Geländer ab. Er rannte auf die Straße, drehte sich einmal um sich selbst und durchsuchte den frühen Morgen mit seinen Blicken.
Doch die Dunkelheit um ihn herum war wieder einsam, lediglich der Nebel umhüllte ihn wie ein wallendes Tuch.
Danny war alleine auf der alten Brücke, das Mädchen war fort.
*
Danny hatte sich in jener Nacht nicht dem Fluß anvertraut. Und er hatte ihm auch nicht seine Geschichte erzählt.
Statt dessen kam er am nächsten Abend zur Brücke zurück.
Er stellte sich auf den selben Platz, an dem er in der Nacht zuvor gestanden hatte.
In Händen hielt er eine rote Rose.
„Für Dich, kleine Tami“, flüsterte er leise, küßte die Blüte und warf sie den silbernen Perlen des Flusses entgegen.
Er sah zu, wie sie in der Dunkelheit verschwand und schließlich mit den Wellen fortgetragen wurde.
Von irgendwo her, tief unter dem Rauschen des Flusses, glaubte Danny ein sanftes Wispern zu hören.
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht; er schlug den Kragen seines Mantels hoch und lauschte bis spät in die Nacht der Geschichte, die Tami ihm erzählte.