- Beitritt
- 05.03.2013
- Beiträge
- 558
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Das Liebesmahl
„Matharis, du Gute, Matharis, du Reine, behüte und beschütze uns in deinem Heime.“
Ergriffen lauschte Matharis, die Göttin der Liebe, dem Gesang des Volkes von Axmundi. Heute war ihr Ehrentag: der 9. November. An diesem Tag zelebrierten die Stadtbewohner das alljährliche „Geistfest der Harmonie“ zum fünfzigsten Mal. Sie dankten Matharis für die Befreiung von der Herrschaft Archéns, des Gottes des Hasses. Vor fünfzig Jahren hatte sie ihn vertrieben. Zu grausam war seine Herrschaft. Die wenigen Reichen lebten in Saus und Braus. Aus reiner Freude folterten, töteten und vergewaltigten die Mitglieder der kleinen „Ritterschaft“ die Untertanen. Zum Leben blieb nach den Raubzügen der Herrscher für die Bauern nicht mehr viel übrig, eigentlich nichts. Sie hatten bereits begonnen, sich gegenseitig abzuschlachten. Da griff Matharis ein und bekämpfte und besiegte Archén: Axmundi war von der Tyrannei des Hasses befreit. Seit seiner Flucht ward Archén nicht mehr gesehen.
Nach dem Sieg über den Hass entstand eine Gemeinschaft, die Menschen und Natur in harmonischer Liebe einte. Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Untaten gab es nicht mehr in Axmundi. Alle verdienten den Betrag, den sie in einem Monat sinnvoll und verantwortungsbewusst verbrauchten. Jeder arbeitete, solange es seine Kräfte erlaubten, ohne sich zu überanstrengen oder zu faulenzen. Ab dem fünfundzwanzigsten Jahr lebten zwei Erwachsene in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit zwei bis vier Kindern. Diese holten sie im „Kaufhaus der Mitte“ in der Abteilung »Lebendiges« ab. Scheidungen gab es keine. Gefängnisse waren überflüssig geworden. Es gab immer weniger Krankheiten. Schüler verleibten sich den Unterrichtsstoff per Tablette ein. Die Natur gestaltete außerhalb der Städte einen Garten Eden, der Urwald und Gartenbaukunst verband. Das tägliche Leben floss in Ruhe, Gelassenheit und Harmonie einher. Die Seelen der Menschen waren gleichförmig wie der Takt einer Uhr. Die Liebe ordnete alle Lebensbereiche ihren Vorstellungen von Anstand, Rücksichtnahme und Fürsorge unter.
Ein Computer steuerte dies alles vom „Heiliggeistturm“ aus. Er berechnete den Intelligenzeinsatz jedes einzelnen Menschen. Auch die Moralvorstellungen spuckte die Software aus. Für die Ernte berechnete der Computer die Menge der benötigten Sonnenstunden und des Regens. Die Befehle wurden von ihm in elektromagnetische Schwingungen umgewandelt, die er an die vorgesehenen Personen sandte. Sie erreichten im Gehirn des Menschen eine eingepflanzte, winzige Kapsel, die die Signale in eindeutige Gedanken und Handlungen umsetzte. Niemand konnte sich dem entziehen.
Vier Männer und vier Frauen, das „Kabinett“, wachten über das Herz von Axmundi. Was zu geschehen hatte, teilte ihnen die Göttin der Liebe im Schlaf mit.
*
Feierlich zog die Bevölkerung an Matharistempel vorbei und sang: „Wir ehren dich, wir lieben dich, wir ...“
Da flüsterte der Göttin eine unangenehm spitze Stimme in das rechte Ohr: „Oh, Matharis, dich vernichte ich,
Oh, Matharis, dich zerstöre ich!
Du Mistweib, die Rache ist mein."
„Archén!“
„Erfreut, dich zu sehen.“
„Verschwinde, reicht dir die letzte Niederlage nicht?“
„Ich bin gekommen, um mich zu rächen.“
Matharis stieß Archén von sich weg. Der drang weiter auf sie ein, bis sie mit dem Rücken an einer Felswand nicht mehr ausweichen konnte.
„Jetzt habe ich dich! Du wirst für meine Niederlage büßen!“
„Die Menschen haben sich für mich entschieden, für die Liebe. Schau nur hinunter, wie sehr sich mich anbeten, mich, nicht dich.“
„Das werde ich ihnen tüchtig versalzen. Ich bin nicht mehr der Tölpel von früher. Du wirst ich nicht mehr besiegen.“
Sein meckerndes Gelächter ging der Göttin der Liebe durch Mark und Bein. Sollte er jetzt wirklich überlegen sein?
Der Himmel verdüsterte sich urplötzlich. Mit grellem Geschrei stürzten sich groteske, pferdeähnliche Figuren von allen Seiten auf die Betenden. Mit ihren hörnergespickten Köpfen spießten sie die Umstehenden auf. Die stierähnlichen Vorderbeine trampelten die am Boden Liegenden zu Tode. Das schwanzförmige Hinterteil mähte die Marktbesucher wie Grashalme um. Die meterhohen Körper der Monster walzten todbringend die Massen der Feiernden nieder.
Aber die Menschen hatten im Nu Waffen aus allen beweglichen Gegenständen gemacht, sodass sie nach anfänglichem Zurückweichen bald eine Menge der Schreckenstiere umgebracht hatten. Sie hieben und stachen auf die Aggressoren ein, dass man ihnen die langen Jahre friedlichen Lebens nicht glauben mochte. Die ersten Triumph- und Siegesschreie ertönten, obwohl eine ansehnliche Anzahl von Menschen auf dem Platz und in den Straßen tot oder sterbend herumlag. Nur noch zwei Tiere waren zu töten.
Liebevoll schlug Matharis Archén vor: „Sei friedlich. Begrabe deinen Hass und lebe mit uns ein Leben in Liebe. Dann bist du uns willkommen.“
„Ich soll hier bei euch leben, meinen Garten pflegen und vielleicht als Religionslehrer meine Zeit vertrödeln? Womöglich auch noch heiraten? Dich vielleicht?“
„Wäre eine gute Idee. Was ist daran so schlimm?“
„Mein ganzes Wesen müsste ich ändern. Nicht mit mir! So, wie ich lebe, lebe ich gern!“
„Du hast doch schon verloren. Gib auf! Deine letzten Monster sind auch vernichtet. Deine ganze Streitmacht ist tot.“
„Du wirst noch überrascht sein!“, höhnte Archén. Auf seinen Wink hin erschienen neue Kampftiere. Wie eine Armee von Panzern bewegten sich krebsähnliche Gebilde auf die Menschenmenge zu. Begleitet von einem tiefen Brummen schleuderten sie Feuerstrahlen heraus, die die Kleidung der Menschen erfassten und sie als lebendige Fackeln durch die Straßen jagten, bis sie tot zu Boden sanken. Gestank, Dröhnen und Schreie zeigten den Erfolg des Gemetzels der Tiere Archéns. Die Menschen rannten, bis sie sich am Ende wimmernd auf dem Boden wälzten. Nicht nur Archén lachte über die seltsamen Zuckungen der Sterbenden, sondern auch die krebsähnlichen Gebilde schüttelten sich vor Vergnügen, die Menschenleiber zu rösten.
Bald hatten die Unterlegenen aber ein Gegenmittel gefunden. Mit unzähligen Rohren bespritzen sie die Krebsgebilde mit kochendem und vergiftetem Wasser, so dass sie in ihrem Panzer zugrunde gingen. Aber auch von den Menschen waren viele verwundet oder tot.
„Deine Menschen sind für Leute, die nach der Liebe leben, ganz schön aggressiv.“
„Lieben heißt nicht Wehrlossein. Du hast uns angegriffen, nicht wir dich. Und jetzt bist du der Verlierer. Noch mal ein Angebot an dich. Werde friedlich, vergiss deinen Hass und lebe mit uns. Ich habe die Menschen so weit, dass sie friedlich miteinander existieren. Du willst das alles zerstören. Warum?“
„Leben nennst du das? Deine Marionetten dämmern von Tag zu Tag unter deiner Nächstenliebe-Diktatur dahin. Sie vertrödeln ihre Lebenszeit im Rausch deiner Wattebauschregierung, die sie erstickt. Mein Hass weckt sie auf, bringt Buntheit in ihr Leben und reinigt ihre Seele. Hass macht frei!“
„Du verbreitest nur Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Betrug, Streit ...“
„Hör auf, hör auf, beides macht das Leben lebenswert. Ein Leben ohne Leid bringt keine Freude. Nur jubeln macht dumm und Bravheit wird zur Lahmarschigkeit! Widerwärtig ist es, wie diese Halbblöden dir in den Arsch kriechen. Und du schwillst an voller Stolz. Du nennst es Liebe. Selbstsucht befriedigst du mit deinem Liebesgesäusel, das die Menschen noch dümmer macht, als sie schon sind. Ich werde sie vor dir retten. Ich werde …“ Archén fuchtelte wild mit seinen Armen in der Luft herum.
Ein riesiger Drache verdunkelte die Szene. Er düste über die verblieben Menschen hinweg und spritzte so viel Exkremente aus sich heraus, dass die Menschen bis zum Hals drinnen stecken blieben. Jammervoll schlugen die Hilfeschreie an das Ohr ihrer verehrten Göttin. Die sah sich ratlos um.
„Na, am Ende deines Lateins, du große Mutter! Bin halt doch der Stärkere.“ Ein Wink ließ den Drachen erneut so lange über die Stadt donnern, bis nur noch ein Hügel zu sehen war.
„Das überleben sie nicht, deine Menschlein. Sie ersticken in der Scheiße meines Drachens. Was soll ich jetzt mit dir machen, du Süße? Wer ist nun der Sieger?“
Im Nu zauberte er ein Sammelsurium von Marterinstrumenten herbei. „Diese Instrumente habe ich in jahrelanger Arbeit nur für dich erfunden. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen. Wir werden beide Spaß daran haben!“
Matharis zog sich zurück.
„Du entkommst mir nicht“, jubelte Archén.
Mit einer Nilpferdpeitsche schlug er in Richtung Matharis.
Aber diese hielt sie in der Mitte zwischen ihnen auf und verwandelte sie in einen Monitor.
„Fernsehen bildet, Archén, du Zwerg mit dem großen Mund.“
Auf dem Bildschirm zeigte sich dieselbe Szene, die vor dem Erscheinen von Archén zu sehen war: Gesang ertönte, Kirchenglocken dröhnten, die Menschen marschierten und die Häuser standen unversehrt in dieser unterirdischen Stadt. „Die Liebe überwindet den Tod“, kommentierte Matharis. "Sie macht aus jeder Situation für sich ein Glück. Wie ich meine Menschen wieder zum Leben erwecken kann, so gebe ich ihnen die Kraft, aus deinem Dreckshaufen eine liebenswerte, unterirdische Stadt zu bauen."
„Du Miststück, du schweinische Liebesflüsterin, du Menschenliebhaberin, ich habe noch ...“
„Mein Lieber, du wirst verstehen, dass es mir jetzt reicht. Du hast keine Chance mehr.“
Sprach's, packte den Gott des Hasses und schlang ihn in sich hinein.
Seither geht die Liebe mit dem Hass im Bauch umher.
Und die Menschen?
Das steht in den Geschichtsbüchern.