Das Mädchen am Straßenrand
Das Mädchen am Straßenrand (Version eins)
Ich war auf dem Nach-Hause-Weg, als ich auf dem Bürgersteig ein junges Mädchen sitzen sah, vielleicht achtzehn bis zwanzig Jahre alt, sehr hübsch, lange blonde Haare. Sie hockte traurig und apathisch da, hatte vor sich ein kleines Körbchen, in dem einige Cent-Stücke lagen. Ich ging an ihr vorbei.
Mein Schritt wurde langsamer. Ich blieb nachdenklich stehen und dachte an die Großzügigkeit meiner früheren Freundin, die im Urlaub den Straßenmusikern öfter mal ein Geldstück in den Hut warf. Ich sah in meinem Portemonnaie nach und fand ein Zwei-Euro-Stück. Warum sollte ich das einem fremden Menschen geben? Aber warum eigentlich nicht? Deswegen werde ich nicht verarmen.
Ich ging zurück zu dem Mädchen, das immer noch teilnahmslos auf dem Boden hockte, sagte kurz „hallo“, damit sie mich bemerkte. Dann drückte ich ihr das Geldstück in die Hand.
Und was ich nicht für möglich gehalten hätte: Ihr Gesichtsausdruck änderte sich von einer Sekunde auf die andere. Sie strahlte mich an, lächelte. Was für wunderbare Augen sie hatte! Ich sah sie nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ja, das war echt: Eine Hollywood-Schauspielerin müsste tagelang üben, um so ein Lächeln hervorzubringen! „Ich wünsche noch einen ganz schönen Tag“, sagte sie.
Ich war verwirrt, ging schnell weiter. Was mochte sie empfinden. War es einzig das Geld, wovon sie sich jetzt vielleicht gerade mal ein Brötchen und eine Dose Cola kaufen konnte, war es die Aufmerksamkeit, die ihr ein fremder Mensch zuteil werden ließ?
Dieses Mädchen ging mir nicht aus dem Sinn. Warum habe ich mich nicht zu ihr niedergekniet und mit ihr gesprochen? Werde ich sie wiedersehen? Möchte ich das überhaupt? Was ist ihre Geschichte? Warum ist ein so hübsches junges Mädchen in so eine Situation geraten? Würde sie es mir das nächste Mal erzählen? Oder wäre ihr das unangenehm? Und will ich sie überhaupt wiedersehen? Bin ich etwa egoistisch, weil ich damit meine eigene Einsamkeit verdrängen will? Ist sie auch einsam, und würde sie sich freuen, mich wiederzusehen? Die ganze Szene spielte sich doch nur innerhalb einer Sekunde ab!
Es gibt viele Fragen, die ich mir stelle. Vielleicht stellt sie sich ja auch einige davon.
Aber eines weiß ich: Dieses Lächeln, das sie mir geschenkt hat und die Freude, die sie empfunden hat, sind die zwei Euro allemal wert.
- - - - - - - - - - - - - - - - -
Das Mädchen am Straßenrand (Version zwei)
Ich war auf dem Nach-Hause-Weg, als ich auf dem Bürgersteig ein junges Mädchen sitzen sah, vielleicht achtzehn bis zwanzig Jahre alt, sehr hübsch, lange blonde Haare. Sie hockte traurig und apathisch da, hatte vor sich ein kleines Körbchen, in dem einige Cent-Stücke lagen. Ich ging an ihr vorbei.
Mein Schritt wurde langsamer. Ich blieb nachdenklich stehen. Irgendwie gefiel mir dieses Mädchen, auch wenn sie auf den ersten Blick etwas heruntergekommen aussah. Ich sah in meinem Portemonnaie nach und fand ein Zwei-Euro-Stück. Warum sollte ich ihr das nicht geben? Vielleicht kann ich auf diese Weise einen Kontakt zu ihr knüpfen.
Ich ging zurück zu dem Mädchen, das immer noch teilnahmslos am Boden hockte und sagte kurz „hallo“, damit sie mich bemerkte. Dann beugte ich mich zu ihr hinunter und drückte ihr das Geldstück in die Hand. Sie sah mir in die Augen und lächelte dabei. Was für wunderhübsche blaue Augen sie hatte, und was für einen so süßen Mund! Beim ersten Vorübergehen war mir das gar nicht aufgefallen. Ich kniete mich nun zu ihr hinunter und fragte, wie sie heißt: „Angie“, sagte sie, „Und wie heißt du?“. Ich nannte ihr meinen Namen. Sie erzählte mir von den Problemen mit ihrer Mutter und mit dem Sozialamt, das die Unterstützung gekürzt habe. Deshalb sehe sie nun keinen anderen Ausweg, als zu betteln. Während sie sprach, strahlten mich ihre Augen die ganze Zeit an. So hübsche Augen hatte ich noch nie gesehen. Wenn ich diese junge Frau in einer andrer Situation kennen gelernt hätte, dann hätte ich mich sofort in sie verlieben können. Mit meinem Zeigefinger strich ich sanft über ihren Handrücken. „Ich bringe dir morgen einen Saft und ein Brötchen mit“, versprach ich und schaute ihr dabei tief in die Augen, „magst du das?“ Sie nickte stumm und lächelte. „Dann bis morgen, Angie“, sagte ich und erhob mich lansam. „Ich wünsche dir noch einen schönen Tag“, rief sie mir hinterher.