Das letzte Gespräch
Da saßen sie nun. Zum wievielten Male, wusste er nicht. Sie waren sich schon so oft gegenüber gesessen, dass er bereits vor langem aufgehört hatte zu zählen. Aber heute war ein besonderer Tag. Heute war das letzte Mal, dass sie sich trafen. Das wusste er. Sie wusste es noch nicht.
Aber es musste sein, das wusste er. Wenn er jetzt nicht seinen Weg gehen würde, dann würde er es wohl nie mehr tun. Er hatte diesen Tag kommen sehen, vom Tag an, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten. Aber er hatte es verdrängt, über all die Zeit, bis es nicht mehr ging. Dann hatte er seinen Entschluss heimlich gefasst und all seinen Mut und all seine Entschlossenheit gesammelt, um es ihr heute zu sagen und sich von ihr zu verabschieden, endgültig. Es ging nicht anders. Heute würde wohl der bisher schwierigste Tag seines Lebens werden, aber es war sein Weg. Der einzige Weg für ihn.
Während sie ihre Unterlagen ordnete, sah er sich im Raum um. Er kannte ihn mittlerweile auswendig, alles war so, wie als er das erste Mal hierher kam. Man könnte es langweilig finden, aber das empfand er nie, wenn er hierher kam. Wenn er hierher kam, empfand er nur einen dumpfen Schmerz im Inneren. Nicht schlimm, aber beständig. Als ob sein Körper ihm sagen wollte, dass er nicht hierher gehörte. Und das tat er auch nicht, das wusste er. Dieser Raum verschwendete nur seine Zeit und brachte ihm nur Schmerzen, aber brachte ihn nicht weiter. Auch wenn sie das anders sehen würde. Aber wie sollte sie ihn auch verstehen können? Sie gehörte hierher, sie war Teil des Raums. Sie würde ihn nie verstehen. Auch wenn sie jedes Mal, wenn er kam, vorgab, ihn verstehen zu wollen. Ihre langen, ständigen Gespräche brachten ihm nie etwas. Jedes Mal, wenn er den Raum verließ, war es, als würde er hineingehen. Entweder war sie zu ignorant, zu merken, dass sie ihm nicht half, oder, was er eher glaubte, sie wollte ihm nicht helfen. Normalerweise waren solche Gespräche ja dazu da, den Gegenüber besser zu verstehen und auf ihn einzugehen, aber bei ihnen war das anders. Es war, als wären sie zwei gegensätzliche Lager, die sich dem anderen nicht öffnen wollten. Diese Entwicklung war nicht seine Schuld gewesen. Sie war es gewesen, die von Anfang an nicht auf ihn eingegangen war, die von Anfang an seine Gedanken und Bilder nicht akzeptiert und ihm stattdessen ihre hatte aufdrängen wollte. Dadurch hatte er sich erst recht mit seiner Person identifiziert. Was das eigentliche Ziel ihrer Treffen hätte sein sollen, nämlich zusammen einen für beide Personen akzeptablen Mittelweg zu finden, war so nie auch nur in Reichweite gewesen. Er wusste, dass sie das wusste. Und er wusste auch, dass es ihr eigentliches Ziel war, ihn für immer hier zu behalten, ihn stetig zu neuen Gesprächen zu treffen, bis an sein Lebensende, obwohl ihre Personen unvereinbar waren. Aber das musste ein Ende haben. Er musste sich endlich von ihr trennen, sich von ihr freimachen. Das würde sie nicht wollen, aber er wusste, dass er stark genug dafür war. Heute würde er ihr klar seine Stellung vermitteln, ohne diese durch irgendwelche Kompromisse zu zerstückeln. Sie würde nicht gegen seine Argumentation ankommen können. Heute würde sie es sehen.
Sie nahm einen Notizblock und einen Kugelschreiber zur Hand, setzte sich auf ihrem Stuhl auf und betrachtete ihn. Sie lächelte leicht, wie jedes Mal. Jedes Mal versuchte sie, mit einen harmonischen Gesichtsausdruck die Atmosphäre zu entspannen, aber das klappte nie, weil er wusste, dass das nur Fassade war. Er wusste, dass sie ihn eigentlich nicht mochte, dass sie ihn richtiggehend verachtete und auch deswegen brachten ihm ihre Gespräche nie etwas. Sie konnte viel sagen, aber selbst, wenn sie mal in seltenen Fällen so tat, als würde sie seine Gedanken nachvollziehen können oder als würde sie es wenigstens versuchen, wusste er, dass sie log. Sie war die Lüge, die Lüge hinter dem Lächeln.
"Guten Tag, Mic."
"Hallo, Frau Leah."
"Wie geht es dir heute?"
Was für eine dämliche Frage das war! Als ob sich nach ihren Gesprächen je wirklich etwas geändert hätte! Sie stellte diese Frage am Anfang jeder Sitzung und er antwortete jedes Mal gleich. Sie darauf hinzuweisen, dass ihre Frage dämlich war, war ihm aber nie in den Sinn gekommen. Auch heute ließ er es.
"So wie immer."
"Hast du über unser letztes Gespräch nachgedacht? Was hast du daraus mitgenommen?"
"Dasselbe wie jedes Mal. Dass Sie mir sagen, dass die Welt gut ist und ich das nicht denke."
Sie zog eine Augenbraue leicht hoch, kaum zu sehen. Aber sie behielt ihr Lächeln bei. Sie wirkte, als würde sie ein Kind ansehen, dass sich in die Hose gemacht hat. Dieser unbeteiligte, leicht überhebliche Gesichtsausdruck...er hasste ihn. Als würde sie ihn bemitleiden. Am liebsten würde er ihr eine reinhauen. Aber das hatte er noch nie gemacht. Er konnte das auch nicht. Wenn heute alles so funktionierte, wie er sich es vorstellte, würde er ihr ihre Maske herunterreißen. Würde ihr wahres Gesicht zur Schau stellen. Dann könnte er endlich gehen.
"Das sagst du ja gerade so, als würde ich zu dir kommen und nicht umgekehrt."
Das wird heute enden, dachte er.
"Wie auch immer."
Sie schrieb ein paar Notizen in ihren Notizblock, dann wandte sie sich wieder ihm zu. Was sollen diese Notizen, fragte er sich. Immer, wenn wir reden, macht sie sich Notizen. Aber wozu? Um ihn beim nächsten Gespräch besser einwickeln zu können? Um bessere Argumente zu haben? Wenn dem so war, hatte es ihr aber bisher rein gar nichts gebracht. Im Grunde liefen ihre Gespräche immer ähnlich ab und drehten sich meistens um ungefähr die selben Themen. Sie hatte bisher auch nie wirklich versucht, einmal anders an ihn heranzugehen. Und sie gingen jedes Mal mit demselben Ergebnis auseinander, nämlich mit gar nichts. Also wozu diese verfickten Notizen? Wollte sie vielleicht die Gespräche kategorisieren? Aber wozu immer ähnliche Gespräche kategorisieren? Nur, um eine Abschrift zu haben? War sie so pingelig? Hatte sie einen Ordnungs- und Regelfimmel? Gerne hätte er sie gefragt, aber er ließ es. Er musste heute vorsichtig sein und behutsam vorgehen, wenn er seinen Plan in die Tat umsetzen wollte. Hätte er sie einfach angepöbelt oder verbal beleidigt, hätte sie nur abgeblockt und wäre noch steifer und unbeweglicher geworden. Aber sie musste unruhiger werden, sie musste sich bewegen, sie musste aus dem Sessel aufstehen. Er musste sie aus der Fassung bringen. Das ging nur, wenn er ihr seine besten Argumente entgegenwarf. Darauf hatte er sich gründlich vorbereitet.
"Na dann, sagte sie lächelnd und blickte auf ihre Uhr, "dann fangen wir mal an! Worüber willst du denn heute reden?"
Am liebsten über gar nichts, dachte er.
"Machen Sie nen Vorschlag."
Sie schmunzelte und blickte aus dem Fenster. Er tat es auch. Was sie wohl sehen mochte? Bestimmt "schöne" Dinge. Er sah das, was er immer sah.
„Willst du darüber reden, was du getan hast?“
„Später.“
Er brauchte Zeit. Er musste erst langsam argumentativ an dieses Thema herangehen. Nur, wenn er ihr das mit dem Schlägertypen gut erklären konnte, würde er heute für immer diesen Raum verlassen können. Er entspannte sich auf der Holzbank und betrachtete sie, als sie über ein anderes Thema nachdachte.
"Also gut, Liebe", sagte sie und wandte sich ihm wieder zu. "Sprechen wir über Liebe!"
"Was meinen Sie, romantische Liebe oder Liebe zu Familie und Freunden usw.?"
"Zunächst mal romantische Liebe. Einer der stärksten Beweise dafür, dass die Welt schön und gut ist. Das musst du doch zugestehen."
"Ich war noch nie verliebt."
Sie verzog keine Miene. "Das wundert mich nicht. Wie soll jemand, der alles verneint, lieben können? Aber kannst du nicht nachvollziehen, dass Liebe für die Menschen etwas Wunderschönes ist, etwas, das vollkommen erfüllt? Und dass die Menschen deshalb annehmen, dass es einen Grund, einen Sinn haben muss?"
Jetzt geht`s wieder los, dachte er. Immer diese Deduktion von dem, was die Allgemeinheit denkt, auf eine anscheinend allgemeingültige Wahrheit... Was war denn das für eine Argumentation?
"Ich kann verstehen, dass die Allgemeinheit das denkt. Eben, weil es auch bequem ist. Aber Liebe kann man durchaus auch kritisieren. Nicht nur in Bezug auf Liebeskummer, gebrochene Herzen und andere Dinge, die Menschen benachteiligen und aufhalten. Denn Liebe ist meistens tückisch. Sie schenkt einem ein schönes Gefühl, das kann ich zugeben. Aber zu welchem Preis? Zu dem Preis, dass sie dem Menschen das Leben diktiert. Wenn sie Menschen überkommt, was sich diese nicht aussuchen können, zwingt sie sie, der Überzeugung zu sein, ihr Leben mit dem geliebten Menschen teilen und verbringen zu wollen Und wenn dies, wie so oft zustande kommt, binden sich die Menschen emotional und später durch Verträge und Regeln aneinander und büßen Freiheit und Unabhängigkeit ein. In der Regel entstehen in dieser Verbindung dann auch noch Kinder, was noch abhängiger und unfreier macht. Schon dadurch gehen viele Beziehungen in die Brüche und rufen Leid hervor. Aber die eigentliche Tücke der Liebe ist, dass sie den Menschen vorgaukelt, sie und die schönen Gefühle, die sie hervorruft, würden immer bleiben. Deshalb nehmen viele Menschen den Freiheitsverlust in Kauf. Aber in Wirklichkeit verschwindet die Liebe mit den schönen Gefühlen für den "geliebten" Menschen mit zunehmender Zeit und lässt den Menschen schließlich zwei Möglichkeiten: Entweder die Beziehung trennen und einen alleinigen Neuanfang wagen oder sich mit dem Zustand arrangieren. Während viele nicht mehr den Veränderungswillen, die Kraft und die Aktivität besitzen, neu zu starten und deshalb die zweite Möglichkeit wählen, können selbst diejenigen, die einen Neuanfang machen wollen, die eingegangene Verbindung in der Regel nie völlig auflösen, sie verlieren dabei und/oder bleiben immer noch teilweise abhängig, emotional oder auch in Form von z.B. Unterhaltszahlungen oder Kinder. Sie sind danach zwar freier als diejenigen, die sich ihrer Lethargie und ihrem Schicksal ergeben, aber die Liebe hat auch ihnen einen beträchtlichen Anteil an Freiheit und Lebenszeit gestohlen. Man könnte die Liebe also als einen Diktator sehen, der die Menschen kontrollieren und ihnen ihre Freiheit, ihren eigenen Willen, ihr eigenes Denken nehmen will. Ich bin froh, dass ich bisher nicht davon angesteckt worden bin."
Sie betrachtete ihn und schwieg eine kurze Zeit lang. Dann sagte sie lächelnd:
"Denkst du, dass du wirklich in der Lage bist, die Liebe zu beurteilen, wenn du sie noch nie selbst erlebt hast?"
"Man kann es auch anders herum sehen. Eben, dass ich sie besser beurteilen kann, weil sie mich noch nicht überkommen hat. Ich bin nicht von ihr beeinflusst, ich kann objektiver und rationaler, aus der Sicht eines Außenstehenden betrachten, was sie mit den Menschen macht und was sie ihnen antut."
Er wusste, dass sie darauf nichts erwidern konnte. Denn sie hatte auch noch keine Liebe erfahren. Sie konnte nur die Argumente der Masse nachplappern.
Sie sah auf ihren Notizblock, schrieb aber nichts auf. Dann sah sie ihn wieder an und lächelte breiter als zuvor.
"Du redest von Liebe so, als wäre sie eine Person, die einen Plan hat. Impliziert das nicht, dass dem Ganzen ein Plan, ein Sinn zugrunde liegt, auch wenn das Aussehen dieses Plans dir nicht gefällt?"
"Die Liebe ist kein Wesen, daraus kann man keine Schlüsse auf einen Gott ziehen. Natürlich liegt ihr eine Art Plan zugrunde. Aber das kann man nicht mit Sinn gleichsetzen, das ist nicht dasselbe. Die Liebe ist ein biologisches, chemisches Prinzip, hervorgerufen durch das Zusammenspiel von Hormonen und anderen Bestandteilen des menschlichen Körpers, dessen Ziel es ist, dass der Mensch sich fortpflanzt, tief verankert in den Trieben von Mensch und Tier."
"Das bedeutet also, es ist natürlich. Es ist die Natur des Menschen. Willst du Widerstand gegen die Natur leisten?"
"Wenn sie mich unfrei macht, ja. Wieso sollte ich ihr gehorchen? Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Kinderschänder und Triebtäter folgen auch ihren Trieben. Demnach wären die auch nicht schlechter oder anders als der Durchschnittsmensch."
Sie räusperte sich und setzte sich auf. Ihr Lächeln war noch da, aber wesentlich schmaler. Es wirkte bemühter als vorhin.
Es funktioniert, dachte er. Sie begann sich zu bewegen. Das hatte sie in ihren früheren Gesprächen oft getan, aber nie soweit, dass sie aus dem Sessel aufgestanden wäre. Soweit hatte er sie noch nie gebracht, aber bisher hatte er das auch nicht explizit versucht. Er hatte bis zuletzt gehofft, dass sie sich irgendwann irgendwie einig werden würden, aber letztendlich hatte er akzeptiert, dass es nie soweit kommen würde. Jetzt ging es für ihn nur noch um eines: entweder Sie oder er. Und er würde gewinnen. Heute würde er es beenden. Heute würde er die Oberhand gewinnen.
Sie sah kurz aus dem Fenster und wirkte dabei geistesabwesend, aber sie wandte ihren Blick schnell wieder ab und schrieb etwas auf ihren Notizblock. Dann fing sie wieder an zu reden.
"Also, wenn du das mit der romantischen Liebe schon so siehst, brauchen wir über die Liebe zu Familie und Freunden wohl gar nicht erst reden!"
Das sollte wohl witzig gemeint sein, aber er reagierte nicht darauf. Sie hatte wohl auch gemerkt, dass dieser Versuch der Auflockerung sehr halbherzig gewesen war. Ihr Lächeln wirkte matt.
„Ich nehme an, wenn du keine Liebe kennst, dann sind dir auch Dinge wie Freude oder Glück fremd.“
„Die sind wie die Liebe nur Instrumente für Gleichschaltung und Heuchelei.“
Sie fuhr sich durchs Haar. „Wie meinst du das?“
„Man empfindet nur Liebe, Freude oder Glück, wenn man denkt, dass die Welt, in der man lebt, richtig ist. Wenn man das glaubt, was einem andere Menschen von Geburt an über die Welt eingetrichtert haben, eintrichtern wollten. Wenn man davon überzeugt ist, dass die Welt richtig ist, dass die Menschen richtig sind und das Richtige tun und dass man selbst richtig ist, kann man Glück empfinden. Aber nur, wenn man derartig indoktriniert worden ist. Ist man das aus irgendwelchen Gründen nicht und zweifelt an, dass diese Welt richtig ist, befindet man sich außerhalb des Bereichs, der Liebe, Freude oder Glück ermöglicht.“
„Spielst du auf Religionen und Glauben an?“
Sie erinnerte ihn an die Psychologin, zu der seine Eltern ihn früher geschickt hatten, als er noch jung war. Natürlich erinnerte sie ihn an die Psychologin, sie war es ja auch. Zumindest äußerlich. Aber sie war es nicht. Ihr Aussehen, dieser Raum, all diese Lügen! All diese Versteckspiele in Erinnerungen! Er musste das endlich hinter sich lassen!
„Es ist nicht nur das. Die Menschen wussten nicht, also haben sie sich etwas ausgedacht, dass sie angeblich erklärt und sie als richtig deklariert. Aber wenn man sich außerhalb dieses Bereichs bewegt, sieht man, wie jämmerlich das ist. Nichts ist perfekt, auch wenn sich das die meisten Menschen im Innern nicht eingestehen wollen. Menschen sind unperfekt, sind fehlbar. Ein Mensch, der sagt, dass etwas richtig oder falsch ist, ist fehlbar. Auch eine große Masse von Menschen, die sagt, dass etwas richtig oder falsch ist, ist fehlbar. Auch, wenn sie die selben Dinge über lange Zeit als richtig oder falsch bezeichnet, macht das die Beurteilung nicht wahrer oder unanfechtbarer. Es gibt keine absolute Wahrheit über Vorstellungen, über Werte. Wenn ein Mensch sagt, töten sei falsch und ein anderer Mensch sagt, töten sei richtig, hat keiner mehr recht als der andere. Sie wurden unterschiedlich indoktriniert, sie sind beide unperfekt und fehlbar, haben also nicht mehr Wahrheitsanspruch als der jeweils andere. Selbst, wenn sich größere Gruppen bilden, die der Ansicht sind, dass Töten falsch sei, ist diese Ansicht immer noch so zweifelhaft wie zuvor, eben auch deswegen, weil alle Mitglieder der Gruppen in ihrer Entwicklung von außen mit dieser Ansicht indoktriniert wurden.“
„Du willst also alle Werte, alle Vorstellungen, die ein Mensch haben kann, verneinen?“
Jetzt lächelte sie gar nicht mehr, ihre Stimme wirkte angespannter und ihr Blick wechselte ständig von ihrem Notizblock zum Fenster, ihn sah sie nicht mehr an. Es braucht nicht mehr viel, dachte er. Sie war schwach, heute würde er sie kriegen. Er sprach lauter.
„Falsch! Ich will sie nicht verneinen, wie könnte ich das denn auch? Ich bin auch ein Mensch, ich bin auch unperfekt und fehlbar und deshalb nicht im Besitz der ewigen Wahrheit. Ich will sie nicht verneinen, ich will sie anzweifeln! Etwas, das sich die meisten Menschen nicht trauen. Und jeder, der es doch tut, wird verurteilt oder zerstört. Das ist die eigentliche Widerwärtigkeit der menschlichen Gesellschaft. Ihre Arroganz, eigene fehlbare, unperfekte Ansichten innerhalb einer Gruppe zur unfehlbaren Wahrheit zu erklären und jeden, der sich gegen diese Bevormundung wehrt, zu jagen und zu vernichten. Es heißt fressen oder gefressen werden und das schon immer und überall in allen menschlichen Gruppierungen auf der Welt. Dass die Menschen dabei auch noch Heuchler sind, macht die Sache noch widerwärtiger.“
„Wie meinst du das?“
Sie wirkte zunehmend nervös. Sie hatte Notizblock und Stift aus der Hand gelegt und ihr Blick wechselte von ihm zum Fenster und wieder zurück. Ihr gefiel wohl nicht, was sie durch das Fenster sah. Er hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr fest im Sessel saß. Er redete noch lauter.
„Man kann immer wieder sehen, dass Menschen Egoisten sind. Ihr tiefster Trieb ist die Selbsterhaltung und die Dinge, die daraus hervorgehen. Und in der Regel verwerfen Menschen ihre Werte, wenn es um ihren eigenen Hintern geht und suchen sich die Werte aus, die ihnen im jeweiligen Moment am besten dienen, um sich selbst zu retten. Bei vielen Menschen kann man sehen, dass dieser Egoismus, diese Heuchelei noch weiter über die reine Selbsterhaltung hinausreicht bis hin zur „Selbsterhaltung“, die ihnen am genehmsten erscheint. So dass sie also ohne Rücksicht auf andere so handeln, wie es ihnen am ehesten ihrem Wohlergehen dienend erscheint. Dass die Menschen vorgeben, gemeinsamen Werten zu folgen, dies selbst auch wirklich glauben und andere, die sie anzweifeln oder verneinen, ausschließen oder zerstören, aber die Werte selbst verwerfen, wenn es ihrem eigenen Fortbestehen oder ihrer Person dient, ist einfach nur jämmerlich und heuchlerisch! Dass viele Menschen danach Schuld empfinde, sobald sie ihre alten Werte wieder annehmen, macht ihre Vergehen nicht weniger schändlich! Sie können nicht behaupten, die Wahrheit zu besitzen und sie anderen aufzwingen und sie gleichzeitig verwässern oder über Bord werfen, wenn es ihnen passt! Dann sollten sie doch gleich jeden Begriff von „Wahrheit“ relativieren und jeden so handeln lassen, wie er will!“
„Aber das geht nicht!“
Sie rief fast. Sie hatte sich seiner Lautstärke angepasst. Sie setzte sich auf und beugte sich zu ihm vor. Ihr Gesicht wirkte angespannt, ihre Augen hatten sich geweitet. Was sie durch das Fenster sah, schien sie zusehends nervöser zu machen. Sie wollte weiter reden, aber er ließ sie nicht.
„Klar geht das nicht! Nicht sofort. Jeder Mensch ist irgendwie indoktriniert! Die Welt ist geordnet, organisiert, ihr Horizont ist eingeschränkt, eingeengt. So fragen sie sich z.B. nicht mal, warum sie überhaupt etwas tun, arbeiteten, lieben, wenn sie doch sowieso sterben. Es nimmt ihnen Möglichkeiten, ihre Freiheit. Es lässt sie leiden. Und auf Grundlage wovon? Von Werten, die zweifelhaft sind und nie für richtig erklärt werden können!
Die Menschen müssen loskommen von ihrer Indoktrination und Korruption. Sie müssen ehrlich werden. Das können sie nur, wenn es keine einheitliche „Wahrheit“ gibt. Nur, wenn jeder seine individuelle Wahrheit hat, oder nicht mal das. Das ist Chaos. Ja, es ist Chaos! Aber es ist frei von Heuchelei und Korruption! Es ist für jeden gerecht!“
„Hast du....?“
Ihre Stimme versagte, weil sie verstand. Zum ersten Mal, seit sie sich trafen, war er stärker als sie.
„Ja!“, rief er. „Deshalb habe ich den Arsch getötet!“
Sie zuckte zusammen und sah aus, als wäre sie kurz davor, aus dem Sessel aufzustehen.
„Es war nichts persönliches!“, fuhr er fort. „Ich wusste, dass ich versuchen musste, von Ihnen wegzukommen! Ich musste ein Zeichen setzen, einen Anfang machen! Aber wie sollte ich das machen? Ich wusste, dass ich für den Anfang einen großen Knall brauchte, also etwas, dass Ihnen und Ihren Werten total entgegenlief. Erst, wenn ich so etwas getan und mich daran gewöhnt hätte, hätte ich einen gewissen Abstand gewonnen, um von dort aus alle möglichen Werte und Dinge auszuprobieren. Ich musste der Welt zeigen, dass ich nicht so bin wie sie! Ich musste es ihr zeigen, selbst, wenn sie mich zerstören würde. Ich musste sie inspirieren und ihr zeigen, dass ich im Vergleich zu ihr ehrlich bin!
Da hab ich den Raufbold getroffen. Er hat mich angepöbelt und nach mir geschlagen, ohne Grund, einfach so. Aber er stellte keine unmittelbare Gefahr für mich da, weil er total besoffen und orientierungslos war. Ich wusste sofort, dass er zu meinem Anfang gehören würde. Ich habe ihn beobachtet und mein Messer herausgeholt. Mein Vater war bei der Armee, er hat es mir geschenkt. Kurz, bevor ich anfing, habe ich einen Spruch darauf eingravieren lassen, eine Lebensweisheit, die ich mal irgendwo gelesen habe. Ich habe das Messer angesehen und gewusst, dass es mein Instrument war, um meine erste Grenze zu überschreiten. Der tobende Typ war die perfekte Verkörperung von dem, was ich bekämpfen wollte und dem, was ich anstrebte. Er repräsentierte in seiner Raserei perfekt die völlige Indoktrination und Unterwerfung von Trieben und die Aggression, den Hass, der daraus entstand. Und falls ich ihn zum Schweigen brächte, würde ich meine Grenze überschreiten und diesen Dingen den Kampf ansagen. Ich hab einmal zugestochen und ihn wohl voll erwischt. Dann bin ich gegangen."
„Oh Gott!“, rief sie. Sie stand auf und lief an ihm vorbei ans Fenster. Schockiert starrte sie darauf, was sie sah. Es war soweit. Endlich. Er stand ebenfalls auf und ging langsam auf sie zu.
„Gott? Sie reden von Gott? Sollte er, sobald ich gestorben bin, wirklich vor mir stehen, werde ich ihm ins Gesicht spucken, dass ich die Hölle mit offenen Armen empfange, weil die mir von ihm gegebene Existenz widerwärtiger ist als alles, was mich in der Hölle erwarten kann! Und dass er der widerwärtigste Gott ist, den es geben kann!“
Ob sie ihn noch hörte, wusste er nicht. Aber das war egal. Er sah auf seine Hand hinunter. In ihr lag sein Messer. Die Klinge war sauber, nicht blutverschmiert. Natürlich war sie das nicht. Es war ja nicht wirklich sein Messer. So wie alles hier nicht wirklich war.
Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr ins Ohr :“Willkommen.“
Dann holte er aus und rammte ihr das Messer in den Rücken. Es durchstieß sie und bohrte sich in die Wand. Es nagelte sie vor dem Fenster fest. Sie wehrte und bewegte sich kaum. Ihre Zeit war vorbei. Endgültig. Von nun an würde sie für immer aus dem Fenster sehen.
Er hatte es endlich geschafft. Er hatte sich von ihr getrennt, sich von ihr verabschiedet. Er war endlich frei. Jetzt war nur noch eines zu tun. Er packte sie am Kopf und riss ihr ihre Maske herunter. „Ehrlichkeit!“, sagte er und betrachtete ihr wahres Gesicht. Ihr Gesicht, das sein Gesicht war und nun für immer das sehen würde, was er sah. Er atmete tief durch und sah aus dem Fenster. Bei dem Anblick fiel ihm etwas ein und er sah zu seinem Messer hinunter, dass in ihm steckte. Er konnte den Spruch sehen, der in den Griff graviert war. Er sah wieder hinaus und dachte, dass diese Weisheit dies perfekt beschrieb. „Leben ist kein Stilleben, alles fließt“, murmelte er. Er sah es sich noch eine Weile an, dann wandte er sich ab. „Ich denke, ich werde mal hinausgehen.“ Er verließ den Raum.