Das Leck im Boot
Die See ist ruhig und die Sonne strahlt am wolkenlosen Himmel.
Ein Junge, gerade einmal 16 Jahre alt, befindet sich mit vier weiteren Personen auf einem Holzboot.
„Wohin fahren wir?“, fragt der Junge einen Mann.
Während der Mann rudert sagt er: „Zu der Insel. Zu der Insel auf der es alles gibt, was wir brauchen und begehren. Auf dieser Insel werden wir in Zufriedenheit und Glück leben.“
„Und wann kommen wir an? Wir sind schon so lange unterwegs, ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir wir losgefahren sind.“
„Anstatt zu meckern, könntest du mit rudern. Von nichts kommt schließlich nichts.“
Als der Junge ein zweites Paar Paddel sucht, entdeckt er ein Leck im Boden. Es ist nur durch genaueres Hinsehen zu erkennen und doch groß genug, dass Wasser durchsickert. Der Junge gerät in Angst.
„Da ist ein Leck im Boden“, der Junge zeigt auf die Stelle.
„Ach, das war schon immer da.“
„Das Leck war schon immer da? Wieso kümmert sich keiner darum? Warum fährt man ohne Leck überhaupt los?“
„Jetzt lenke mich nicht vom Rudern ab. Bis dieses Leck zur Gefahr wird, sind wir schon angekommen!“ , schreit der Mann.
Völlig erschreckt, wendet sich der Junge vom Mann ab und spricht eine junge Frau an, welche völlig vertieft ein Kreuzworträtsel löst.
„Entschuldigung?“
Keine Reaktion.
„Entschuldigung?“
„Ja, was gibt’s?“ , die Frau schenkt ihm keinen Blickkontakt.
„Siehst du dieses Leck? Es bereitet mir Sorgen. Wenn wir nichts tun, werden wir untergehen.“
Die Frau schielt nach rechts rüber. „Ich sehe da nichts.“
Der Junge ist von ihrer Ignoranz überrascht und wendet sich zu einem älteren Herrn und sagt ihm: „Da ist ein Leck im Boot. Wenn wir nichts tun, gehen wir unter.“
Der älterer Herr antwortet: „Hab keine Angst mein Kind. Das ist nicht das Ende. Unter dem Wasser werden wir erwartet. Die Insel, die alle vergeblich suchen ist nämlich dort.“
„Ich verstehe nicht.“
„Nicht verstehen, glauben mein Kind. Alles was zählt ist, dass wir geliebt und angenommen sind. Der Glaube lässt dich dieses Leck ertragen. Wir werden erlöst werden.“
Der Junge ist verwirrt und seufzt. Er versteht die Welt nicht mehr. „Wir haben ein Leck und niemand tut was dagegen“, murmelt er verzweifelt vor sich hin.
„Ich weiß, es ist nicht leicht für dich.“
Der Junge dreht sich um und sieht einen Mann mit Schiebermütze, aufgeknöpftem Hemd und Zahnstocher im Mund. Der Kopf des Mannes ist entspannt an seine verschränkten Arme nach hinten angelehnt. Die Mütze verdeckt einen Großteil seiner Augen. Dieser Mann ist ihm vorher nicht aufgefallen.
„Bitte hilf mir. Niemand kümmert sich um das Leck! Wir werden untergehen!“
Der Mann mit der Schiebermütze rührt sich nicht.
„Hast du denn keine Angst?!“
Der Mann ändert seine Sitzposition und schiebt die Mütze hoch.
„Na klar habe ich das. Aber gegen das Leck können wir nichts tun. Uns fehlen die Mittel dazu. Nutze die Zeit, bevor das Leck fatal wird.“
„Und wie nutze ich meine Zeit?“
„Das musst du entscheiden. Die meisten suchen die Insel, andere wiederum geben die Suche auf und vegetieren auf dem Boot.“
„Du glaubst wir werden sie nicht erreichen?“
Nach einem Zögern, antwortet der Mann: „Ja, und trotzdem sehne ich mich nach ihr“.
„Haben wir denn keine Karte?“
„Nein. Keine Karte, kein Kompass. Wir wissen nicht wo die Insel liegt. Es gibt nicht einmal jemanden, der von seiner Erfahrung auf der Insel berichtet hat. Die Insel ist wie ein Mythos, den alle weitererzählen. Ich für meinen Teil zweifel an ihrer Existenz.“ Die glücklich klingende Stimmlage des Mannes überdeckt seinen Frust.
Der Junge ist schockiert: „Warum springen wir dann nicht von Bord? Wozu auf das Ende warten? Wozu auf diesem Boot vegetieren? Das hat doch alles keinen Sinn!“
„Erstens hält dich dein Überlebenstrieb davon ab. Zweitens kann ich mit der Annahme, dass es keine Insel gibt falsch liegen. Hoffentlich liege ich falsch.“
„Danke für die tolle Aufmunterung.“, sagt der Junge ironisch.
Der Mann muss schmunzeln.
„Hast du eine alternative Ansicht? Willst du dir lieber einreden es gäbe eine Insel, einen Rettungsring oder das Leck repariere sich von selbst? Obwohl nichts dafür zu sprechen scheint?“ , sein ironisch wütender Ton erlischt. „Auch wenn sie unschön ist, halte ich sie für überzeugend. Du doch auch.“
„Wie kannst du nur die Zeit auf dem Boot ertragen?“
„Indem ich nicht dagegen ankämpfe, indem ich es hinnehme. Ich ruder gar nicht erst, sondern lasse mich vom Strom treiben. Ich achte auf meine Gefühle und denke nicht zu viel über das Leck nach. Doch manchmal lassen sich die Sorgen und Ängste nicht vermeiden.. Manchmal verzweifel auch ich. Nachts schnappe ich mir gelegentlich die Paddel und fange an zu rudern, ohne zu wissen wohin. Ich ruder und ruder, bis meine Arme brennen. Meine Seele schreit auf und ich überlege von Bord zu springen. Dennoch tue ich es nicht. Am nächsten Tag folgt ein unangenehmer Muskelkater. Letztendlich glaube ich, dass niemand diese Bürde auf dem Boot heroisch tragen kann. Aber was weiß ich schon? Ob es eine Insel gibt oder nicht, vielleicht können wir unabhängig davon eine schöne Zeit auf dem Boot haben.“
Das Gesicht des Jungen zeigt eine Mischung aus Trauer, Enttäuschung und Frust.
„Jetzt schmolle doch nicht so. Nimm das Ganze mit Humor. Genieße mit mir die Sonne und das Meer. Was haben wir denn besseres zu tun?“
Der Junge gesellt sich zum Mann und sie haben einen schönen Tag.