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Das Leben unter dem Schneeteppich
Je näher ich der Heimat kam, desto mehr befremdete mich das alles. Die roten Polsterbezüge der Sitze, das leise Rattern des Zuges, die am Fenster vorbeiziehende Landschaft. Um mich abzulenken, hörte ich zu, was die anderen Fahrgäste redeten. Alles belanglose Dinge, Dorfsachen. Mir gegenüber saß ein kleiner Junge. Im Schlaf war sein Kopf an die Schulter seiner Mutter gesunken, die daneben saß und ihm mit der Hand das Haar aus der Stirn strich. Meine Mutter war tot. Seit Dienstag. Sie hatte das Dorf bis zuletzt nicht verlassen. Sie wollte nicht, dass man sie in ein Krankenhaus bringt. Sie wollte es einfach nicht.
Die Beerdigung auf dem kleinen Friedhof war für elf Uhr angesetzt. Zwei Stunden später würde ich schon wieder im Zug sitzen. Es war alles durchgeplant. Die übrigen Dinge ließen sich auch von der Stadt aus regeln. Vater wusste es noch gar nicht. Sie sagten, er sei verreist. Ich denke nicht, dass er gekommen wäre.
Das Dorf hat einen kleinen Bahnhof. Früher konnte ich mir kein Dorf ohne Bahnhof vorstellen. Es war halb elf, als ich die Treppe vor dem Eingang hinunterstieg. Es hatte begonnen zu schneien. Die Schneeflocken landeten in Dachrinnen und auf den Hecken der Vorgärten. Sie verfingen sich in den Zweigen der Obstbäume oder schmolzen an den Fensterscheiben. Ich ging auf der Straße. Im Dorf störte es niemanden, wenn der Schnee auf dem Gehsteig liegen blieb. Ich hatte die Straße für mich allein. Um diese Zeit fuhren keine Autos. Das wusste jeder hier, besonders die Alten. Und trotzdem sah man immer wieder jemanden, der am Fenster stand und hinausschaute. Für alle Fälle.
In den Gärten standen Schneemänner, sie betrachteten mich mit Augen, die aus Kieselsteinen gemacht waren, und ich bemühte mich, ihrem Blick standzuhalten. Der Friedhof lag hinter der Kirche. Es gab zwei Kirchen im Dorf. Gäbe es nur eine, wäre das ein Skandal. Was nicht heißt, dass man regelmäßig zur Messe ging, ganz im Gegenteil. In dieser Hinsicht war das Dorf sehr fortschrittlich.
Der Friedhof ist klein und unscheinbar. Ein Fremder könnte ihn glatt übersehn. Rings um das Gelände ist eine Mauer. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, kann man einen Blick auf den Friedhof dahinter werfen. War man ein Kind, ging das nicht. Früher sind wir auf die Mauer geklettert und haben versucht, uns gegenseitig runterzustoßen. Landete man auf der falschen Seite, war das Pech. Vielleicht hat sich das nicht geändert.
Den Pfarrer kannte ich nicht. Er begrüßte mich mit ein paar mitfühlenden Worten. Ich schwieg. Vermutlich taten das die meisten in dieser Situation, jedenfalls schien es ihn nicht zu überraschen. Außer mir waren noch zwei alte Damen anwesend, deren Namen ich nicht mehr wusste. Als ich mich näherte, nickten sie mir kurz zu. In meinem Rücken hörte ich sie leise miteinander flüstern, während ich zusah, wie zwei Männer den Sarg brachten. Sie trugen ihn in etwa so, wie man ein Gummiboot trägt.
Als der Pfarrer mit seiner Rede begann, blieben die beiden in der Nähe. Irgendwann hörte ich, wie einer von ihnen leise kicherte, aber gleich darauf war es wieder still. Der Pfarrer räusperte sich und ich betrachtete den Sargdeckel, auf dem sich immer mehr Schneeflocken ansammelten. Bald waren die Buchstaben des eingravierten Namens ganz mit Schnee bedeckt. Als der Pfarrer zuende gesprochen hatte, kamen die beiden Gehilfen mit Schaufeln und schütteten das Loch mit dem Sarg darin zu. Das war es dann. Der Wind strich durch die Tannen, die man entlang der Friedhofsmauer gepflanzt hatte. Auf der anderen Seite.
In diesem Augenblick fingen die Mittagsglocken an zu läuten. Ich blickte hoch und sah, dass die anderen bereits gegangen waren. Im Schnee konnte man ihre Fußspuren sehen. Für halb eins war die nächste Beerdigung angesetzt. So lief das hier. Am Ende kamen sie alle wieder zurück.
Mir blieb eine Stunde bis der Zug fuhr. Zum Bahnhof gehen wollte ich noch nicht. Nur die Fremden warteten am Bahnhof. Ich lief zwischen den Gräbern umher. Ich betrachtete die Fotos auf den Grabsteinen und dachte, dass ich einige von ihnen gekannt haben musste, als sie noch lebten. Bald konnte ich sie nur noch anhand der Namen unter den Bildern auseinanderhalten. Die Gesichter vergaß man. Nur dieses immergleiche Fotolächeln würden sie der Nachwelt hinterlassen. Ich dachte, dass es in Wirklichkeit das Dorf war, das aus ihnen lächelte. Ein bisschen wie ein Sieger.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine zierliche junge Frau, die sich über ein Grab beugte und mit der Hand den Schnee beiseite strich, unter dem nun einige Blumen zum Vorschein kamen. Tulpen, rot und gelb und bleich von der Kälte. Als sie fertig war, stand sie auf und ging zu einem anderen Grab, wo sie dasselbe tat. Zielstrebig eilte sie von einem Grabstein zum nächsten und klopfte überall den Schnee ab. Sie schien mich gar nicht wahrzunehmen, ich lehnte an der Mauer und erschrak, als sie plötzlich neben mir stand.
Ich fasste mich und sagte: Es muss schwer für sie sein, ich meine, sie haben all diese Menschen gekannt? Die Frage war natürlich unsinnig. Ich blickte beschämt zu Boden, als sie mir den Kopf zuwandte und mich zu mustern begann, lächelnd. Du bist dumm, sagte sie und strich sich dabei den Schnee aus dem Gesicht. Das ist meine Arbeit, ich kümmere mich um die Gräber. Ich betrachtete ihren schmalen Mund und die Worte, die sich davor in kleinen Wölkchen verflüchtigten. Es war wie auf einem Bild. Das Schwarz ihrer Haare, das Rot der Lippen und im Hintergrund der Schnee bis zum Himmel. Sie arbeiten für die Toten, sagte ich. Die Toten beschweren sich nicht, sagte sie.
Sie drehte sich um und bedeute mir, ihr zu folgen. Komm, ich zeig dir was. Sie zeigte mir ihre Lieblingsgräber. Grabsteine, die von winzigen Lämpchen beleuchtet wurden, Grabsteine mit rauher und glatter Oberfläche, helle, dunkle, solche mit goldenen Schriftzügen und solche ohne. Einige efeuüberwuchert und andere von einer dicken Schneeschicht überzogen. Sie blieb stehen und deutete auf einen Grabstein zu meinen Füßen. Ich trat einen Schritt zurück und sie sagte, schau ihn dir genau an, du wirst nichts finden. Und wirklich, ich konnte keinen Namen finden, der Stein war unversehrt. Wer liegt dort, fragte ich. Sie zuckte mit den Schultern: vielleicht niemand.
Sie wischte den Schnee mit der Hand weg und starrte auf die gefrorene Erde. Wir fanden keine Blumen, natürlich nicht. Nach einer Weile hob sie den Kopf: Weswegen bist du hier? Eine Beerdigung, sagte ich. Meine Mutter, fügte ich hinzu, als sie mich fragend ansah. Zeig mir ihr Grab, sagte sie.
Es ist kein schönes Grab, sagte sie, ich sehe keine Liebe. Es war billig, sagte ich. Sie war deine Mutter, sagte sie. Ich schwieg. Sie ging über dem Grab in die Hocke und zeichnete mit dem Finger eine Blume in den Schnee. Bald wird man es nicht mehr sehen, sagte ich und deutete auf den Himmel. Das ist egal, sagte sie. Ich blickte auf die Uhr und sie sagte, sie heiße Mirta.
Mirta. Die Uhr zeigte kurz vor eins. Wenn ich nicht mit dem nächsten Zug fahren wollte...Der Zug, gluckste sie, der Zug. Schau doch mal, wieviel Schnee jetzt schon liegt, da kommt der Zug nicht durch. Es gibt hier niemanden, der den Schnee von den Gleisen schippt. Bei dem Wetter geht man nicht fort. So ist das auf dem Dorf. Nur ein Fremder kann jetzt mit dem Zug fahren wollen. Nur ein Fremder.
Ich bin kein Fremder, erwiderte ich leise, aber sie stand schon am Ausgang und rief mir zu. Was ist? Worauf wartest du denn noch?
Der Schnee auf dem Kirchplatz war zertreten von den Sohlen der nächsten Trauergäste. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen, immer wieder geriet ich ins Stolpern. Nicht so schnell, wollte ich rufen, aber der Wind hätte meine Worte vermutlich fortgetragen, wie er die Nadeln von den Tannen bliess. Das Schneegestöber wurde immer dichter. Bald hatte ich die Orientierung verloren, zu beiden Seiten der Straße verschwammen die Reihenhäuser zu grauen Kulissen. Die Hecken raschelten im Wind und der Schnee knirschte jedesmal leise, wenn die Kristalle unter meinen Füßen zerbrachen. Als ich wieder aufsah, war sie verschwunden.
Weit konnte sie nicht sein, dachte ich, während ich bemüht war, schneller voranzukommen. Der Wind legte sich wie eine Maske auf mein Gesicht und ich fragte mich, ob das, was ich roch, der Winter sei. Am Ende der Straße hielt ich an. Die Straßen verliefen sich hier fast alle irgendwann. Im Dorf hörte eine Straße genau dort auf, wo sie nicht mehr gebraucht wurde, und manchmal auch schon davor. Ich wollte nicht glauben, dass ich mich verlaufen hätte. Man verlief sich nicht im Dorf, es war schlicht unmöglich.
Ich stand knöcheltief im Schnee und versuchte im Nebel vor mir etwas zu erkennen. Ich dachte, dass es der Waldrand sein müsse. Natürlich war es der Waldrand, das Dorf war umgeben von Wald. Nachdem ich mich einmal im Kreis gedreht hatte, blickte ich in den Himmel. An solchen Tagen war es schwer zu sagen, wo genau der Himmel anfing. In meinem Rücken vernahm ich das trockene Krächzen einer Krähe. Der Vogel hatte sich auf einem nahen Bretterzaun niedergelassen, legte seinen Kopf schief und betrachtete mich mit großen schwarzen Krähenaugen. Verschwinde, rief ich, aber es half nichts. Erst, als ich ihn mit Schnee bewarf, erhob er sich und flog davon. Was machst du da, kam eine Stimme aus einem der Hauseingänge. Ich kniff die Augen zusammen und ging als einer von vielen Schatten durch den Garten auf das Haus zu.
Was hast du da draußen gemacht, fragte sie. Sie hatte ihre Jacke abgelegt und hielt sich mit einer Hand am Türrahmen, während sie sich mir entgegenstreckte. Da war ein Vogel, sagte ich, ich habe ihn vertrieben. Sie sah mich nachdenklich an und schüttelte den Kopf. Du bist eigenartig, sagte sie. Ich wollte etwas entgegnen, aber sie war schon im Haus verschwunden. Ich schob die Tür hinter mir gegen den Druck des anprallenden Windes zu und betrat das Haus.
Auf jeden meiner Schritte antwortete das Haus mit einem Seufzer. Der Boden bestand aus blanken Brettern, durch die Jahre rauh und dunkel geworden. Die Wände waren nachlässig mit Tapete beklebt, an den Deckenkanten und in den Ecken war der Putz zu sehen. Links von mir führte eine Treppe in den ersten Stock und vor mir erstreckte sich ein Gang, aus dem mehrere Zimmer abgingen. Das ganze Haus lag in einem Dämmerlicht, ich sah keine Fenster. Nimmst du Kaffee, fragte sie aus einem der Räume, die Küche, dachte ich. Wie kahl die Wände waren, keine Bilder, nichts.
Sie deutete auf den Tisch und wir setzten uns. Das Wohnzimmer hatte zwei Fenster. Eines ging auf die Straße und eines auf das Grundstück nebenan. Außer dem Tisch und den Stühlen, auf denen wir saßen, gab es noch ein Regal und eine Kommode, auf der ein Kassettenrecorder stand. Was ist, fragte sie, hast du ein Grammophon erwartet? Nein, natürlich nicht, sagte ich. An der Wand neben der Tür entdeckte ich ein Telefon.
Sie nahm einen langen Schluck aus der Tasse und stellte sie dann langsam zurück auf den Unterteller. Ich betrachtete das Muster der Tischdecke. Rote Karos mit Doppelstreifen.
Du kannst über Nacht hier bleiben, sagte sie. Ich schreckte hoch. Aber der nächste Zug. Ich verstand nicht. Es gibt keinen nächsten Zug, sagte sie, bei dem Wetter fahren hier keine Züge, du wirst dich gedulden müssen. Sie sah zufrieden aus und rührte mit dem Löffel in ihrer Tasse herum. Die Tasse war leer und es gab jedesmal ein leises Klicken, wenn der Löffel an den Rand schlug. Dann werde ich eben ein Taxi rufen, sagte ich, das Telefon wird ja wohl noch gehn. Sie nickte zögernd. Schon, sagte sie, aber doch nicht gleich. Und wer weiß, vielleicht kommt auch das Taxi nicht durch, ich denke, es wäre besser, wenn du bis morgen wartest. Nein!, rief ich und verstummte gleich wieder. Leiser: Nein, ich möchte lieber nicht bis morgen warten. Aber wieso, fragte sie. Ich wusste keine Antwort.
Erzähl mir von deiner Mutter, sagte sie. Sie ist tot, sagte ich. Draußen vorm Fenster wurde das Schneetreiben immer heftiger, der Winter in der Stadt war anders. Ob das Haus nebenan bewohnt war? Wie ist sie gestorben, wollte sie wissen. Ich zuckte die Achseln. Das Dorf hat sie umgebracht. Ich wusste, dass ich das nicht hätte sagen sollen.
Sie brachte ein paar Wolldecken und ein Kissen. Du kannst hier schlafen. Ich sah sie ungläubig an. Was hast du denn gedacht, bei mir oben ist kein Platz mehr. Ja, sagte ich, natürlich, es ist nur... – ungewohnt?, sagte sie, das ist kein Hotel, ein Hotel gibt es hier nicht. Ich schlug die Augen nieder und betrachtete die Bretter, die der Boden waren. Ja, ein Hotel gab es hier wirklich nicht, hatte es noch nie gegeben. Die Fremden blieben immer nur kurze Zeit. Ich würde ein Taxi bestellen, sobald ich allein war.
Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt. Ich schob meinen Stuhl ans Fenster und blickte hinaus. Die Straße war verlassen. Der Vogel war auch nicht wieder da. Die Zweige der Kastanie schlugen bei jedem Windstoß gegen das Glas, aber es war kaum zu hören. Ich dachte, dass ich früher oft so am Fenster gestanden haben muss. Ich fragte mich, wie es war, wenn man im Dorf alt wurde. Es musste grässlich sein. Ich verstand nicht, wie Mutter das ausgehalten hatte, ich hatte es nie verstanden. Ich sah sie lächeln und sagen: Das ist mein Leben. Ich will kein anderes. Es gibt auch kein anderes für mich.
Für Vater hatte es ein anderes gegeben.
Die Dunkelheit kam unbemerkt. Das leise Klopfen der Zweige war noch immer zu hören, aber die Bäume verschmolzen mit ihren Schatten. Ich ging zum Telefon und wählte die Nummer der Taxizentrale. Als ich nach der Adresse gefragt wurde, konnte ich sie nicht nennen. Gut, dann warte ich am Bahnhof. Er konnte nicht weit sein von hier. Im Dorf ist es nie weit. Als Kinder sind wir gerannt, von einem Ende zum anderen und wieder zurück, haben uns im Kreis gedreht bis uns schwindlig wurde und wir uns rücklings ins Gras fallen ließen. Den Weg zurück fanden wir trotzem jedesmal. Irgendwann gaben wir es auf.
Es schneite unentwegt. Das leise Rascheln, wenn der Wind den Schnee aus dem Geäst fegte. Ich überlegte, ob ich eine Nachricht hinterlassen sollte, aber mir fiel nichts ein, was ich hätte schreiben können. Es blieb noch genug Zeit und ich beschloss, mich noch etwas auszuruhen. Der Taxifahrer würde es nicht leicht haben in dieser Nacht, sicher nicht.
Ich musste eingeschlafen sein, die Uhr zeigte kurz vor eins. Vielleicht war es noch nicht zu spät, vielleicht wartete das Taxi noch auf mich. Ich ging möglichst geräuschlos zur Tür und trat auf den Flur hinaus. Als die Dielen knarrten, stieß ich einen erstickten Fluch aus. Das Küchenfenster stand offen und zitterte im Wind. Ich warf noch einen letzten Blick auf die Treppe und öffnete dann die Haustür. Sie schwang mit einem leisen Seufzen auf, aber das Geräusch ging sofort unter in dem Sturm, der mir von draußen entgegenschlug.
Auf mittlerer Strecke zwischen Straße und Hauseingang hielt ich inne. Im Nachbargarten bewegte sich etwas. Ich horchte. Der Wind und das Knirschen von Schnee. Und noch etwas, vielleicht ein Summen. Ein Summen? Ich versuchte, näher an das Gestrüpp zu gelangen, das die beiden Gärten voneinander trennte. Die Zweige knackten leise, als ich mich über die Hecke beugte. Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, nur der Wind hatte sich nicht beruhigt und brannte im Gesicht. Zuerst war nicht viel mehr als ein Schemen auszumachen. Zwei Gestalten, die eine klein und gebeugt, die andere kräftig, aber starr. Nur der eine bewegte sich, von ihm musste auch das Summen kommen, wiegte er doch den Kopf im Takt der Melodie. Immer wieder bückte er sich, um mit der Hand in den Schnee zu greifen. Einen Moment später erhob er sich wieder, wobei er dem anderen auf den Bauch klopfte oder auch auf den Rücken, man konnte es nicht sagen, ohnehin wirkte der Körper des zweiten eigenartig unförmig, so sah kein Mensch aus, ganz bestimmt nicht.
Aber natürlich, ein Schneemann, er baute einen Schneemann. In diesem Augenblick drehte er den Kopf in meine Richtung, hörte abrupt mit dem Summen auf und klopfte sich die Schneereste von den Handflächen. Ich starrte stumm zurück. Er wandte er sich um und ging langsam zurück zum Haus. Während er die Tür öffnete und bereits im Haus verschwand hörte ich ihn wieder summen.
Wenn man in den Himmel blickte, sah man keine Sterne. Auch im Dorf war das so. Die Alten sagten, dass es früher anders war, aber man konnte den Worten der Alten nicht immer trauen. Als Kinder lachten wir über die Geschichten der Alten. Heute dachte ich, dass man sich glücklich schätzen konnte, wenn man einen Blick auf die Sterne hat werfen dürfen.
Ich blickte wieder die Straße hinunter. Es war aussichtslos, die Füße steckten im Schnee und jeder Schritt war mühsamer als der vorige. Ich war nicht weit gekommen. Davon abgesehen war ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich in die richtige Richtung gelaufen war. Es war fast zwei Uhr. Der Taxifahrer würde nicht mehr da sein, solange hätte er bestimmt nicht gewartet. Bestimmt nicht. Ich ging zurück. Mit dem Wind im Rücken.
Am nächsten Morgen wurde ich durch ein helles Pfeiffen wach. Sie hatte Kaffee aufgesetzt. Nachdem ich mich angezogen hatte, setzten wir uns wieder an den Tisch mit der gestreiften Decke. Wo warst du heute Nacht, fragte sie. Ich zuckte zusammen. Sie lächelte. Glaubst du etwa, ich habe deinen kleinen Ausflug nicht bemerkt? Doch, brachte ich hervor, ich meine nein...aber was sagst du dazu? Ich sprang auf, lief zum Fenster und fand sofort den Schneemann im Nachbargarten. Mitten in der Nacht stand er da draußen, sagte ich, und hat an seinem Schneemann gebaut. Mitten in der Nacht, was soll das? Sie stand auf und warf einen Blick auf den Schneemann. Dann zuckte sie die Schultern. Ja und, er macht das wegen den Krähen, er meint, der Schneemann schreckt die Biester ab. Die zerstören seine ganzen Beete. Aber welche Beete denn, rief ich, es ist doch alles voller Schnee. Es ist doch alles voller Schnee.
Hast du deine Mutter geliebt?, fragte sie. Ich starrte auf die Decke. Auch hier bröckelte der Putz an einigen Stellen ab. Vielleicht würde irgendwann alles zusammenstürzen. War das überhaupt ihr Haus, war es nicht sogar zum Abriss freigegeben, stand denn ein Name an der Klingel? Sie hatte gesagt, ihr Name wäre Mirta. Mirta. Das klang wie Schnee.
Ich weiß nicht, sagte ich, was hätte ich denn tun sollen? Sie wollte ja gar nicht, sie ließ nicht mit sich reden. Sie wollte hier bleiben, in ihrem Dorf, ich sagte, sie sei verblendet und sie sagte, sie sei glücklich. Irgendwann wollte sie gar nicht mehr aus dem Haus, dann hab ich sie einfach gelassen, hab gesagt: mach doch weiter mit dem Sterben.
Und jetzt ist sie tot, sagte sie. Und jetzt ist sie tot, sagte ich. Wir schwiegen. Ich stand auf und ging ans Fenster. Das alles war sehr sonderbar. Seine Beete, zum Teufel mit seinen Beeten. Hilft das?, fragte ich. Hilft was? Ich meine den Schneemann, ob er gegen die Krähen hilft. Sie runzelte die Stirn und blickte auf die Tischdecke, an der sie mit den Fingern herumzupfte. Ich glaube schon, sagte sie, wieso sollte er es sonst immer wieder tun?
Nach dem Frühstück sagte sie: Du musst mir heute auf dem Friedhof helfen. Ja, antwortete ich, aber dann lass ich ein Taxi kommen. Der Wind war zum Morgen hin schwächer geworden. Es hatte aufgehört zu schneien. Du musst große Schritte machen, dann geht es besser, sagte sie. Um uns herum erwachte das Dorf. Aus den Schornsteinen stiegen träge Rauchschwaden zum Himmel. Schon jetzt Gesichter an den Fenstern, flach und stumm. Wie Fensterbilder oder Fische. Ich wusste nicht, was davon zu halten war. Mit dem Tageslicht kam die Erinnerung. Ich erkannte Straßen und Häuser, Schilder, die wir einst in Wut verbeulten, die Post, die kleine Brücke über den Bach, wir setzten Papierschiffe hinein und beobachteten ihr langsames Untergehn, jetzt war es zugefroren, das Wasser.
Die alte Frau wartete vor dem schmiedeeisernen Tor in der Friedhofsmauer. Sie ging auf und ab und bemerkte uns erst spät. Unter ihren Füßen hatte sich eine schmale Rinne im Schnee gebildet. Sie sah auf, grunzte und zögerte. Nun machen sie mal, sagte sie mit abgewandtem Blick und deutete mit dem dürren Finger auf den Friedhof. Die Grabsteine steckten bis zur Hälfte im Schnee, Mirta verschwand in einem Schuppen neben dem Pfarrhaus und kam mit zwei Schaufeln wieder. Arbeite dich an der Mauer entlang, sagte sie. Sie begann zu schaufeln und ich stand vor der Mauer und betrachtete das Efeu und den Schnee darauf. Früher sind wir hochgeklettert und haben versucht uns runterzustoßen. Auf welche Seite man fiel, war heute egal. Der Schnee lag zu beiden Seiten.
Wir stützen uns auf die Schaufeln und sahen der alten Frau zu. Was macht sie da?, fragte ich. Ich glaube sie betet, antwortete Mirta. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und sagte: Es ist zu spät, ihr Mann ist doch schon tot. Dieser verdammte Schnee ist alles, was der Himmel noch für uns übrig hat. Sie schüttelte den Kopf und lächelte: Ich sage doch, du bist ein Fremder.
Es war nachmittag, als wir die Wege zwischen den Gräbern freigelegt und den Schnee von den Steinen gefegt hatten. Wenig später fing es wieder an zu schneien. Es ist sinnlos, sagte ich, morgen früh ist wieder alles zugeschneit. Ich werde dafür bezahlt, sagte sie. Ich fand, dass es trotzdem sinnlos war. Sie brachte die Schaufeln zurück in den Schuppen und wir machten uns auf den Rückweg. Aus den Gärten kam Kindergeschrei. Die Kinder bauten Schneemänner. Als sie uns sahen, liefen sie zurück ins Haus. Ich blickte zu Mirta. Sie hatte wieder begonnen leise zu summen und tat so, als hätte sie die Kinder überhaupt nicht bemerkt. Ich entschied, sie nicht darauf anzusprechen.
Durch das Geheul des Windes hörten wir Krähen krächzen. Als ich nach oben blickte, sah ich sie wie schwarze Fetzen über uns kreisen. Ich hätte nicht gedacht, dass es soviele wären. Von was ernähren sie sich?, fragte ich, es ist doch Winter. Mirta hielt an und dachte nach. Dann sagte sie: Ich weiß nicht, mir ist gar nicht aufgefallen, dass es soviele sind dieses Jahr, vielleicht fallen sie über die Beete her. Bis wir am Haus ankamen, blickte ich kein weiteres Mal in den Himmel. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass die dunklen Stellen im Schnee die Schatten der Krähen waren. Es ist falsch, sagte ich, dass sie auch noch Schatten werfen. Mirta schwieg.
Ich stand am Fenster und blickte in die Dämmerung. Er hat einen zweiten gebaut, sagte ich und sah hinüber zu Mirta, die gerade damit beschäftigt war, das Essen aufzutragen. Sie blickte auf. Was? Er hat noch einen Schneemann gebaut, sagte ich, wieso tut er das, es macht doch gar keinen Sinn. Sie zuckte die Schultern und ging wieder in die Küche. Was ist das für ein Kerl, rief ich ihr nach, womit verdient er sein Geld? Ich hörte sie nebenan mit Geschirr klappern. Als sie mit zwei Tellern in der Hand wieder ins Zimmer kam, sagte sie: Sie sagen, er sei verrückt, er geht selten raus und redet dann auch mit niemandem. Einmal im Monat geht er in den Laden, aber dort weiß man auch nicht mehr, außer, dass er Dosensuppe und im Frühling Blumensamen kauft. Sonnenblumen und Vergissmeinnicht. Glaubst du auch, dass er verrückt ist?, fragte ich. Sie lachte. Aber nein, ein Verrückter kauft doch keine Blumensamen.
Um acht rief ich mir ein Taxi. Diesmal gab ich als Ort die nächstgelegene Straßenecke an, draußen hatte ich keine Hausnummer gefunden. Mirta stand neben mir und trommelte mit den Fingern auf den Türrahmen. Was macht dir Angst?, fragte sie, als ich aufgelegt hatte. Angst, wieso?, stieß ich hervor, wie kommst du denn darauf? Sie blickte zu Boden. Ich weiß nicht, sagte sie, aber irgendetwas treibt dich weg von hier. Irgendetwas trieb mich weg von hier. Alle sind damals weggegangen, nur wer alt oder zu schwach war, blieb zurück. Mutter war nie schwach. Sie wollte hier bleiben, bei den Alten und Schwachen, an deren langsamem Tod teilhaben. Die Welt, das war überall, nur nicht hier. Und der Wald war die Mauer dazwischen: ich wollte einfach sehen, ob es eine andere Seite gab.
Draußen konnte man nicht viel erkennen. Es war zu neblig. Das Mondlicht verfing sich in den kahlen Ästen der Bäume und in den Baumkronen glitzerten winzige Wassertröpfchen, vielleicht auch eine Täuschung. Die Stille wurde nur vom Zittern der Fensterscheibe unterbrochen, wenn wieder eine Windbö an das Glas schlug. Ich hörte sie sagen: In einer Woche brechen die ersten Krokusse durch den Schnee. Woher willst du das wissen, schau dir mal die Schneemassen da draußen an. Sie entgegnete leise: Ich fühle es einfach, man kann es fühlen, in der Luft, in der Art, wie sich die Sonne im Bach spiegelt, wie die Leute lachen. – Welches Lachen denn, fiel ich ihr ins Wort, ich sehe hier niemanden lachen, alle verstecken sich, hinter ihren Zäunen und Hecken, in ihren Garagen und Kellern, wer soll denn lachen, sie haben doch gar nichts zu lachen hier.
Ich sah, dass Mirta die Augen geschlossen und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Als wir Kinder waren, schlossen wir die Augen und wägten uns in Sicherheit. Wir waren keine Kinder mehr. Sie lachen trotzdem, rief sie, sie lachen einfach, man weiß, dass sie lachen, jeder hier weiß das. Ein Fremder wie du ist eben blind für solche Dinge. Ein Fremder wie ich. Ich ballte die Hand zur Faust und rammte sie in die Wand, dass der Staub aufwirbelte. Was redest du da, schrie ich, Fremder Fremder, du bist doch auch nicht besser. Glaubst du, ich habe nicht gesehn, wie sie dich meiden, wie sie hinter deinem Rücken von dir sprechen? Glaubst du das wirklich? Du bist genauso blind wie alle hier, blind sage ich, wie Mutter es war. Und jetzt ist sie tot. Und jetzt ist sie tot, flüsterte Mirta.
Ich muss jetzt los, verabschiedete ich mich. Sie drehte sich nicht einmal um, als ich durch den Gang lief und mich unter dem Knarren der Bodenbretter duckte. Ich riss die Tür auf und blickte in die Dunkelheit. Der Wind peitschte mir unerwartet nass und kalt ins Gesicht. Mit einem Knall fiel die Haustür hinter mir ins Schloss, ich dachte, dass Mirta sie vielleicht von innen zugezogen hatte, vielleicht war es auch nur der Wind. Der verwaschene Umriss der Mondsichel über dem Kirchturm. Über dem Gras lag dichter Nebel, ich sah kaum die Gartenpforte. Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen und betrat den Garten.
Der Schnee zu meinen Füßen war glatt und schimmerte weißlich blau im Mondlicht. Unsere Fußspuren vom Nachmittag waren nicht mehr zu sehn, nichts zeugte mehr von unserer Ankunft. Ich blickte starr zu Boden, während ich mit großen Schritten durch den Garten eilte, umgeben vom wütenden Rascheln der Blätter. Der Wind verwehte meine Flüche, als sich meine Schuhe mit kaltem Wasser füllten. Ich kam bereits fröstelnd und durchnässt auf der Straße an. Als ich kurz verschnaufte, hielt ich horchend inne. Das waren Krähen, elende Biester, ein Grund mehr, von hier zu verschwinden, dachte ich. Vor dem Nachbargrundstück zwang mich irgendetwas zum Stehenbleiben.
Zuerst konnte ich in der Dunkelheit gar nichts erkennen, dann tauchten wieder die schemenhaften Gestalten im Nebel auf. Ich wollte mich schon zum Weitergehen wenden, als ich stutzte. Es waren drei. Der Alte hatte tatsächlich noch einen dritten Schneemann gebaut. Dabei musste er doch sehen, dass es nichts half. Woher kam diese wahnwitzige Hartnäckigkeit? Vielleicht stimmte es also doch, was die Leute über ihn sagten. Er war verrückt. Verrückt. Es war nicht zu fassen. Hier war anscheinend niemand normal, allesamt litten sie unter Verfolgungswahn mit ihrer unbegreiflichen Verblendung! Wie hatte Mutter das nur ausgehalten, das Dorf musste sie bereits völlig abgestumpft haben. Eine leere Hülle hatte es aus ihr gemacht, das alles hier. Dieser gottverdammte Drecksack! Wahrscheinlich würde er seinen ganzen Garten mit diesen lächerlichen Schneemännern vollstellen. Irgendwann schmolzen sie. Was würde er dann tun? Was zum Teufel würde er dann tun?
Diese Biester machten mich wahnsinnig, mit ihrem ewigen Gekrächze, was wollten sie denn noch. Was wollt ihr denn noch? In diesem Augenblick fuhr der Wind durch den Garten, die trockenen Äste der Obstbäume stöhnten, einige wurden fortgerissen oder brachen krachend in der Mitte durch. Fauliges Laub wurde aufgewirbelt. Man musste dem Alten ein für allemal klarmachen, dass das, was er tat, zu nichts führte, niemals zu etwas führen würde, die Hirngespinste eines Verrückten. Wann würden diese gottverdammten Krähen endlich Ruhe geben!
Ich stieg über den Zaun und sah mich gleich nach einem geeigneten Gegenstand um. Zwischen den Bäumen lag ein armdicker Ast, dessen Holz am einen Ende gesplittert war. Ich hob ihn auf und wog ihn im Laufen prüfend in der Hand. Er würde mir genügen. Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich nach der Stelle mit den Schneemännern. Als ich die Silhouetten der drei im Nebel erblickt hatte, bohrten sich meine Fingernägel in den Ast. Die letzten Meter stürzte ich mit erhobenene Händen auf die Figuren zu. Ich wählte den Nächstbesten und ließ die Keule mit voller Wucht auf ihn niedersaussen.
Immer wieder schlug ich zu. Er bekam Risse und wurde brüchig, die Flocken splitterten und spritzen umher, meine Ohren waren voll vom hungrigen Kreischen der Krähen und dem Knacken des Holzstücks in meiner Hand, ich hieb und hieb, die gehetzten Flügelschläge der Vögel, der Wind zerrte an meiner Kleidung und fuhr mir ins Gesicht, taumelte, und schlug und zerschmetterte, bis die Schreie verstummten. Völlig erschöpft sank ich auf die Knie. Ich ließ mich einfach fallen, in den mondbeglänzten Schnee. Weißlich blau. Und auch rot. Der Alte würde keinen dritten Schneemann mehr bauen. Er hat sich gar nicht gewehrt. Wie hätte ich denn wissen sollen...Er hat sich doch gar nicht gewehrt.