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Das letzte Gefecht
Die Nacht ist da. Jetzt wird es Zeit. Wieder einmal Training, dieses elende Training – sowie in all den Nächten zuvor. Ich kann kaum noch schlafen, solange schon nicht mehr. Seit diesem einen Tag – als also die Sonne schien, und mich ein paar Wichser überfielen. An euch Wichser: X, Y, Z – an euch denke ich also. Ich werde euch kriegen und vernichten. Sobald ich stark genug bin, mache ich euch fertig. Bis dahin lerne ich. In diesem Keller ist der Boxsack das X, dieser Holzklotz Y und der Schatten, den ich mit meinem Messer steche, das Z. Ich werde euch töten, ich werde euch aufschlitzen, ausbluten lassen, nachdem ich euch den allergrößten, allerschlimmsten Schmerz angetan habe.
Bildet ihr euch darauf etwas ein? Ihr seid letztlich nur Maden. Ihr seid Auswüchse, Symptome, einer viel größeren Sache – der Dunkelheit selbst! Wenn es Nacht ist, wie jetzt, dann muss ich einfach wach sein, um mich ihr stellen zu können. Wer sagte die Nacht wäre friedlich? Ihr geht alle raus, ihr geht Party machen, ihr geht zu irgendwelchen Anlässen. Doch alles läuft darauf hinaus, dass ihr irgendein Unheil anrichten könnt. Männer, Frauen, Junge, Alte, Bucklige oder Sportliche, Arschficker oder Leckschwestern – ihr seid alle in irgendetwas böse. Sogar ich bin böse, dafür, dass ich asozial bin. Diese Gedanken habe. Ich will Schmerzen verbreiten und töten, ja – jedoch nur, weil ich mich verteidigen muss. Meine Bosheit habe ich zu einem Selbstschutz umgewandelt. Daraus ziehe ich meine Kraft. Ich muss mich einfach verteidigen!
Wenn ich übe wie jetzt, das übliche Programm, Nahkampf in allem, dann denke ich an das, was mich hierhergetrieben hat. Es ist eine gute Einsamkeit, denn sie hat einen Sinn. Irgendwann wird es zu einem großen Gefecht kommen, einem großen Kampf, dem letzten Kampf, indem sich alle gegenseitig verprügeln und vernichten werden. Darauf muss ich vorbereitet sein. Das Leben ist nicht lebenswert, aber ich kann nicht anders: Auch jemand wie ich will überleben. Die Angst vor einem selbstgewählten Tod ist viel zu groß.
Tagsüber recherchiere ich. Auch trinke ich viel Bier, um bald einzuschlafen. 14 Uhr, und es sind schon vier Flaschen. Ich brauche sie, denn jetzt kommt die schwerste Zeit. Das sind die schwersten Stunden. Aufstehen, pissen, die Jalousien runtermachen. Döse etwas. Ich kann aber kaum schlafen. Es ist ironisch, dass es damals tagsüber passierte, als sie mich verprügelten, ausraubten, durchfickten, aber vor allem: mich auslachten. Ich habe mehr Angst vor dem Tag als vor der Nacht, mittlerweile, obwohl es früher anders war. Wie es dazu gekommen ist? Keine Ahnung. Soll ich über meine bescheuerten Eltern nachdenken? Widerwärtige Feiglinge. Ich hasse sie. An sie denke ich so gut wie nie. Sie sind weit weg.
Nein, ich muss mich fokussieren – fokussieren, um etwas Schlaf zu finden. Heute Abend werde ich nämlich einen weiteren Schritt machen: Ich werde hinausgehen und Patrouille machen. Es ist eine heruntergekommene Nachbarschaft, aber irgendjemand muss schließlich auf sie aufpassen.
Schlaf ein! Aber ich kann nicht. Ich bin unruhig. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Wie können alle nur so ruhig bleiben? Na, ich sollte es besser wissen: Sie geben nur vor so ruhig zu sein. Sie sind es nicht, in keinster Weise! Schon wieder stehe ich am Fenster. Da unten, eine Fotze. Ich würde ihr gerne ins Maul ficken. Sie ist so arrogant und eingebildet und glaubte sie wäre etwas Besseres, nur weil sie gut aussieht, und sich ein teures Smartphone leisten kann, mit dem sie ihre ach-so tollen Freunde aus der Oberstadt anruft. Hure! Sie glaubt wirklich es wäre wichtig was sie tut. Doch wie kann sie nur so ruhig bleiben?
Zurück ins Bett, verdammt noch einmal! Der YouTuber soll quasseln, bis ich wegdöse.
Irgendwie hat es funktioniert. Aber jetzt nicht mehr lange ausharren. Raus aus dieser schäbigen Wohnung. An der Haustür wartend, schaue ich immer zu beiden Seiten hin. Die Straße ist leer, aber es ist so eindeutig vorstellbar wie die Armeen von dort nach da stürmen. Verhüllte, Vermummte, wie bei den großen Demos, schlagen dann aufeinander ein. Ich stehe mitten drin. Dazu wird es irgendwann kommen, und dann muss ich darauf vorbereitet sein. Es gibt einige die behaupten, die Menschen seien viel zu lethargisch dafür geworden – für solche großen Kämpfe. Zu lethargisch und zu feige. Nur diese Behauptenden spüren und riechen nicht in dieser Gegend. Das Üble ist immer da. Sie werden kommen.
Jetzt die Übungen. Wie, schon 21 Uhr? Das ging schnell, aber im Winter wird es auch früh dunkel. Es könnte der letzte Winter sein. Nun die praktische Übung! Kapuze überziehen, damit man mir nicht so leicht ins Gesicht sehen kann. Soll ich auch den Schläger mitnehmen, den Baseballschläger? Damit würde mich so schnell keiner attackieren, auch nicht die drei Hurensöhne, sofern ich sie denn noch einmal hier sehe. Draußen ist es kalt. Ich nehme ihn besser mit.
Ja! Seht euch sie jetzt an! Nur ein kleiner Schritt hinaus, und die, die mich sehen, weichen. Sie sehen nicht oft einen kampfbereiten, disziplinierten Recken, der sich, wenn nötig, wehrt. Ich will in Ruhe gelassen werden, genauso wie ihr Anderen auch. Guckt nicht so! Ich weiß nur, wann es richtig ist, bereit zu sein.
Um ein paar Ecken bin ich nun gezogen, aber wo sind diese Hurensöhne? Ich zittere, aus Furcht, ja, gebe ich zu, ebenso aber auch, weil ich wütend bin. Heute will ich endlich herausfinden, wo sich diese Bastarde aufhalten; zumindest den ersten Schritt machen. Wen kann ich dazu befragen? Vielleicht die Nutten, die ihre Ärsche anbieten. Dann gibt es noch die Kids, die nichts Besseres mit sich anzufangen wissen, als Belästigung durch ihre bescheuerte Musik. Auch redet man von einem Dealer, den ich finden könnte. Schließlich die Bar, ein heruntergekommener Schuppen mit veralteter Neonbeleuchtung.
Die Nutten lachen über mich, als ich sage, dass ich sie nicht ficken, sondern nur befragen will. Sie nehmen den Baseballschläger nicht ernst. Sie heulen, dass das Ficken ihr Geschäft ist? Warum seid ihr dann so zynisch, ihr Löcher? Lernt etwas Anständiges! Geht endlich in den Protest! Aber ihr lasst euch ja auch einlullen, nur zu einer anderen Front hin, die unfehlbaren Weiber gegen die ach-so-mächtigen-aber-eigentlich-doch-armen-Würstchen Männer.
Und auch die Kids nehmen mich nicht ernst. Ein paar blöde Sprüche. Ich hasse mich dafür rückwärts fortgegangen und, auch von ihnen, ausgelacht worden zu sein.
Den Dealer finde ich gar nicht erst.
Es ist eine lächerliche Ausbeute in dieser Nacht.
Und ein neuer Tag, der erste eines neuen Monats. Dezember. Weihnachtszeit. Es hat keinen Sinn zur Arbeit zu gehen, aber ich sollte wohl. Will ich jedoch noch weiterleben, im nächsten Jahr? Für einen Monat reicht die Miete noch. Ich muss meinem Ziel nun näherkommen. Zeit für ein Tagesprogramm.
Stunde um Stunde also: Trainieren, wachsam sein, mich festigen. Ich war nie eine Kämpfernatur, aber man muss sich hüten. Seit ich das begriffen habe, kann ich wenigstens in dieser Hinsicht von einem Erfolg sprechen. Deshalb musst, du Idiot, dich auch nicht so feige fühlen! Dir fehlt einfach nur Mut und Wille dich durchzusetzen! Heute Nacht! Da muss es soweit sein!
Die Nutten lasse ich dieses Mal aus, zu den Kids gehe ich gleich. Frohe Weihnachten, ihr kleinen Scheißer! Wo sind sie?! WO?!?!?!?!??!??!?!?!
Was…? Einer schon längst tot, und die Anderen – weg? Sicher? Ich glaube ihnen nicht. Ich schreie. Ich schreie sie nieder und wedele mit dem Baseballschläger herum. Alles nur Halbstarke. Sie sind zu fünft, jung und dynamisch, in bester Frische, und könnten einen Mittdreißiger wie mich ganz leicht fertigmachen. Aber sie sind eben unreif, so wie ich lange brauchte um zu reifen, aus ihrem elendigen Zustand hinaus. Keiner greift mich an. Sie sind sehr hörig. Aber was sie sagen, gefällt mir nicht. X, Y und Z sind Kleinkriminelle, Besoffene gewesen, die sich jetzt in eine andere Stadt verzogen haben; einer eben schon tot. Um meine Rache bin ich betrogen. Die Kids wissen gar nicht, was sie getan haben.
Ich gehe noch eine ganz lange Zeit durch diese Nacht, die immer kälter wird, und sich um mich zusammenzieht. Mir will einfach nicht klarwerden, wie diese Gleichgültigkeit dort auf der anderen Seite der Fenster und Türen über mich herfallen wird. Doch sie wird es, früher oder später.
Weihnachten naht. Aber ich kann mich nicht freuen. Es wäre sowieso das x-te Fest in Folge, welches ich allein zubringe. Nein, was mich belastet, ist die Ungewissheit, die dort draußen lauert. Das, was im Fernsehen läuft, bestätigt mich nur: Viren und Krieg in der Welt dort draußen, und hier, in der Stadt, ein Mann, der vor Verzweiflung von seiner shoppenden Freundin freiwillig – freiwillig! – in den Tod gesprungen ist. Es ist doch klar, dass die moderne Kriegsführung im Kleinen durch die Kleinen aus hinterhältiger Guerillataktik besteht. X, Y und Z waren wenigstens noch Manns genug offen ins Gefecht zu treten. Aber diese Anderen? Schleichende Giftmischer, das sind sie! Seit fast drei Jahren, drei endlosen Jahren, bereite ich mich auf das letzte Gefecht vor, das definitiv kommen wird. Wann wird es soweit sein? Mittlerweile glaube ich: Es kommt gar nicht mehr. Eher belagern sie mich, hungern mich aus.
Die frische Nachtluft tut mir nicht gut. Sie klart meine Sinne zwar auf, aber die fiesen Fratzen der wenigen Passanten hier draußen wirft mich nur zurück. Über die Schulter muss man oft schauen. Ich gehe an den Stadtrand, an den Fluss, und sehe mit betroffener Miene über die kleinen Wellen, die hier geschlagen werden. Die große Erde dreht sich, und ich frage mich, ob ich noch einmal irgendwo bin, glücklicher, weniger gequält. Wenn ich mich jedoch umdrehe, dann sehe ich die verruchte, sinistere Stadt. Weihnachten? Ihr heuchelt alle, von morgens bis abends.
Nein, ich gehe wieder zurück, in meinen Keller, nehme den alten Karton, und übe, mit meinem Baseballschläger, wie man Köpfe zertrümmert, beziehungsweise wie sich anfühlen mag und wie man es möglichst optimal tut. Das letzte Gefecht wird kommen. Alles dreht sich weiter, aber nicht für mich immer. Vorbereitet muss ich sein. Wenn sie ihre Masken doch noch fallen lassen, die Nutten, die Jungen, die Verführer, dann werde ich mich gehörig zu wehren wissen. Ich mache das alles nicht mehr einfach so mit. Keine Ahnung, wie ich über den Monat kommen werde. Irgendetwas wird mir schon einfallen. Ich muss nur wachsam bleiben. Vielleicht wird es den Vermieter treffen, wenn ich erahne, dass er mir etwas Böses antun will. Hat er das nicht schon? Immerhin bringt er mich nicht um. Ich wohne weiter in diesen vier Wänden, bis zum neuen Jahr, das ohnehin nichts bringen wird. Alles ist übel.