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Das letzte Aufgebot
Eine Gruppe erschöpfter Männer schleppte sich über eine matschige Straße durch einen Wald. Wie beschämt verbargen sie ihre zerrissene Kleidung und zerschlissene Rüstungen unter Wolldecken, die sie vor der immer stärker werdenden Kälte schützen sollten. Einer von ihnen trug eine große Pike, an der ein ausgeblichenes Banner kraftlos herabhing. Zwei weitere zogen einen Karren, auf dem Truhen und Säcke verstaut waren. Sie marschierten langsam in einer losen Kolonne, ohne jegliche Andeutung einer militärischen Disziplin. Ihre Rucksäcke und Umhängetaschen waren beinahe leer, ebenso wie die Trinkschläuche, die sie nah am Körper trugen. Sie befürchteten, dass ein plötzlicher Kälteschub das Wasser einfrieren und sie ohne den letzten Vorrat hinterlassen würde. Am Kopfende der Kolonne befand sich ein Mann, der sich von den anderen unterschied. Zum einen ritt er auf einem Pferd, dem letzten des Trupps. Zum anderen sah seine Kleidung und Ausrüstung nicht so kaputt aus, wie die der anderen. Das Lederwams über dem Kettenhemd hatte nur einige wenige Risse durch Schwerthiebe, der Helm trug einige Dellen zur Schau und der Schild war noch mit einem erkennbaren Wappen versehen.
Dieser Mann hieß Korthand und war der Hauptmann dieses traurigen Haufens, der mal eine Kompanie königlicher Soldaten gewesen war. Doch nach den zahlreichen Gefechten und den beiden großen Schlachten blieben von einst hundert Mann gerade mal vierzehn am Leben. Also bekam Korthand den Befehl, seine Kompanie wieder mit Rekruten zu füllen. In den letzten Jahren lief es wie folgt ab: die Einheit, die es aufzufüllen galt, durchforstete Dörfer und Siedlungen und zogen so viele wehrfähige Männer ein, wie sie es für richtig hielten. Der Auftrag lautete, wieder mit hundert Mann zurückzukehren. Doch Korthand hatte kein Glück. Nicht nur, dass er in den letzten Dörfern nicht einen Mann zwischen vierzehn und sechzig vorfand, verweigerte man ihm im letzten Dorf sogar noch die Vorräte für seine Soldaten. Nur mit Mühe konnte er seine Männer beruhigen und wegführen, ohne dass jemand zu Schaden kam. Doch ein weiteres Mal würde es vermutlich nicht klappen.
Als die Soldaten um eine Biegung der Straße liefen, kam ein kleines Dorf in Sicht. Etwa ein Dutzend Wohnhütten und nochmal genauso viele zusätzliche Bauten auf einer Waldlichtung, mehr war das nicht, aber Korthands Männer versprachen sich davon Ruhe und Nahrung. Mit einem mulmigen Gefühl ritt Korthand voraus und betete inständig zu den Göttern, dass die Bauern hier den Soldaten geben würden, was sie brauchten, damit es zu keinem Blutvergießen kam. Während die Soldaten sich dem Dorf näherten, brachen die Menschen ihre Feldarbeit ab und liefen zu ihren Hütten. Früher haben die Menschen die Soldaten fröhlich begrüßt und am Wegesrand gewunken, doch diese Zeiten sind lange vorbei. Nun meiden Menschen die Soldaten meistens oder ergreifen bei ihrer Annäherung manchmal sogar die Flucht.
Korthand blickte nach hinten zu seinem Offizier.
„Leutnant Mereas, lasst die Männer Haltung annehmen! - befahl er – Wir sind Soldaten der Königlichen Armee und keine Straßenräuber.“
„Jawohl, Hauptmann!“ - gab der Alte zur Antwort und bellte einige Kommandos. Ohne besonderen Eifer nahmen die Männer wieder die vorgeschriebene Marschformation ein und der Bannerträger hielt sogar das Banner etwas aufrechter in die Höhe, sodass es ein wenig im Wind wehte. Korthand blickte das Banner an. Er sah kein stolzes Zeichen einer großen Nation, sondern ein tödlich verwundetes Wesen, das sich noch einmal aufstellte, um nicht kniend unterzugehen. Dieser Anblick versetzte ihm ein Stich ins Herz. Doch er schaffte es, die aufsteigenden Gefühle zu unterdrücken, schließlich musste er Haltung wahren.
Am Dorfplatz hatten sich mittlerweile die Bewohner versammelt, alles Frauen, Kinder und Greise. Doch vor der Menge stand ein älterer Mann mit einem Hackebeil in der Hand. Nach den alten Rekrutierungsnormen war er bereits zu alt, um eingezogen zu werden, aber die neuesten Normen gaben dem rekrutierenden Offizier die Vollmacht, Rekruten nach eigenem Ermessen einzuziehen. Die Soldaten marschierten auf den Platz und nahmen Aufstellung, während Korthand vom Pferd stieg und die Zügel an Mereas übergab.
„Untertanen unseres Königs! - rief Korthand die einstudierte Weise – Unsere Heimat ist in Gefahr und die Königliche Armee kämpft seit Jahren hart und erträgt alle Entbehrungen, um euch ein ruhiges Leben jenseits des Krieges zu gewährleisten! Wir haben unsere Pflicht getan und nun sind andere an der Reihe! Der König höchstpersönlich ruft euch dazu auf, sein Heer für eine letzte Anstrengung zu unterstützen! Er erinnert euch an euren Treueeid ihm gegenüber, an eure Liebe zu eurer Heimat und an euer Ehrgefühl. Die königliche Weisung, dass jeder, der im Heer des Königs gekämpft hat, ein eigenes Stück Land erhalten soll, hat immer noch Gültigkeit. Erfüllt also eure Pflicht vor eurer Heimat und vor dem König und verdient euch eine Zukunft in Wohlstand für eure Familien!“
Niemand sagte etwas. Die Dorfbewohner schauten die Soldaten besorgt, beinahe schon ängstlich, an. Die Soldaten blickten teils gleichgültig, teils erwartungsvoll, zu den Dorfbewohnern rüber. Es blieb still, bis Korthand sich räusperte und den alten Mann mit dem Hackebeil direkt ansah.
„Würdigt ihr die Worte eures Königs nicht einmal einer Antwort?“ - fragte er.
„Wir hörten oft die Worte des Königs. - sagte der Alte – Aber selten haben wir die Zuneigung des Königs erfahren. Obwohl wir nicht kämpfen, ist unser Leben wegen des Krieges gezeichnet. Alle Männer sind fortgegangen und nicht wiedergekehrt. Die Frauen, Kinder und Alte müssen nun die Höfe verwalten und wir arbeiten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ohne Rast. Immer wieder kommen Soldaten vorbei, die einige von uns mitnehmen und uns unsere Vorräte wegnehmen, wenn wir ihnen nicht freiwillig alles hergeben, was sie verlangen. Was ist das für ein Leben jenseits des Krieges, was ihr verteidigt?“
„Ich höre den Vorwurf in deinen Worten und ich verstehe ihn. - sagte Korthand – Ich leide mit euch, das könnt ihr mir glauben. Doch der Krieg wird bald enden, glaubt mir. Der Feind steht bereits vor unseren letzten Verteidigungslinien. Wenn wir ihn abwehren und ihm große Verluste zufügen können, werden wir leicht Frieden schließen können.“
„Warum können wir nicht jetzt schon Frieden machen?“ - rief eine Bäuerin.
„Ja, warum können unsere Männer und Söhne nicht wiederkehren?“ - stimmte eine andere zornig mit ein.
„Sobald der Krieg zu Ende ist, werden alle Soldaten, die es wünschen, nach Hause zurückkehren. - rief Korthand – Und ihre Kriegsbeute dürfen sie selbstverständlich behalten.“
„Wenn sie den Krieg überleben! Wer sagt, dass sie nicht gefallen sind?“ - schrie eine andere ältere Bäuerin schluchzend und brach unter Tränen zusammen.
Korthand wartete, bis die Bäuerin in eine Hütte gebracht wurde, und wandte sich wieder dem Alten mit dem Hackebeil zu. Er hasste sich bereits für das, was er gleich sagen würde.
„Meine Männer brauchen Verpflegung und wir suchen nach Rekruten. - sagte er – Bringen wir es hinter uns.“
Der Alte sah Korthand mit einem seltsamen trotzigen Blick an.
„Wir haben keine Vorräte. - sagte er – Und Männer im Rekrutierungsalter haben wir seit Jahren keine mehr, alle wurden bereits eingesammelt.“
Die gleichen Worte hatte Korthand im letzten Dorf gehört. Und in dem davor. Doch er konnte diesmal nicht einfach weggehen. Seine Männer litten bereits Hunger und wenn es so weiterging, würde er das gesamte Königreich durchqueren müssen, bis er die Kompanie wieder aufgefüllt hatte. Bis dahin würde auch der Krieg bereits vorbei sein. Inoffiziell hatte man ihm gesagt, dass er nur einige Monate Zeit hatte und ein Drittel der Frist war bereits verstrichen. Korthand schloss die Augen und betete um die Gnade der Götter. Er wusste, dass ihm keine Wahl mehr blieb.
„Leutnant Mereas, - rief er mit fester Stimme – stellt fünf Mann ab, um das Dorf nach Vorräten und Rekruten zu durchsuchen. Führt die Durchsuchung an.“
„Jawohl, Hauptmann.“ - sagte Mereas und wählte die Männer aus. Die Soldaten setzten sich in Bewegung und einige von ihnen grinsten wie Wölfe beim Anblick von Schafen. Korthand hoffte, dass Mereas genug Anstand hatte, um Entgleisungen jeglicher Art zu verhindern.
„Sag mal, Hauptmann. - sprach ihn der Alte mit dem Hackebeil an – Für welchen König kämpfst du?“
Korthand sah den Alten an, als hätte er soeben gefragt, warum Menschen zwei Arme und zwei Beine haben.
„Ich bemühe mich, diese Frage nicht als Verrat anzusehen.“ - sagte er daraufhin scharf und wandte sich vom Alten ab, um ihm anzudeuten, dass das Gespräch vorbei ist. Doch der Alte ließ nicht locker.
„Nein, - sagte er – ich meine, welcher König herrscht gerade? Doch nicht der, der den Krieg begonnen hat?“
Korthand zögerte.
„König Rosnadun III fiel in der Schlacht an den Grünen Hügeln vor sieben Jahren. - sagte er – Sein Sohn Haltaf übernahm den Thron.“
„Doch er ist ebenfalls tot. - sagte der Alte.
„Ja. - gab Korthand zu – Er starb an Wundbrand nach der Schlacht von Golthrand, als die Stadt belagert wurde. Wir konnten sie nur durch ein Wunder verteidigen.“
„Und Haltafs Sohn wurde dann König, nicht wahr?“ - ließ der Alte nicht locker.
Korthand wusste nicht, wohin das Gespräche führen sollte.
„Ja. - sagte er widerwillig – Tonagund II führte uns in viele siegreiche Schlachten. So konnten wir das Blatt noch einmal wenden.“
„Aber dann starb er?“ - fragte der Alte.
„Wie heißt du eigentlich?“ - fragte Korthand den Alten in dem Versuch, das Thema zu wechseln.
„Angus, Sohn des Angrad.“ - antwortete er.
„Du stellst seltsame Fragen, Angus.“ - sagte Korthand mit warnendem Unterton in der Stimme.
„Ich stelle seltene Fragen, die gestellt werden müssen. - gab Angus zurück – Wer sitzt nun auf dem Thron?“
„König Widulind, der Bruder von König Haltaf. - sagte Korthand schließlich – König Tonagund II fiel in der Schlacht am Quellberg und, da er keinen Erben hinterließ, ernannte er seinen Onkel persönlich zu seinem Nachfolger.“
„Wer sagt denn das, wenn er doch gefallen ist?“ - fragte Angus.
„Zweifelst du etwa am Wort des Königs?“ - fragte Korthand mit unverhohlener Drohung und machte einen Schritt auf Angus zu. Dieser rührte sich nicht vom Fleck.
„Ich vertraue auf das Wort von König Tonagund II. - sagte Angus – Er nahm einst einen Ziehsohn auf, dem er die Königswürde übergeben wollte.“
„Woher willst du das wissen?“ - fragte Korthand.
„Weil ich einst an der Seite des Königs gestanden habe, als er diese Worte sprach. - sagte Angus.
„Bist du etwa ein Fahnenflüchtiger?“ - fragte Korthand und legte eine Hand auf den Schwertgriff.
„Ich wurde wegen meines Alters vor drei Jahren aus der Armee entlassen, Hauptmann.“ - gab Angus zurück.
Es wurde still am Dorfplatz.
„Das hättest du nicht sagen dürfen, Angus. - sagte Korthand – Seit fünf Jahren wurde niemand aus der Armee entlassen, wenn er noch alle Arme und Beine hatte. Ich muss dich verhaften wegen Verdacht auf Fahnenflucht. Du weißt ja, dass Gefängnisstrafe momentan in Kriegsdienst umgewandelt wird. Ich werde dich also in Ketten zur Armee bringen. Soldaten, legt diesem Mann die Handschellen an!“
Sofort setzten sich einige Soldaten in Bewegung, brachten Angus an den Karren und legten ihm Ketten an.
"Widulind ist ein Thronräuber! Der Ziehsohn von König Tonagund II ist der wahre König!" - schrie Angus immer wieder, bis die Soldaten ihn mit Schlägen und Tritten zum Schweigen brachten.
Am anderen Ende des Dorfes entstand ein Tumult. Korthand sah Soldaten, die mit Säcken beladen waren und Mereas, der einen Jungen vor sich herschob, während er eine Bäuerin grob weg schubste, die sich weinend an ihn klammerte. Sie ließ nicht los und wehrte sich heftig. Dann schleuderte Mereas den Jungen zu Boden, drehte sich der Bäuerin zu und schlug sie mit seinem mit Kettenschutz verstärkten Handschuh hart ins Gesicht. Die Bäuerin brach zusammen und blieb schluchzend liegen. Mereas brachte indes ungerührt den Jungen an den Karren und kettete ihn fest. Auch dieser wehrte sich und schrie, hatte aber dem starken und kampferfahrenen Offizier nichts entgegenzusetzen. Er war höchstens fünfzehn. Die Soldaten hatten die Säcke bereits auf den Karren geworfen und erwarteten weitere Anweisungen.
Korthand hielt es nicht mehr aus.
„Wir sind hier fertig! - brüllte er über das Geschrei und die Klagen der Bauern hinweg – Kompanie, fertig machen zum Marsch!“
Die Soldaten stellten sich auf und Korthand stieg wieder auf sein Pferd. Dann gab er den Marschbefehl und die Männer setzten sich in Bewegung. Sie würden heute irgendwo im Wald nächtigen und die Männer würden es nicht mögen, wo sie doch hätten im Trockenen schlafen können. Aber Korthand konnte dort nicht bleiben, nur die Götter wissen, was die aufgebrachten Bauern noch tun würden und zu was es ihn zwingen könnte. Besser war es, sofort zu gehen.
Zuletzt ritt er noch zu der Bäuerin, die von Mereas geschlagen wurde.
„Ich werde auf den Jungen aufpassen. - sagte er – Er wird zurückkehren.“
„Gebt mir meinen Sohn zurück, ich flehe Euch an, Herr!“ - bettelte die Bäuerin, während ihr Blut und Tränen über das schlammbedeckte Gesicht liefen.
„Ich passe auf ihn auf.“ - sagte Korthand und wollte sich abwenden, als das Gesicht der Bäuerin sich wandelte und zu einer Fratze aus Hass und Abscheu wurde.
„Fahr zur Hölle! - spie sie aus – Meinen Mann habt ihr euch bereits geholt, genauso wie vier meiner Söhne! Und nun nehmt ihr mir auch den letzten Sohn weg und schickt ihn zur Schlachtbank! Wie viel unseres Blutes will der König noch fressen, wann hat er endlich genug?“
„Sie ist wirr. - sagte Korthand zu einer anderen Bäuerin – Bringt sie weg.“
„Verflucht seid ihr, ihr alle! - brüllte die Frau wie am Spieß – Wer folgt schon einem zerrissenen Banner, um nutzloses Wissen in staubigen Regalen oder die weißen Kleider auf blaublütigen Schultern zu schützen? Nur Wahnsinnige! Und dreimal wahnsinnig ist der, der Kinder mit sich in den Tod schleppt! Wann hört es auf? Wann hört ihr auf, Ruinen zu beschützen und sie mit dem Blut unserer Väter, Söhne und Männer zu bestreichen?“
Korthand hatte keine Antwort. Und er konnte auch den beinahe wahnsinnigen Blick der Mutter nicht ertragen, der er gerade ihren letzten Sohn wegnahm. Er wandte sich ab und ritt seinen Männern hinterher. Auch als das Dorf längst aus ihrer Sicht verschwunden war, war es dem siebzehnjährigem Hauptmann, als würde er die anklagende Stimme der Frau immer noch hören können.