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Das letzte Mal
Er mußte innerlich über die Bemerkung des neben ihm gehenden Mannes lächeln. Der etwa 35 Jahre alte Mann sagte zu seiner Begleiterin, daß die Massen, die die mittägliche U-Bahn verließen und zu ihren wartenden Anschlußzügen hasteten, doch sehr den Lemmingen glichen, die einem unbekannten Impuls folgend, einem noch unbekannterem Ziel, meißt ihrem Verderben entgegen liefen. Doch so sehr ihn die Bemerkung des Mannes auch für einen Moment erheitert hatte, war sein Gemüt doch ehr in einer sehr gedrückten Stimmung und seine Niedergeschlagenheit zeichnete nur allzudeutlich sein junges Gesicht. Die schwere Tasche fest in der rechten Hand haltend strebte er, wie die anderen Reisenden es zum großen Teil auch taten, den Abfahrtgleisen der S-Bahn zu. Er kannte den Bahnsteig genau, wußte exakt, wann sein Zug fuhr und wo er halten würde. In den drei Jahren, in denen er bis auf wenige Ausnahmen immer den gleichen Zug in Richtung Wedel benutzt hatte, hatte er ein Gespür dafür entwickelt. So wußte er auch, daß es keinen Zweck hatte, die Unterwelt des Bahnhofs hastig zu durchqueren, denn den Zug um 51 würde er doch nicht mehr bekommen und das Warten bis 11 nach, machte ihm nach so vielen Malen nichts mehr aus. Wie ein Automat strebte er dem Sieldeckel entgegen, auf den er sich immer stellte. An diesem Standort, beinahe in der Mitte des Bahnsteiges, fühlte er sich wie ein ruhender Pol in der unablässig um ihn herum wogenden Menschenmenge.
Vor seinem Zug kamen noch verschiedene andere. Einige Fahrgäste zählten zu den ebenfalls regelmäßigen Fahrern und er beobachtete die ankommenden und abfahrenden Züge sehr genau, um etwaige "Bekannte" nicht zu übersehen. Doch schienen sich heute auch diese wenigen Menschen gegen ihn verschworen zu haben. Er sah zwar eine Menge Leute, darunter auch ein ausnehmend hübsches Mädchen, denm er sehnsüchtig nachsah, aber die wenigen bekannten Gesichter blieben aus. Wie immer, so machte er sich auch heute zwei Minuten vor der Ankunft seines Zuges auf den Weg zum zweiten Sieldeckel. Dieser zweite Deckel war weiter hinten auf dem Bahnsteig, genau gegenüber dem Zugteil, in das er nun schon seit beinahe drei Jahren einzusteigen pflegte. Immer noch niedergeschlagen spürte er aber doch auf dem Weg, der je nach der Menge der wartenden Menschen nd Umwege, die er durch diese zu gehen gezwungen war, 50 bis 80 Sekunden dauerte, einen Schimmer von Hoffnung in sich aufsteigen und von Sekundendekade zu Sekundendekade größer werden. Es gab noch eine letzte Möglichkeit. Vielleicht würde sie kommen, vielleicht würden sie beide sogar nebeneinander in der Bahn sitzen.
Er stellte die schwere Tasche auf den Boden, zwischen seine Beine und wartete auf den Zug. Nein, eigentlich ist das falsch. Jetzt waren seine Augen unverwandt in die Richtung der Bahnhofshalle gerichtet, genau entgegengesetzt der Richtung, aus der der Zug kommen mußte. Jetzt wartete er nur noch auf sie. Er wartete darauf, ihren blonden Harrschopf in der Menge auftauchen zu sehen. Und dann ihren ganzen wundervoll gebauten Körper, der sich in sicheren Bewegungen auf die Stelle zubewegen würde, an der er stand.
Als er sie dann endlich sah, durchströmte ihn ein Gefühl der Glückseligkeit und die Falten in seinem sorgenvollen Gesicht gegannen sich zu glätten. In dem Moment, in dem er fühlte, daß auch sie ihn gesehen hatte, wandte er seinen Kopf schnell zur anderen Seite und sah in die Richtung, aus der der Zug kommen mußte. Diese Bewegung war aus zwei Gründen lächerlich und vollkommen unnütz. Er wußte erstens sehr genau, daß sie seine unscheinbare Gestalt wahrscheinlich doch nicht bemerkt, geschweige denn, sich um sie in ähnlicher Weise, wie er es mit ihr tat, kümmern würde. Zum zweiten wußte er ganz genau, daß er sich nicht nach dem Zug umzudrehen brauchte. Er spürte, wann der Zug kam und es war außerdem an dem Quietschen der Räder in der Kurve deutlich zu hören. Trotzdem drehte er sich um, weil er Angst hatte, daß sie seinen Blick doch bemerkt haben und sich dadurch vielleicht belästigt fühlen könnte.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr und er sich der Tür zuwendete, vermied er es noch immer, sie anzusehen. Als die ankommenden Reisenden ausgestiegen waren, bestieg er den Zug, ohne sich umzusehen und ihr mit einer galanten Geste den Vortritt zu lassen, obwohl er genau wußte, daß sie ungeduldig wartend hinter ihm
stand. Er setzte sich, wie seit drei Jahren üblich, auf den Platz rechts neben der Tür und schob seine Tasche unter die Bank. Sie setzte sich ihm gegenüber ans Fenster. Eigentümlicherweise spürte er nun keinen Zorn mehr in sich, ihre Anwesenheit verbot ihm, unzufrieden auszusehen.
Es war ihm unmöglich, ein Buch zu lesen, so, wie er es sonst immer zu tun pflegte. Obwohl er es vermied, sie direkt anzusehen, waren doch alle seine Sinne auf sie ausgerichtet. Er registrierte jede ihrer Bewegungen. Besonders von ihrem Gesicht konnte er sich nicht lösen. Sie war zwar wie üblich ein wenig stark, oder besser gesagt, in einer Art, die ihn sonst bei anderen Frauen störte, betont geschminckt, doch machte ihm das bei ihr nichts aus.
Er hatte nie gewagt, sie anzusprechen und wußte, daß es ihm auch heute und in Zukunft unmöglich sein würde, sie zu stören. Auch kam es ihm nicht in den Sinn, ihren unverwandt nach draußen gerichteten Blick durch irgendeine Geste auf sich zu ziehen. Warum er es nicht tat, oder nicht konnte, wie er immer von sich selbst behauptete, wußte er nicht. Als sie sich Blankenese näherte, wuchs seine Spannung wieder. Würde ihre Freundin auch heute wieder zusteigen, fragte er sich. Als der Zug hielt, blickte sie suchend um sich, doch die von ihr erwartete Person blieb aus. Er registrierte dies einerseits zufrieden, andererseits mit einer inneren Traurigkeit. Er war befriedigt, weil sie nun dort sitzen bleiben und nicht in das Abteil zu ihrer Freundin gehen würde; traurig machte ihn, daß sie die Freundin wohl erwartet hatte und nun sichtlich enttäuscht war, daß niemand gekommen war.Er hätte sich zu gern mit ihr unterhalten und mit ihr gelacht, denn das konnte sie wunderschön. Er wagte aber nicht, sie anzusprechen.
Diese letzte Chance nicht wahrnehmend, machte er sich zum Aussteigen bereit. Auch sie stieg an der nächsten Station immer aus, doch trennten sich ihre Wege außerhalb des Bahnhofs. Als er sich noch einmal kurz umsah nach ihr, überkam ihn eine tiefe Traurigkeit. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß es heute ja das letzte Mal war, daß er sie sehen würde. In der nächsten Zeit würde sich keine Gelegenheit ergeben, denn von der Arbeit kam er erst um 16 Uhr. Voller Scham über seine Feigheit machte er sich auf den Heimweg von der Bahn nach Hause und bemerkte nicht mehr, wie sie sich nach ihm umsah, in den Augen den Ausdruck eines traurigen Abschiednehmens, als wenn sie gewußt hätte, daß es heute das letzte Mal war.