Das Leben wäre einfacher
“Frische Luft wird mir gut tun“, dachte sie bei sich, als sie in die kalte Luft hinaustrat. Aber war es so? Sie war gerne drinnen, in der Sicherheit ihrer eigenen, wenn auch kleinen vier Wände. Es war ihr nicht wichtig, „unter die Leute“ zu kommen oder gesehen zu werden. Es war besser unter dem Radar zu bleiben, so konnte sie Schaden begrenzen, bevor er überhaupt eintrat.
Trotzdem genoss sie die kalte Luft Wiens, als sie die Straßen entlang lief und die Stadt, die ihr manchmal immer noch fremd war, bewunderte. War Wien innzwischen ihre Zuhause geworden? Sie wünschte, sie könnte diese Frage beantworten. Jedoch gab es keine Antwort. Das Leben bestand eben nicht nur aus Ja oder Nein. Fühlte sich nicht jeder manchmal so, als würde er ein wenig zwischen den Türen stehen?
Um diese späte Uhrzeit waren kaum noch Menschen unterwegs, was ihr sowieso am liebsten war. Es war ruhig, und die sonst so belebte Stadt still zu sehen war immer ein schöner Anblick. Es war fast beruhigend, darüber nachzudenken, wie so gut wie alles und jeder einmal schlief, wenn auch nur für ein paar Stunden. Sie wusste nicht genau, warum sie gerade heute den Beschluss gefasst hatte, einen nächtlichen Spaziergang zu machen, hatte sie es sonst doch auch vermieden, sei es aus Angst vor der großen Stadt, oder einfach nur Faulheit. Vielleicht dachte sie, sie könnte ihre Gedanken ordnen, endlich eine Art Plan für ihr Leben fassen. Aber es war nicht so einfach, oder? Die Selbstzweifel fanden dem Weg in ihre Gedanken eben immer wieder. Tat sie das Richtige – hier in Wien, mit dem Studium, von dem sie sich nicht sicher war, ob sie es überhaupt schaffen konnte? Mit der ständigen Angst, den Vater zu enttäuschen der lang und hart gearbeitet hatte, um für sämtliche Unkosten aufzukommen? Mit der Schwester, die nicht einmal mehr wusste, dass sie existierte seit sie ausgezogen war?
Manchmal fühlte sie sich schuldig, dass ihr das alles kurzzeitig egal war – was für ein schlimmer Mensch musste man denn sein, um sich um einfach gar nichts zu kümmern und einfach nur abzuschalten? War es ihr jedoch wirklich egal oder war es einfach nur geschickte Verdrängung von Problemen – noch eine Frage auf die sie keine Antwort hatte. Die schienen sich in letzter Zeit ja nur so übereinander zu stapeln.
„Vielleicht sollte ich es mir einfach eingestehen“, dachte sie, als sie auf einer Brücke stand und die Donau von oben betrachtete. Vielleicht sollte sie sich einfach eingestehen, dass sie ihr Leben nicht so sehr im Griff hatte, wie sie es sich wünschen würde. Oder wie sie sich im tiefsten Inneren immer noch vormachte. Dass sie nicht das perfekte kleine Mädchen war, das sie sich so sehr wünschte zu sein, weil einfach alles einfacher wäre. Freunde, gute Noten, all das hatte sie erwartet als sie nach Wien kam um zu studieren. Aber die Realität ensprach nur selten den Ertwartungen, oder? Noch eine Sache die sie sich nicht eingestehen wollte. All das machte ihr merkwürdigerweise nicht wirklich etwas aus. Sie war gerne allein, gab nicht viel auf ausgehen und einen Ruf, sie wollte eigentlich nur ihre Ruhe. Manchmal fühlte sie sich einsam, ja, aber sobald sie darüber nachdachte wie schwierig früher alles war, überzeugte sie sich selbst wieder vom Gegenteil. Wie oft hatte sie sich deswegen schon gefragt, was wohl mit ihr nicht stimmte – sollte sich doch jeder Mensch nach einem ausgeprägten Sozialleben sehnen und ein Leben voller Freunde haben wollen. Aber sie war der Meinung, das Menschen die Dinge nur verkomplizierten. Das Leben war so viel leichter wenn man nur auf sich selbst achten musste, und nicht auch noch für das Glück anderer Menschen verantwortlich war. Sie hatte eine Freundin, denn das Leben konnte bisweilen ja doch etwas einsam werde, mehr brauchte sie jedoch nicht. Jedesmal, wenn sie andere Leute beim Feiern beobachtete, wie sie ausgelassen und ganz ohne Hintergrundgedanken ihr Leben genossen und eine tolle Zeit hatten, musste sie sich jedoch fragen „Warum will ich das nicht?“ „Warum bin ich nicht einfach so wie die anderen?“. Das Leben wäre so viel leichter, nicht wahr?
„Genug davon“, schlugen ihre Gedanken schließlich um, weil ihr langsam kalt wurde.Sie machte sich auf den Rückweg und kam zu dem gleichen Schluss wie jedes Mal: „Was soll’s, ich bin nur ein verwöhntes Kind mit Problemen, die wohl jeder ander auch hat. Ich bin nichts besonderes, nur weil ich manchmal zweifle. Da draußen gibt es Menschen, die wirkliche Probleme haben, also gibt es keinen Grund für mich in Selbstmittleid zu baden und zu denken, ich wäre der einzige der Mensch, der Mal verwirrt ist.“ Sie schloss ihre Tür auf, ging hinein, das Leben ging weiter und die Erde drehte sich immer noch um die Sonne.
So war das eben.