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Das Loch
Als ich zehn oder elf Jahre alt war, kauften mir meine Eltern einen Hamster. Ich nannte ihn Jim, und sein Käfig stand bei mir im Zimmer. Er hatte ein kleines Häuschen und ein Laufrad, das er bevorzugt nachts benutzte.
Anfangs habe ich mich fürsorglich um ihn gekümmert, doch nach einiger Zeit störte mich das Geräusch des Laufrads in der Nacht. Da es in meinem Zimmer einen Zugang zu unserem Speicher gab, habe ich den Käfig nachts immer nach oben unter das Dach gestellt. Morgens holte ich den Käfig zurück in mein Zimmer, und abends brachte ich ihn wieder nach oben in den Speicher. So ging das eine Weile. Bis ich Jim eines Tages dort oben vergaß.
Es fiel mir erst ein, als ich mit meinem besten Freund und seinen Eltern sonntags in einem Tierpark war. Irgendwann fragte mich mein Freund, wie es Jim gehe – da fiel mir mit Schrecken ein, dass ich Jim seit knapp einer Woche auf dem Speicher stehen hatte.
Den restlichen Tag verbrachte ich in quälender Ungewissheit. Es war Sommer, brütend heiß, und ich fragte mich, ob es Jim noch gut ging – ob er genug Wasser hatte, genug zu fressen. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit abends wieder nach Hause kam, rannte ich sofort nach oben auf den Speicher.
Schon beim Öffnen der Tür schlug mir der Verwesungsgeruch entgegen. In Romanen wird er gern als süßlich bezeichnet, doch für mich roch er scharf, durchdrang meinen Körper, schien direkt mein Herz zu greifen und es zusammenzudrücken. Ich wollte nicht glauben, dass dieser Geruch von dem kleinen Fellknäuel ausging, sondern bildete mir ein, der Leibhaftige persönlich hätte ihn hinterlassen, nachdem er auf dem Speicher erschienen und sich meinen Jim geholt hatte.
Dieser Sommertag war ein prägendes Erlebnis in meiner Jugend, denn es war das erste Mal, dass ich mir Sorgen um jemanden machte. Dass ich mich schuldig fühlte.
Nun lastet seit über zehn Jahren eine weit größere Schuld auf mir, und es quält mich eine tiefer sitzende Ungewissheit. Während ich in den letzten Jahren durch die Hölle ging, musste ich immer wieder an Jim zurückdenken – als hätte er damals durch seinen Tod versucht, mich auf die grauenhaften Ereignisse in meiner Zukunft vorzubereiten.
Ungewissheit und Schuld. Sie plagen mich. Sie verfolgen mich.
Und sie sind der Grund, warum ich nach so langer Zeit wieder dahin zurückkehre, wo alles geschah.
An den Ort, der das Loch genannt wird.
Es dämmerte bereits, als der Wagen das Ortsschild des kleinen Dorfes in den französischen Alpen passierte.
„Es ist jetzt nicht mehr weit“, sagte Michael.
Sven, der hinter dem Steuer saß, nickte.
Eine Weile fuhren sie schweigend geradeaus. Michael ließ seinen Blick über die Straßen und Häuser schweifen, doch ihm kam nichts bekannt vor.
„Hat sich einiges geändert hier“, sagte er. „Seit ich das letzte Mal hier war. Damals, im Winter 1980.“
Sven nickte erneut. Er kannte die Geschichte. „Und du bist dir sicher, dass du es durchziehen kannst?“
Michael stieß ein trockenes Lachen aus. „Ich bin sicher, dass ich es durchziehen muss. Es ist das Einzige, das noch Sinn in meinem Leben macht. Denkst du, da geb ich jetzt auf?“
„So war das nicht gemeint. Wir können gerne zu dem Haus fahren. Wir können es uns gerne ansehen. Aber willst du es wirklich komplett durchziehen?“
Michael antwortete nicht. Er hatte keine Zweifel an seinem Plan, und das wusste auch Sven. Schließlich war dieser Plan der einzige Grund für ihre Freundschaft.
„Da hinten musst du links abbiegen“, sagte Michael nach einem Blick auf die Karte. „Dann geht es ein Stück den Berg hoch. Am Ende der Straße kommt dann das Haus.“
Er war weder nervös noch aufgeregt. Seine Hände zitterten nicht, und seine Stimme klang wie immer. Zu seiner großen Überraschung stellte er fest, dass er beinahe froh war, endlich wieder hier zu sein.
Conny entdeckte das Loch am Tag unserer Ankunft.
Sie war gerade dabei, unsere Skier und Stiefel in den Keller des Hauses zu bringen, während ich die Koffer aus dem Auto lud. Die Kinder sprangen draußen im Schnee herum. In Stuttgart hatten wir zwar auch jeden Winter Schnee, aber nicht solche Mengen wie in den Alpen.
„Was habt ihr denn da für eine Falltür im Keller?“, fragte sie, als sie keuchend und mit leicht gerötetem Gesicht von unten kam.
Herbert blickte vom Kamin zu ihr auf. „Das ist eine Vorratskammer“, antwortete er. „Wird aber schon lange nicht mehr benutzt.“ Dann machte er sich wieder daran, ein Feuer anzuzünden.
Es war das erste Mal, dass wir unseren Winterurlaub mit Herbert und Renate in Frankreich verbrachten. Herbert war ein Arbeitskollege von mir, und seine Großmutter war in diesem Haus zur Welt gekommen und mit vier Schwestern dort aufgewachsen. Es befand sich noch immer im Besitz der Familie, doch niemand wohnte dauerhaft darin. Herbert und Renate verbrachten jedes Jahr ihren Winter- und Sommerurlaub dort, und da Herbert wusste, dass ich Philipp und Alexander das Skifahren beibringen wollte, hatte er mich eingeladen. Da konnte ich natürlich nicht ablehnen.
„Sieht eher aus wie eine Geheimkammer“, sagte Conny und schnappte sich das nächste Paar Skier. Ich selbst nahm zwei Stiefel und begleitete sie in den Keller.
Als ich die in den Boden eingelassene Holzplatte sah, die zu einem noch tiefer liegenden Raum führte, wusste ich, was meine Frau meinte: Der Eingang zu der Vorratskammer fügte sich nahtlos in den Kellerboden ein. Hätte ein Teppich darüber gelegen, hätte man nichts von seiner Existenz gewusst. Die Holzplatte hatte einen Griff, um sie anzuheben, und einen Bolzen, um sie zu verschließen. Wenn der Bolzen vorgeschoben war – so wie jetzt – war es unmöglich, sie von unten zu öffnen.
Der Keller war kühl und leicht modrig.
„Ich wusste gar nicht, dass die Häuser hier einen doppelten Keller haben“, sagte Conny mit einem Blick auf die Falltür.
„Haben vermutlich auch nicht alle“, antwortete ich. „Ich schätze, der wurde nachträglich eingebaut.“
Neugierig trat ich an die Tür, bückte mich und entriegelte sie.
„Lass doch, Michael“, sagte Conny, als hätte sie schon damals ein schlechtes Gefühl gehabt.
„Ich will nur mal schauen, was drunter ist.“ Ich hob die Tür an. Abgestandene Luft kam mir entgegen, in die sich ein leicht fauliger Geruch mischte. Ich verzog das Gesicht.
„Was ist?“, fragte Conny.
„Riecht irgendwie komisch.“
Sie trat heran und wedelte mit einer Hand vor dem Gesicht herum. „Du hast Recht. Wenn da noch Vorräte unten sind, sind die längst verschimmelt. Komm, mach das wieder zu.“
Doch ich war neugierig geworden. Acht Stufen aus Stein führten in den darunter liegenden Raum. Vorsichtig ging ich nach unten. Der Raum war etwa zwei auf vier Meter groß, wirkte aber bedeutend kleiner, da er nur knapp zwei Meter hoch war. Der Boden und die Wände waren aus Lehm. Es gab kein eigenes Licht, und durch den schwachen Schein aus dem oberen Raum sah ich zwei Holzregale. Ansonsten war der Raum leer.
Der faulige Geruch wurde intensiver. Der Raum machte trotz – oder gerade wegen – seiner Leere einen verwahrlosten Eindruck. Ich vermutete, hier unten war seit Jahren kein Mensch gewesen. Ich ging wieder nach oben.
„Da ist wirklich nichts mehr unten.“
Ich ließ die Holztür wieder auf den Eingang fallen und schob den Bolzen vor.
„Komm, holen wir die restlichen Skier.“
Die ersten Tage waren sehr schön.
Wir verbrachten tagsüber viel Zeit auf der Skipiste, und abends kochten wir gemeinsam, saßen am Kaminfeuer und spielten mit den Kindern Karten- oder Würfelspiele.
Doch am vierten oder fünften Abend änderte sich alles. An diesem Abend brachte ich die Kinder früher als sonst ins Bett, da beide schon müde waren. Wie immer deckte ich sie zu, legte ihnen ihr jeweiliges Lieblingskuscheltier neben den Kopf und gab ihnen einen Kuss auf die Stirn.
„Schlaft gut“, sagte ich. Dann löschte ich das Licht und lehnte die Tür an.
Heute wünschte ich, ich hätte noch einmal zu ihnen zurück geschaut. Hätte mir ihre Gesichter besser eingeprägt. Hätte mir gemerkt, wie sich meine Lippen auf ihrer Haut anfühlten. Wenn ich mir diesen Moment heute ins Gedächtnis zurückrufe, kann ich mich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Macht mich das zu einem schlechten Vater?
Ich weiß noch, dass meine Lippen ihre Stirn berührten, doch wenn ich heute daran denke, fühlen sie sich an wie totes Fleisch. Wenn ich in meiner Erinnerung zu ihnen zurück schaue, sehe ich zwei Gesichter, die nicht meinen Kindern gehören. Stattdessen sind es die kalten, leblosen Gesichter von Puppen, die ausdruckslos und mit glasigen Augen zur Decke starren.
Als Sven vor dem Haus hielt und den Motor ausschaltete, saßen beide Männer eine Weile schweigend nebeneinander.
„Was machen wir, wenn jemand da ist?“, fragte Sven.
„Dann lassen wir uns was einfallen. Warten vielleicht, bis sie schlafen. Sieht aber nicht danach aus.“
Michael blickte auf das Haus. Die Fenster waren dunkel, einige der Rollläden hinunter gezogen.
Er hatte das Haus größer und dunkler in Erinnerung. Die Fassade wirkte trotz der Dämmerung hell, der Vorgarten mit seinen Pflanzen und Büschen beinahe einladend.
Er fühlte eine innere Leere, die ihn enttäuschte. In seinen Träumen und Vorstellungen hatte sich das Haus über die Jahre zu einem furchteinflößenden Hort des Grauens gewandelt, und dieses Bild wurde nun durch das unscheinbare Äußere auf brutale Weise zerstört. Das Haus schien ihn regelrecht zu verhöhnen, sich über seine unzähligen Albträume und Ängste lustig zu machen.
„Gehen wir rein“, sagte er nach einer Weile, und sie stiegen aus.
Es roch nach frisch gemähtem Gras, und irgendwo in der Ferne hörten sie das Lachen von Kindern. In ihrer Nähe jedoch befand sich kein Mensch.
Über die Terrassentür auf der hinteren Seite des Hauses verschafften sie sich Zutritt. Sie gelangten in das große Wohnzimmer. Die Möbel waren nicht mehr dieselben wie damals – schweres, dunkles Holz hatte Designerstücken Platz machen müssen – doch endlich entdeckte Michael etwas, das ihn an damals erinnerte.
„Der Kamin“, sagte er und deutete auf die Feuerstelle, die nicht so aussah, als sei sie in den letzten Jahren benutzt worden. „Da haben wir abends immer gesessen. Und dort hat uns Herbert die Geschichte von Helene erzählt.“
Sven brummte etwas. Er wusste über Helene Bescheid, und Michael sprach mehr zu sich selbst, als er sich an jenen verhängnisvollen Abend erinnerte.
„Helene“, sagte er mit tonloser Stimme. „Sie war die Erste, die unten im Loch verschwunden ist.“
„War das hier früher mal ein Bauernhof?“, wollte Conny von Herbert wissen.
Es war bereits spät am Abend, und wir saßen gemeinsam bei einem letzten Glas Wein am Kamin.
Herbert nippte an seinem Glas. „Ja. Es gab Rinder, Hühner und ich glaube auch ein paar Schweine. Außerdem eine Scheune, aber die ist irgendwann abgebrannt.“
„Muss recht langweilig gewesen sein, in der Öde hier aufzuwachsen.“
Herbert zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich schätze, bei vier Mädchen war hier immer was los.“
„Hast du nicht mal gesagt, dass sie zu fünft waren?“ Das kam von mir. Ich hatte mir das gemerkt, weil ich mir kaum vorstellen konnte, als Familienvater fünf Töchter groß zu ziehen.
Herbert zögerte kurz. „Ja, stimmt. Anfangs waren sie zu fünft. Aber als meine Großmutter acht oder neun Jahre alt war, starb eine ihrer Schwestern.“
Jetzt richtete sich Conny auf. „Echt? Was ist passiert?“
„Oh bitte, nicht wieder die alte Geschichte“, stöhnte Renate. „Ich finde, es ist jetzt Zeit, ins Bett zu gehen.“
„Lass mal“, sagte Herbert und legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. Dann wandte er sich an Conny. „Meine Großmutter hat nicht viel aus ihrer Kindheit erzählt, aber wenn sie von etwas geredet hat, dann meist von ihrem Vater. Und davon, wie streng er gewesen ist.“
Das interessierte mich, und ich konnte beinahe fühlen, wie die Müdigkeit aus meinem Körper wich.
„Er muss ein richtiger Tyrann gewesen sein. Hat die Mädchen ständig zu schweren Arbeiten auf dem Bauernhof gezwungen, und wenn sie nicht gefolgt oder ihre Arbeit nicht ordentlich gemacht haben, hat er sie mit einem Gürtel geschlagen. Manchmal hat er das wohl auch einfach so getan.“
„Oh je, das ist ja schrecklich.“ Conny wirkte erschüttert.
„Zu der Zeit war das ganz normal“, sagte ich und erntete dafür einen bösen Blick.
Herbert fuhr fort: „Der Gürtel war nur eine Form der Strafe. Meine Großmutter hat mir erzählt, dass sie sich davor nicht so sehr gefürchtet hat. Sie meinte, an die körperlichen Schmerzen hätte sie sich irgendwann gewöhnt. Es gab aber noch eine andere Strafe, vor der sie – wie ihre Schwestern – regelrecht Panik hatte.“
Ein Holzscheit knackte im Feuer, und Conny zuckte zusammen.
„Er hat sie nach unten in den Keller geschickt. Nicht in den normalen Kellerraum, sondern in den Raum unter dem Keller. In den Vorratskeller.“
Ich erinnerte mich an die stickige Luft und den Geruch da unten und bekam bei der Vorstellung, dort eingesperrt zu sein, eine Gänsehaut.
„Die Mädchen nannten diesen Raum irgendwann nur noch le cachot, was soviel heißt wie das Verlies. Als meine Großmutter mir davon erzählte, sagte sie aber immer nur das Loch dazu. 'Er hat uns ins Loch geschickt', so hat sie sich ausgedrückt.“
„Nicht zu fassen“, sagte ich.
„Er hat die Holzklappe aber nicht abgesperrt. So grausam war er dann doch nicht. Schließlich gibts da unten kein Licht oder so. Er hat aber immer gesagt, wenn sie früher als erlaubt von selbst hoch kommen, würde er sie da unten einsperren. Und das hat sich keine von ihnen getraut.“
Herbert trank mit einem großen Schluck sein Glas leer.
„Meine Großmutter musste auch einige Male ins Loch. Sie war die Mittlere von den Fünf. Sie hat gesagt, im Gegensatz zu den Schmerzen der Gürtelschläge konnte man sich an die Angst im Loch nie gewöhnen. Deshalb hatten sie alle eine solche Panik davor. Weil sie da unten in völliger Dunkelheit praktisch ihren Albträumen überlassen wurden. Und die sind vor allem bei kleinen Kindern schlimmer als ein paar Schläge mit dem Gürtel.“
In Connys Gesicht sah ich ungläubiges Staunen.
„Jedenfalls hat es eines der Mädchen doch mal gewagt, von allein aus dem Loch zu kommen. Es war Helene, die Älteste. Das war irgendwann im Winter, und der Rest der Familie saß gerade beim Abendessen, als sie kreidebleich aus dem Keller kam. Ihr Vater ist total ausgerastet, hat sie angeschrien, wie sie es wagen könnte, aus dem Keller zu kommen. 'Da unten ist noch jemand, Papa', hat sie geantwortet. 'Da war noch jemand mit mir im Loch.'“
Bei diesen Worten stellte sich jedes einzelne Härchen meiner Arme auf.
„Da ist ihr Vater nur noch wütender geworden. Er hat sie gepackt und wieder ins Loch gebracht. Dann hat er die Klappe geschlossen und verriegelt.“
„War da unten noch jemand?“, fragte Conny.
Herbert schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Wie denn auch? Jedenfalls kam der Vater wieder nach oben, und während sie aßen, hörten sie Helenes Schreie aus dem Keller. Sie schlug immer wieder gegen die Klappe. Und dann auf einmal war alles ruhig.“
Herbert zögerte einen Augenblick, wie um die Stille zu verdeutlichen.
„Nach einiger Zeit ging ihr Vater nach unten und öffnete die Klappe. Aber Helene war nicht mehr da unten.“
„Was?“, fragte Conny mit aufgerissenen Augen.
Herbert schüttelte den Kopf. „Das Loch war leer. Es gab keine Spur mehr von ihr. Sie ist nie wieder aufgetaucht.“
Einen Moment lang sprach niemand ein Wort.
„Das gibt’s doch gar nicht“, sagte ich schließlich. „Ist das wirklich passiert?“
„So hat mir meine Großmutter diese Geschichte erzählt.“
„Aber du glaubst doch selbst nicht ein Wort davon“, fiel ihm Renate ins Wort. „Warum musst du immer diese gruseligen Geschichten erzählen? Wahrscheinlich ist das arme Kind damals einfach vor dem Vater davongelaufen.“
„Ja, das ist auch eine Möglichkeit“, gab Herbert zu. „Das war auch die Geschichte, die sie der Polizei erzählt haben.“
„So wird es auch gewesen sein“, sagte Renate mit Nachdruck. „Und jetzt hör auf, den beiden Angst zu machen.“
Kurze Zeit später gingen wir ins Bett, und wenige Minuten später war ich eingeschlafen, ohne noch einmal an Helene zu denken.
Irgendwann rüttelte mich Conny.
„Michael“, flüsterte sie. „Michael, wach auf.“
Ich schlug die Augen auf. Sie hatte sich über mich gebeugt und die Nachttischlampe eingeschaltet.
„Was?“, fragte ich schlaftrunken.
Mit großen Augen blickte sie mich an. „Da stimmt was nicht. Da ist jemand im Keller.“
Ich musste mich zunächst orientieren. „Was soll sein?“
„Da ist jemand im Keller“, wiederholte sie aufgeregt. Ihr Gesicht war kreidebleich. „Ich wollte mir gerade einen Schluck Wasser holen, da hab ich Geräusche gehört. Irgendwas ist da unten.“
Ich richtete mich auf. „Was für Geräusche?“
„Ich weiß nicht. Schritte. Ein Klappern. Ich glaube, da ist jemand unten.“
Ich stieg aus dem Bett. „Hast du nach den Kindern geschaut?“
„Ja, die schlafen. Vielleicht ist es Herbert oder Renate. Ich hab nicht geschaut.“
„Was sollen die mitten in der Nacht im Keller machen?“
„Keine Ahnung. Sollen wir sie wecken?“
Ich dachte nach. „Nein, warte mal. Ich schau selbst nach.“ Ich wollte unsere Gastgeber nicht verrückt machen, nur weil meine Frau mitten in der Nacht vielleicht etwas im Keller gehört hatte.
Mit leisen Schritten schlich ich durch den Flur, vorbei an der angelehnten Tür meiner Söhne. Dann ging ich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und blieb vor der Kellertür stehen. Lauschte.
„Ich höre nichts“, flüsterte ich zu Conny, die dicht hinter mir war.
„Ich bin mir sicher, dass da was war.“
Ich legte meine Hand auf den Griff der Kellertür. „Warte“, zischte Conny. „Was hast du vor?“
„Ich gehe nach unten und schau nach.“
„Tu das nicht. Was, wenn Einbrecher da unten sind?“
Ich versuchte ein Lächeln, doch auch ich war inzwischen nervös. „Was sollen die denn im Keller machen? Die wären wohl eher hier oben, oder?“
Conny stand so dicht hinter mir, dass ich ihren heißen Atem spüren konnte. Ich versuchte sie zu beruhigen: „Da ist bestimmt nichts. Du hast nur das alte Holz gehört. Aber ich schau zur Sicherheit nach, in Ordnung?“
„Sei bitte vorsichtig.“
„Klar“, antwortete ich und öffnete die Kellertür. Ich ging die Treppe runter und bemühte mich immer noch, leise zu sein. Ich war mir sicher, da unten nichts anzutreffen, doch auch ich würde nach einem kurzen Blick wieder beruhigter schlafen können.
Ich betrat den Raum, in dem unsere Skier standen und schaltete das Licht an.
Mein Blick wanderte zum Boden. Zum Loch. Ich sah es sofort.
Die Klappe stand offen.
Eiskalte Schauer jagten über meinen Rücken, und ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte. Diese Klappe war immer zu gewesen, bis auf den ersten Tag, als ich sie kurz geöffnet hatte.
Warum stand sie jetzt offen?
Ich wollte schlucken, doch mein Mund war zu trocken. Ich stand da wie erstarrt und wusste nicht, was ich tun sollte.
Mit langsamen Schritten näherte ich mich dem Loch. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und wenn ich in dem Moment nur einen Mucks gehört hätte, hätte ich vermutlich geschrien.
Schau nach, sagte ich mir. Ein kurzer Blick nur. Nur um sicher zu gehen.
Ich ging bis zur dritten Stufe in die Dunkelheit. Dann überkam mich ein Gefühl, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde. Es war, wie wenn man in einem dunklen Zimmer verzweifelt nach dem Lichtschalter tastet, wenn man immer wieder daneben greift und sich dabei vorstellt, dass man gleich ein Kichern hört ... oder eine eiskalte Hand fühlt, die sich um den Knöchel legt.
Absurd und unbegründet. Doch mit dem Licht verschwindet auch ein Teil unseres rationalen Verstandes, und die Dunkelheit lockt immer wieder unsere Urangst vor dem Unbekannten aus den hintersten Teilen unseres Bewusstseins hervor.
Ich stand auf der dritten Stufe und atmete flach.
Was, wenn Helene da unten sitzt?, fragte ich mich. Wenn sie all die Jahre das Loch nicht verlassen hat? Wenn sie jetzt, als alte und spindeldürre Gestalt, immer noch da unten in der Dunkelheit lauert und über den ersten herfällt, der das Loch betritt?
Ich hörte beinahe schon ihr Kichern, fühlte beinahe ihre Hände, die sich um meinen Hals legten.
Ich ging wieder nach oben, ohne einen Blick in den hinteren Teil des Lochs geworfen zu haben. Ich schloss die Klappe und verriegelte den Bolzen so leise, dass Conny es nicht hören konnte. Ich ging zur Tür zurück und wieder nach oben. Rannte beinahe.
„Wo warst du so lange?“, fragte Conny, als ich wieder oben war.
„Unten. Hab mich überall umgesehen. Da ist nichts.“
„Bist du sicher?“ Sie sah mich skeptisch an, und ich fragte mich, ob sie den Schrecken, der sich in meinem Verstand abgespielt hatte, in meinen Augen sehen konnte.
„Ja. Da ist nichts.“
Wir gingen wieder zurück ins Bett, und ich fragte mich, wer die Klappe geöffnet haben konnte. Auf das Offensichtliche kam ich jedoch nicht.
Michael nahm eines der gerahmten Fotos in die Hand, die auf dem Kaminsims standen. Es zeigte einen Jungen von vielleicht sechs Jahren, den er nicht kannte.
„Ich wünschte, man hätte sie irgendwann gefunden“, sagte er, ohne den Blick von dem unbekannten Jungen zu nehmen. „Das ist das Schlimmste von allem. Nicht zu wissen, was mit ihnen passiert ist. Diese Ungewissheit. Sie zermürbt einen.“
Sven nickte, ohne eine Antwort zu geben. Es gab nichts, was er hätte sagen können.
„Ich frage mich, wie ich so dumm sein konnte. Warum ich es so lange nicht gesehen habe. Ich hab den Zusammenhang erst Tage später verstanden. Da waren wir alle schon total fertig, vor allem Conny.“
Michael stellte das Bild zurück.
„Ich sag dir, was passiert ist. Ich hab ihre verdammte Tür nicht zugemacht. Sie haben zugehört, als Herbert die Geschichte über Helene erzählt hat. Ich sehe sie richtig vor mir, wie sie mit großen Augen im Bett liegen. Wie wahrscheinlich Philipp die Idee hat, runter zum Loch zu gehen. Vielleicht als Mutprobe, vielleicht aus Neugier, was weiß ich. Sie gehen runter ins Loch, und Conny hört sie.“
„Das ist nur eine Vermutung, Michael. So muss es nicht gewesen sein.“
„Es ist die einzige Möglichkeit. Ich bin sicher, so war es. Dann hören sie, wie ich nach unten komme und gehen in den hinteren Teil des Lochs. Machen sich einen Spaß draus. Und ich sehe sie nicht, weil ich zu feige war, ganz nach unten zu gehen. Vermutlich finden sie es sogar lustig, dass ich die Klappe zumache. Ist doch ein tolles Abenteuer, oder? Vielleicht denken sie, sie müssten nur laut genug klopfen oder schreien, damit wir sie wieder raus holen. Und wer weiß, vielleicht haben sie auch geschrien? Vielleicht haben sie gegen die Klappe gehauen, aber wir haben sie nicht gehört.“
Michael schwieg.
„Das ist nur eine Vermutung“, wiederholte Sven. „Du kannst nicht wissen, was damals passiert ist.“
Michael lächelte, doch er spürte, wie dabei sein Herz gefror. „Doch, ich weiß es. Seit zwanzig Jahren ist das in meinem Kopf. Es ist mehr als eine Vermutung, es ist eine Gewissheit. Ich habe meine Kinder auf dem Gewissen, weil ich die Klappe zugemacht habe.“
Er trat vom Kamin weg.
„Ich will wissen, was mit ihnen passiert ist. Wo sie jetzt sind.“
Er deutete auf die Kellertür. „Lass uns nach unten gehen.“
Bereits wenige Stunden, nachdem wir das Zimmer von Philipp und Alexander leer vorgefunden hatten, nahm die Polizei unsere Aussagen auf. Zu diesem Zeitpunkt weinte Conny bereits ununterbrochen, doch ich war noch einigermaßen gefasst. Ich erwähnte den Vorfall aus der Nacht zuvor – bis auf die offene Klappe. Das erschien mir nicht wichtig, weil meine Söhne zu dem Zeitpunkt noch in ihren Betten gelegen hatten.
Die Polizei konnte keine Spuren eines Einbruchs feststellen, durchsuchten aber dennoch das Haus von oben nach unten. Das hatten wir zuvor schon dreimal getan. Sie vermuteten, die Jungs seien abgehauen. Immer wieder wollten sie wissen, ob es einen Streit gegeben habe.
Suchmannschaften wurden gebildet und streiften über die verschneiten Felder und durch die Wälder der Umgebung. Selbst fremde Menschen aus dem Dorf beteiligten sich an der Suche.
Wir schliefen unregelmäßig und aßen kaum noch etwas. Wenn wir im Haus waren, starrten wir auf das Telefon, als könnten wir es allein durch unsere Blicke zum Läuten zwingen. Doch es gab keine Spur von unseren Söhnen. Nicht den kleinsten Anhaltspunkt.
Conny weinte beinahe ununterbrochen. Ein Arzt verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel, damit sie wenigstens ein paar Stunden pro Tag zum Schlafen kam.
Herbert und Renate verließen uns ein paar Tage später. „Vielleicht wäre es das Beste, ihr würdet mit uns fahren“, sagte Herbert an dem Morgen, als sie aufbrachen. „Sobald die Polizei hier was findet, könnt ihr doch sofort zurückkommen.“
Ich wollte ihm ins Gesicht brüllen, ob er sich überhaupt vorstellen konnte, was wir hier durchmachten. An den leeren Rücksitz während der Fahrt wollte ich nicht einmal denken.
„Das geht nicht“, antwortete ich stattdessen, „wir bleiben hier, bis wir was wissen.“
Herbert machte einen betretenen Gesichtsausdruck. „Du bist mir nicht böse, wenn wir fahren? Ich meine ... hier können wir nichts tun. Du verstehst das doch, oder?“
Ich nickte beiläufig. In Wirklichkeit war es mir egal, ob sie blieben oder verschwanden.
Dann gingen sie. Lebendig habe ich Herbert nie wieder gesehen, nur noch auf Fotos in Zeitungen.
Als Conny und ich eines Abends nach einem langen Tag und einer weiteren erfolglosen Suche erschöpft und übermüdet auf dem Sofa saßen, erzählte ich ihr von der offenen Klappe. Ich hatte in den vergangenen Tagen immer wieder daran denken müssen, und ich fühlte mich schuldig und elend, weil ich nicht nach unten gesehen hatte. Ich wusste, dass meine Kinder nicht unten gewesen sein konnten, doch leise Zweifel nagten immer wieder an mir. Ich brauchte eine Bestätigung von Conny, dass ich nichts Falsches getan hatte. Dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Ich wollte, dass sie mir Gewissheit gab, mich richtig verhalten zu haben.
Sie blickte mich mit großen Augen an. Blass, das Gesicht eingefallen. „Du hast nicht nachgesehen?“, sagte sie leise.
„Ich bin nicht bis ganz nach unten. Aber ich hätte sie gehört, wenn sie unten gewesen wären.“
In ihrem ohnehin sorgenvollen Gesicht erschien neuer Kummer. „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Weil ... weil ich es nicht wichtig fand. Du hast doch gesagt, sie liegen in ihrem Bett. Das stimmt doch, oder?“
„Du fandest es nicht wichtig?“
„Nicht in dem Moment. Du hast sie doch kurz davor in ihrem Bett gesehen, oder?“
„Ich glaube schon. Ich hab das Licht nicht angemacht, aber ihre Decken waren gewölbt. Es sah so aus, als wären sie drunter.“
Totenstille senkte sich zwischen uns. Meine Gedanken rasten. Vor meinem inneren Auge sah ich das Loch, die geöffnete Klappe und die Dunkelheit darin.
Meine Sorge verwandelte sich in kaltes, greifbares Entsetzen. Langsam dämmerte mir die Konsequenz von Connys Worten, doch in ihrem gesamten Grauen konnte ich sie noch nicht fassen.
„Hör zu, Conny, das ist extrem wichtig.“ Meine Stimme zitterte. „Hast du die beiden gesehen oder nicht?“
Ihr Mund bebte. Ich wollte sie anschreien, ja zu sagen und die Last von meinen Schultern zu nehmen.
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht mehr, Michael. Ich weiß es einfach nicht mehr.“ Tränen traten in ihre Augen. „Warum hast du nicht einfach in dieses verdammte Loch geschaut?“
Heftige Wut packte mich wie die tosende Brandung eines schwarzen Meeres. Ich klammerte mich daran, weil sie ein Ventil war, die Anspannung der vergangenen Tage loszuwerden. Und weil sie mich von der Erinnerung ablenkte, dass ich es war, der die Klappe des Lochs geschlossen hatte.
„Verdammt, ich hab mich auf dich verlassen. Warum denkst du, hab ich gefragt, wo die Kinder sind?“
Die nächste Welle meiner Wut erfasste mich. Ich spürte, wie ich mich hinein steigerte, mich treiben ließ. Sie war verführerisch und um so vieles besser als die Angst.
„Waren sie in ihrem Zimmer oder nicht?“
„Ich -“
„Waren sie in ihrem Zimmer oder nicht?“, brüllte ich. „Hast du nachgeschaut? Verdammte Scheiße, hast du nachgeschaut?“
„Ich weiß es nicht mehr.“
„Dann erinnere dich, verdammt noch mal!“ Ich nahm ein Glas, das vor mir auf dem Tisch stand, und schleuderte es gegen die Wand, wo es klirrend zerbrach.
Conny begann zu schluchzen und sprang auf.
„Du hättest doch einfach nur nachschauen müssen, du blöder Scheißkerl“, schrie sie.
In dem Moment, als wir uns gegenseitig am meisten gebraucht hätten, in dem schwersten Moment unserer Ehe und unseres gesamten Lebens, schrien wir uns an. Es war so unendlich traurig.
Conny rannte zur Kellertür und die Treppe hinunter. Ich folgte ihr. Sie sprang zu der Klappe im Boden und öffnete sie.
„Was tust du da? Was soll das?“
Ihr Gesicht war aufgequollen von den Tränen. „Ich schaue, ob sie da unten sind.“ Farbloser Rotz lief ihr aus der Nase. „Was du nicht getan hast. Ich schau jetzt nach.“
Es war absurd, doch sie stieg in das Loch hinunter. Die unbeschreibliche Sorge und Last der letzten Tage hatten ihren Verstand vernebelt. Sie irrte unten durch den winzigen Raum und schrie immer wieder die Namen unserer Söhne.
Wieder sah ich vor meinem inneren Auge, wie ich in jener Nacht auf der Treppe gestanden war. Wie ich Angst bekommen und sich Helene in meine Gedanken geschlichen hatte.
Waren Philipp und Alexander in diesem Augenblick nur drei Meter entfernt gewesen? Hatte ich sie da unten eingesperrt? Nicht weil ich feige gewesen war. Sondern weil meine Frau mir gesagt hatte, sie seien in ihrem Zimmer. Es war ihre Schuld. Ganz allein ihre Schuld.
Ich war außer mir vor Wut.
Aus einem Impuls heraus schlug ich die Klappe zu und verriegelte sie. Ich atmete schwer. „Wenn du denkst, sie sind da unten, dann bleib doch gleich bei ihnen“, brüllte ich. „Siehst du sie jetzt? Siehst du sie vielleicht jetzt da unten?“
Irgendwann begann Conny, von unten gegen die Klappe zu schlagen, doch sie hatte keine Chance. Mein Herz raste, und trotz des dämmrigen Kellerlichts nahm ich die Farben greller und bunter wahr als jemals zuvor. Zum ersten Mal in den letzten Tagen fühlte ich mich für einen Moment beinahe befreit.
Dann hörte ich gedämpft, wie Conny meinen Namen rief, und erst jetzt wurde mir bewusst, was ich getan hatte.
Plötzlich überschlug sich ihre Stimme. Sie wurde zu einem wilden Kreischen, als sie meinen Namen scheinbar unendlich in die Länge zog. Ihre Stimme wurde immer lauter und schriller, und es hörte sich an, als würden ihre Stimmbänder jeden Moment reißen. Auf einmal wurde sie leiser, aber nicht, weil ihre Stimme abnahm, sondern weil sie sich von der Klappe entfernte. Dann war sie still.
„Verfluchte Scheiße“, flüsterte ich und fingerte an dem Bolzen herum. Ich öffnete ihn und stieg nach unten.
Es ist schwer, zu beschreiben, was ich dort unten sah. Das Licht war sehr schwach, und ich konnte nur Schemen erkennen. Für einen kurzen Moment hatte ich den Eindruck, die hintere Wand wäre verschwunden. Ich hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, in einem winzigen Raum, sondern in einem Tunnel zu stehen.
„Conny“, rief ich, und der Schall verstärkte meinen Eindruck.
Ich machte ein paar Schritte nach vorne, als ich auf dem Boden eine kauernde Gestalt sah. Sie war klein, das weiß ich noch. In dem schwachen Licht wirkte sie dunkel, vielleicht schwarz oder grau. Ihre Haut war voller Runzeln, und sie hatte am ganzen Körper nicht ein Haar.
Ich blieb stehen, unfähig, mich zu bewegen oder zu schreien.
Dann drehte die Gestalt langsam ihren Kopf zu mir, und ich sah ihr Gesicht.
Ich habe niemals wieder etwas so Schreckliches gesehen. Der Körper war fremd und beängstigend, doch das Gesicht war mir nur allzu vertraut. Es war diese Mischung, die mir das Entsetzen in die Knochen jagte und mich zum Schreien brachte.
Dieses widerliche, stinkende Geschöpf hatte das Gesicht meiner Frau.
Wie der übrige Teil des Hauses wies auch der Keller keine Ähnlichkeit mehr mit früher auf. Michael fragte sich, ob das vielleicht nur an seiner Erinnerung lag. In den letzten zehn Jahren war er unzählige Male in diesem Raum gestanden – allerdings nur in seinen Gedanken und Träumen. Und darin ändern sich die Dinge manchmal.
Der Raum hatte jetzt Ähnlichkeit mit einem Hobbyraum. An der linken Wand stand eine Werkbank, an den Wänden hing Werkzeug. Das Licht kam ihm heller vor als früher. Bei dem Gedanken, dass jemand unbekümmert in diesem Raum arbeiten konnte, zog sich sein Magen zusammen.
„Jemand hat einen Teppich drüber gelegt“, sagte Michael und deutete auf den Boden. Sven bückte sich und zog den Läufer zurück. Darunter erschien die verriegelte Klappe.
Sven pfiff leise durch die Zähne. „Sie ist tatsächlich da“, sagte er.
„Was hast du gedacht? Dass ich alles nur erfunden hab?“
„Das nicht. Aber es hätte ja sein können, dass jemand dieses Loch inzwischen zugemauert hat. Nach allem, was da unten passiert ist.“
Michael lächelte schwach. „Als ob das jemals irgendwer geglaubt hat.“ Er blickte seinen Freund lange an. „Du glaubst mir, oder? Du denkst nicht, ich bin irgendein Spinner, der sich das alles nur ausgedacht hat.“
Sven zuckte mit den Achseln. „Ich glaube, was ich sehe. Aber ich bin kein Dummkopf. Im Gegensatz zu vielen anderen weiß ich, dass es auch Dinge gibt, die man nicht sehen kann. Und die vielleicht auch niemand sehen sollte.“
„Du musst es nicht sehen. Wir machen es wie abgesprochen.“
Michael hatte sich immer wieder gefragt, was er in diesem Moment fühlen würde. Was geht in einem Menschen vor, wenn er einen Augenblick erreicht, auf den er viele Jahre gewartet hat? Den er herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet hat? Süßer Triumph – oder nacktes Entsetzen? Zu seiner Überraschung fühlte er weder das Eine noch das Andere. Statt dessen war sein Kopf leer, und er spürte lediglich eine Art zufriedene Erschöpfung. Seine Gedanken waren endlich frei. Er war am Ziel angekommen, und sein Leidensweg würde in wenigen Schritten zu Ende gehen. So oder so.
Er entriegelte die Klappe und öffnete sie. Feuchte Luft und ein Geruch nach Moder schlug ihm entgegen.
Sven hielt die Nase über die Klappe. „Ich rieche nichts Fauliges.“
„Ich auch nicht mehr.“
„Vielleicht – ist es verschwunden?“
Michael schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Wir werden sehen.“ Er starrte nach unten. In seiner Erinnerung war das Loch dunkler und die Treppe steiler. Er drehte sich zu Sven um.
„Ich gehe jetzt nach unten.“ Sein Herz begann schneller zu klopfen. „Dann machst du die Klappe zu und verriegelst sie. Das ist wichtig. Bis jetzt ist es immer nur gekommen, wenn die Klappe verriegelt war.“
Sven nickte. „Das mach ich so. Und dann warte ich.“
Michael packte ihn am Handgelenk. „Wenn ich schreie, oder gegen die Klappe schlage, oder sonst etwas mache – du darfst sie nicht öffnen. Egal, was passiert oder was du hörst, du darfst die Klappe nicht öffnen. Ist das klar?“
Sven nickte. „Ich versuch es.“
„Nicht nur versuchen, Sven. Wir haben darüber gesprochen. Du bist hier, weil ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Versprich es mir. Was auch immer passiert, die Klappe bleibt zu.“
Michael ließ seinen Freund los.
„Viel Glück“, sagte Sven. „Ich hoffe, du findest da unten, was du suchst. Das wünsche ich dir wirklich.“
Michael antwortete nicht mehr. Es war alles gesagt. Er drehte sich um und stieg langsam die acht Stufen nach unten. Der Raum hatte sich nicht verändert. Bis auf die beiden Regale, deren Holz inzwischen beinahe schwarz geworden war, war der Raum leer.
Sven schloss langsam die Klappe, und Michael sah, wie das schwache Licht zu einem schmalen Schlitz wurde und schließlich verschwand. Vollkommene Dunkelheit umgab ihn.
Bis auf seinen keuchenden Atem und das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren war es still.
Er hoffte, er würde seine Familie noch lebend vorfinden. Dann würde er sich bei ihnen entschuldigen können. Würde ihnen alles erklären können.
Langsam machte er einen kleinen Schritt nach vorne.
Vor allem hoffte er, sie überhaupt zu finden, um endlich die quälende Ungewissheit loszuwerden. Seit zehn Jahren fragte er sich, was mit ihnen geschehen war.
Er ging einen weiteren Schritt nach vorne. Streckte die Hände aus. Erinnerte sich an das Geschöpf, das er hier unten gesehen und von dem er so oft geträumt hatte. Das ihm vorgegaukelt hatte, seine Frau zu sein.
Er machte noch einen Schritt. Und noch einen.
Seine Haut war kalt, und er merkte nicht, dass er den Atem angehalten hatte.
Inzwischen hätte er längst die andere Wand erreichen müssen. Seine Hände waren in die Dunkelheit vor ihm getaucht, die ihm jetzt dichter erschien. Wie schwarzer Nebel hatte sie ihn umschlossen, zog ihn immer tiefer in sich hinein.
Er machte noch einen Schritt, und jetzt spürte er, wie seine Handflächen gegen den harten Lehm der Wand stießen.
Er war allein hier unten. Es war nicht wieder erschienen.
„Komm schon“, flüsterte Michael. „Hol mich. Bring mich dahin, wo du meine Familie hingebracht hast.“
Die Härchen auf seinen Armen hatten sich aufgestellt, und er nahm jeden seiner Sinneseindrücke verstärkt wahr. Selbst seine Augen sogen die Finsternis gierig auf und ließen sie ungehindert in sein Bewusstsein strömen.
Plötzlich ging die Klappe hinter ihm auf. Schwaches Licht durchflutete das Loch. Mit langsamen Schritten kam Sven die Treppe herunter.
„Verdammt, was tust du da?“, rief Michael. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst oben bleiben.“
Sven trat still zu ihm heran. „Es kommt nicht, Michael“.
„Das kannst du nicht wissen. Es wird schon kommen. Geh wieder nach oben.“
Sven rührte sich nicht.
„Geh wieder nach oben. Es wird schon kommen. Du musst wieder hoch gehen und die Klappe verriegeln.“
Langsam schüttelte Sven den Kopf. „Es wird nicht kommen.“ Sein Mund verzog sich zu einem schmutzigen Grinsen. „Es ist schon hier. Und es freut sich, dass auch du wieder hier bist.“
Im dämmrigen Kellerlicht sah Michael, wie sich das Gesicht von Sven veränderte. Sein Haaransatz ging zurück, seine Haut wurde grau und zog sich zusammen.
Michael stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte zurück. Die Wand hinter ihm war verschwunden. Eisige Kälte wehte ihm entgegen.
Svens Körper schrumpfte, er verwandelte sich in einen buckligen Zwerg. Als seine Kleidung von ihm abfiel, sah Michael die runzlige Haut, roch die süße Fäulnis und spürte die Fremdartigkeit, die von dieser Gestalt ausging.
Seine eigenen Schreie hörte er nicht, nur das rasselnde Keuchen dieses Geschöpfs.
Es kam langsam auf ihn zu, hob seinen kleinen haarlosen Kopf. Voller Entsetzen blickte Michael in sein eigenes Gesicht, wie in einen Spiegel des Schreckens, der zwar das Gesicht eines Menschen zeigt, den restlichen Körper jedoch auf grauenvolle Weise verzerrt.
Als das Ding auf ihn sprang und ihn mit großer Kraft in den pechschwarzen Tunnel zog, steigerten sich seine Schreie in panisches Gebrüll. Die Dunkelheit breitete sich ungehindert in seinem Kopf aus, bis sie ihn verschluckt hatte, äußerlich wie innerlich.
Ungewissheit und Schuld. Sie nagen an mir wie Ratten, haben sich festgebissen und lassen mich nicht mehr los.
Seit diesem grauenvollen Tag ist mein Leben die Hölle. Ich lebe in einem Zustand ständiger Qualen, werde verfolgt von Albträumen und muss in jeder Sekunde an meine Familie und das Loch denken.
Ich weiß nicht mehr, wie ich dem Wesen entkommen bin. Ob es mich entkommen ließ oder ich flüchten konnte. Aber ich weiß noch, wie man mich verhaftete. Ich wurde beschuldigt, meine Familie getötet zu haben, auch wenn die Spurensicherung keine Anzeichen für ein Verbrechen fand. Ich erzählte ihnen die Wahrheit, aber sie glaubten mir kein Wort. In Deutschland wurde Anklage gegen mich erhoben, doch die Indizien reichten für eine Verurteilung nicht aus. Von meiner Familie wurde niemals auch nur eine Spur gefunden. Der Gedanke, in welcher Hölle sie die letzten zehn Jahre verbracht haben, die Hoffnung und gleichzeitig die Furcht, dass sie möglicherweise noch leben, beherrscht mein Denken.
Nach dem Prozess war ich ein Wrack und wurde in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen. Ich bekam Medikamente, doch auch sie konnten die Träume nicht abhalten, in denen meine Familie immer wieder von runzligen Klauen in den dunklen Tunnel gezerrt wird.
Ich habe sie auf dem Gewissen. Ich habe sie da unten eingesperrt und sie dieser Kreatur überlassen. Ich kann damit nicht leben.
Doch im letzten halben Jahr hat sich vieles verändert. Ich lernte einen Pfleger kennen – sein Name ist Sven – der Verständnis für meine Geschichte aufbringt. Der mir glaubt. Mit ihm kann ich über die Geschehnisse in jenem Winter sprechen, ohne auf Zweifel oder Abneigung zu stoßen. Das macht mein Leben erträglicher.
Noch besser allerdings war sein Vorschlag, dass wir gemeinsam zu diesem Haus zurückfahren und ich selbst in das Loch steige. Er meinte, das könne mir helfen, meine Ungewissheit zu überwinden. Ich war verblüfft, dass ich nicht von selbst darauf gekommen war.
Endlich habe ich wieder ein Ziel. Endlich habe ich etwas, an das ich mich klammern kann. Ich möchte selbst erfahren, was meine Familie erleben musste, nachdem ich sie eingesperrt habe. Nach so vielen Jahren werde ich endlich Gewissheit haben. Dann werde ich endlich frei sein.
Mein Zustand besserte sich, Sven war eine Stütze für mich und baute mich stetig auf. In wenigen Tagen ist es soweit. Dann werde ich die Anstalt verlassen und mich mit Sven auf den Weg machen. Und so bin ich gleich über zwei Dinge froh. Zum Einen werde ich endlich meine Ungewissheit los. Vielleicht finde ich meine Familie sogar, wo auch immer sie jetzt sein mag.
Und zum Anderen werde ich nicht allein sein, wenn ich ein letztes Mal in die Finsternis hinabsteigen muss.