Das Leben und Ich
Louise
Ich saß auf meinem Krankenbett und schaute aus dem Fenster. Die Sonne ging gerade unter und man konnte Känguruhs über die Steppen hüpfen sehen. Ich spürte und Wärme des Abends und ich nahm den Geruch von frisch gemähtem Gras wahr. Ich war am Leben. Das war alles, was mir geblieben war und ich kann nichts mehr rückgängig machen.
1. Wie alles begann
Als alles begann war ich gerade acht Jahre alt; mein Vater starb bei einem Flugzeugabsturz und meine Mutter zwei Monate später an Herzversagen. Sie konnte den Tod meines Vaters nicht verkraften und sperrte sich ständig ein. Sie wollte nicht mehr essen und trinken. Sie war alles, was ich noch hatte und dann war ich allein.
Meine Eltern hatten schon kurz nachdem ich zur Welt kam ein Testament gemacht, in dem stand, dass sollten sie einmal sterben, ich als Alleinerbin alles bekommen würde, was jemals in ihrem Besitz war. Das war aber kein Ersatz für meine Eltern, die ich sehr vermißte.
Ich wuchs mit meiner Nanny in unserem großen Haus am Rande von Sidney auf. Wir hatten ein großes Grundstück und sogar einen eigenen Supermarkt. Jeder Tag wurde von uns mit einem langen Gebet begonnen. Wir dankten dem lieben Gott für alles, was er uns gegeben hatte und für alles, was er uns noch geben würde. Wir mußten uns um nichts sorgen. Wir hatten einen eigenen Koch, drei Gärtner, zwei Diener, vier Butler und sogar einen eigenen Reitlehrer. Mein Hauslehrer zählt nicht dazu, denn er kam jeden Tag um zehn Uhr und ging wieder nach dem Mittagessen. Er lehrte mir sehr viel, was sich später als sehr nützlich herausstellte. Ich liebte es mit meinem Pony über die Steppen zu reiten und Känguruhs zu jagen. Wenn es mal wieder zu heiß wurde, dann schwammen wir im See oder spielten Wasserball im Pool. Es war ein sehr ruhiges Leben. Aber manchmal war es auch sehr einsam.
An meinem sechzehnten Geburtstag durfte ich mit meiner Nanny zum ersten Mal in die Stadt fahren. Wir schlenderten durch die Innenstadt und saßen lange im Café und unterhielte uns über all die Leute, die sich hetzten und nie zur Ruhe kamen. Wir lachten viel und wir versprachen uns gegenseitig, dass wir nun jedes Wochenende hierher kamen und Spaß miteinander haben würden.
Es war schön in der Stadt, aber es war auch ziemlich laut und schmutzig. Überall sah man alte Leute, die Schach spielten und Eltern mit ihren Kindern, die spielten und lachten. Das machte mich ein wenig traurig, aber meine Nanny wußte genau, wie sich mich trösten konnte. Sie gab mir all das, was normalerweise Eltern ihren Kindern geben.
Plötzlich spürte ich einen Schlag auf meinen Hinterkopf und wurde ohnmächtig.
„Marie...Marie...oh mein Gott. Hilfe, hilft mir denn niemand...“ hörte ich meine Nanny weit entfernt schreien. Als ich wieder zu mir kam standen hunderte von Leuten um mich herum und halfen meiner Nanny mich hochzuheben. Sie setzen mich auf meinen Stuhl und der Kellner brachte mir einen Kalten Lappen, den ich mir schmerzvoll an den Hinterkopf hielt.
„Was ist passiert ?“ fragte ich. Ich sah mich um und ich sah ein Mädchen weit hinter all den Leuten mit einem Ball in der Hand stehen. Sie war etwa in meinem Alter und sehr schlecht angezogen. Ihr Haar war wild durcheinander und ihr Gesicht voller Schmutz. Sie sah traurig aus und hielt ihren Ball fest umklammert. „Diese Gören sollte man von der Straße nehmen !“ hörte ich eine alte Dame schimpfen. „Marie...geht es Dir wieder gut ?“ fragte mich meine Nanny. „Ja es geht“, antwortete ich, „aber was war denn überhaupt los ?“
Das Mädchen ging auf mich zu und hielt mir ihre Hand hin: „Entschuldige, es war meine Schuld.“ sagte sie mit leiser Stimme. „Ich wollte dich nicht treffen und wenn meine Freunde richtig aufgepaßt hätten, dann wäre dir der Ball nicht auf den Kopf gefallen.“ „Verschwinde !“ schrie die alte Dame, die vorhin gehörig über Straßenkinder geschimpft hatte. „Du hast hier nichts zu suchen. Geh zu deinen Eltern - wenn du überhaupt welche hast und laß dir das mal eine Lehre sein. In einer guten Gesellschaft hast du nichts zu suchen !“
Dem Mädchen standen Tränen in den Augen und ich hatte Mitleid mit ihr: „Macht doch nichts...ich lebe ja noch.“ Und wir begannen beide zu lachen. Die Leute starrten uns an, als wären wir verrückt geworden und meine Nanny lud das Mädchen auf ein Eis ein. Die Leute fühlten sich angewidert und verschwanden von unserem Tisch. „Wie heißt du denn ?“ fragte Nanny das Mädchen. „Ich heiße Louise, aber alle nennen mich Lou ! Es tut mir wirklich leid, was passiert ist.“ „Schon gut, Kleine,“ sagte Nanny „ist ja nichts schlimmeres passiert. Aber du solltest nächstes mal ein bißchen besser aufpassen, nicht dass dich die alte Lady von vorhin einmal auffrißt.“ Jetzt konnten wir drei uns das Lachen nicht mehr verkneifen und lachten schallend. Dass sich die anderen Leute davon gestört fühlten, war uns egal. Wir hatten unseren Spaß.
Als wir fertig waren fragte Nanny das Mädchen, ob sie uns nicht einmal besuchen kommen möchte und sie sagte: „Gerne, aber ich weiß nicht, ob meine Stiefmutter das erlauben würde und wie ich dorthin kommen soll weiß ich auch nicht.“ „Wir können ja mal mit deiner Mutter...“ sie ließ mich nicht einmal ausreden, sondern unterbrach mich: „Stiefmutter. Ich weiß nicht. Danke für das Eis. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Bis dann und viel Spaß noch.“ sagte sie schnell und verschwand an der nächsten Ecke.
„Das ist vielleicht ein seltsames Mädchen, findest du nicht Marie ?“ Aber ich hörte gar nicht, was Nanny sagte, denn ich war viel zu viel beschäftigt damit, wie ich herausfinden konnte, wo Lou´s Stiefeltern wohnten. „Nanny ?“ fragte ich. „Ja mein Kind.“ „Könnten wir denn nicht zu Lou´s Eltern fahren und sie einfach fragen. Wir haben doch heute Freitag. Sie könnte doch bei uns schlafen, oder ?“ „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, mein Schatz, du kennst sie doch noch gar nicht. Wir versuchen es nächste Woche, in Ordnung ?“ „In Ordnung Nanny.“ Ich drückte Nanny einen dicken Kuß auf die Wange und dann machten wir uns auf den Weg nachhause.
2. Freundschaft
Ich konnte die ganze Nacht nicht richtig schlafen, weil ich immer wieder über das Mädchen mit den zersausten langen blonden Haaren nachdenken mußte. Vielleicht war sie gar nicht so „böse“ wie die alte Dame heute sagte. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen - egal was es koste.
Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf und sattelte mein Pferd. „Angel“ war mein bester Freund seit dem Tod meiner Eltern gleich nach meiner Nanny. Er war genau so alt wie ich und wir verstanden uns einfach prächtig. Wir ritten über die Steppen auf die Stadt zu. Ich hatte Nanny extra einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass ich abends zurückkam und sie sich keine Sorgen machen brauchte. Sie vertraute mir und sie wußte, dass wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann würde mich niemand davon abbringen, es auszuführen. Deshalb ließ sie mich entscheiden. Das fand ich gut, denn so lernte ich selbständig zu sein.
Als ich in der Stadt ankam starrten mich die feinen Leute an, denn ich hatte für diesen Ausritt nur eine alte Schlaghose und eine alte Bluse angezogen. Meinen Hut ließ ich zuhause, dafür band ich mein langes dunkelbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und trug meine ältesten Reitstiefel. Ich wollte nicht unnötig auffallen.
Als ich an der Stelle ankam, an der wir saßen erblickte ich ein paar spielende Kinder. Aber ich konnte Lou nirgendwo sehen. Also ritt ich hin und stellte mich neben ein selbst gebasteltes Fußballtor. „Hey, verschwinde da. Wir spielen gerade Fußball und ich glaube nicht, dass dein Pferd ein guter Torwart wäre.“ hörte ich hinter mir einen kleinen Jungen kreischen.
„Ach ja ? Ihr werdet es schon sehen.“ sagte ich keck und stellte mich mit Angel genau vor das Tor. Einer der größeren Jungen nahm den Ball und legte ihn vor sich. „Vorsicht Angel, schnapp dir den Ball.“ flüsterte ich, bevor der Junge Anlauf nahm und der Ball in unsere Richtung zischte. Aber Angel war und blieb eben mein bester Freund. Er stoppte den Ball mit seinem rechten Vorderbein und wieherte glücklich darüber, dass er mir mal wieder etwas beweisen konnte. Ich streichelte ihn am Kopf und beobachtete die Kinder. Sie kamen vor lauter Staunen gar nicht mehr zum Sprechen. Plötzlich hörte ich hinter mir eine Stimme.
„Echt super gemacht von dem Gaul. Kann er auch einen Handstand machen und Ballett tanzen ?“ fragte sie. Ich drehte mich um und sah Lou auf einer Laterne sitzen. Sie hatte uns die ganze Zeit beobachtet und kein Wort gesagt. Die Kinder fingen auf diesen Kommentar hin alle laut an zu lachen und Angel wurde nervös. Ich hielt ihn aber doch noch ruhig und sagte zu Lou: „Mein Pferd ist kein Gaul und außerdem ist das bestimmt nur Zufall gewesen, dass er den Ball gehalten hat. Wo warst du eigentlich ? Ich habe dich schon gesucht.“ „Du hast mich gesucht. Das ist aber nett. Ich war die ganze Zeit hier oben. Wozu brauchst du mich denn ?“ „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht mit mir mitkommen möchtest. Wir können bei mir zuhause ein bißchen spielen und wenn du Lust hast, dann zeige ich dir, wie man reitet.“
„Mit dir soll ich mitkommen ? Du bist doch ein Mama-Kind. Ich spiele nicht mit Mama-Kindern und außerdem kann ich reiten.“ „Zeig´s ihr Lou.“ hörte ich die Kinder rufen. Ich war enttäuscht von ihr und ritt ohne mich noch einmal umzudrehen zurück nach hause.
Zuhause angekommen erwartete meine Nanny mich schon. „Und ? Hast du sie gefunden ?“ fragte sie mich. „Woher weißt du...?“ „Laß gut sein. Komm rein und wasch dich. Es gibt gleich Abendessen.“ Ich stieg ab und sprang in die Badewanne. Nachdem ich fertig war mit Abendessen fiel ich vor Müdigkeit ins Bett und hatte nicht einmal mehr Zeit mein Abendgebet zu sprechen, so neugierig war ich auf den nächsten Tag. Diesmal schlief ich tief und fest und ich glaube ich wäre nie wieder aufgewacht, hätte meine Nanny mich nicht so erschreckt.
„Marie...Marie...Marie...steh auf, sieh mal, wer da ist. Schnell zieh dir etwas über und dann komm in den Hof.“ Ich war so neugierig, dass ich nur ein langes T-Shirt überzog und sofort auf den Hof hinauslief. Ich sah einen alten grauen verschmutzten Wagen und drei Insassen. Der Chauffeur stieg aus und winkte Nanny zu. Sie kannten sich aus dem Heim, in dem Nanny aufgewachsen war. Das liegt aber alles schon Jahrzehnte zurück und es ist viel zu lange zum Erzählen, deshalb überspringe ich diesen Teil und fange da an, wo es spannend wird.
Aus dem Auto stieg Lou und eine ältere fein angezogene Dame. „Guten Tag Misses.“ Sagte Nanny. „Sie dürfen ruhig Lolo sagen,“ antwortete die Lady. „Ich bin Dolores de lour a Saison und das ist meine Tochter Louise de lour a Saison. Wir sind hierhergekommen, weil mir Louise erzählt hat, sie hätte eine neue Freundin gefunden, die sie gerne einmal wiedersehen möchte.“ „Hab ich gar nicht.“ maulte Lou nach. „Sei still Kind, wenn Erwachsene reden.“ fauchte die Misses Lou an. „Wie schön.“ sagte Nanny und nahm die Misses am Arm und führte sie ins Haus.
Lou und ich standen uns gegenüber und keiner sagte ein Wort. „Hey ihr zwei. Laßt euch nicht allzuviel Zeit. Wir haben erst kurz vor sieben. Ha ha ha.“ Das war Lou´s Chauffeur und er war wirklich sehr witzig.
„Er hat recht, wir sollten nicht so dumm rumstehen. Warum bist du hierher gekommen ?“ fragte ich Lou. „Ich wollte ja gar nicht, aber meine Stiefmutter ist so gierig auf Geld, dass sie keine Gelegenheit ausläßt sich überall schön hinzustellen. Sie will nur gut mit deinen Eltern stehen.“ „Ich habe aber keine Eltern. Sie sind vor vielen Jahren gestorben.“ „Oh...das tut mir echt leid.“ Lou sprang los ins Haus und rief nach ihrer Mutter. „Hey...warte doch.“ rief ich ihr nach, aber sie hörte nicht. Als ich im Haus ankam sah ich Lou überwältigt in der Eingangshalle stehen. „Wow !“ sagte sie. „So was habe ich ja noch nie gesehen. Wem gehört das alles, wenn du keine Eltern mehr hast ?“ „Das gehört alles mir, aber ich finde es gar nicht so toll.“ antwortete ich gelangweilt. Ich wollte ihr nicht zeigen, dass ich unsere Eingangshalle liebte. Sie war liebevoll von Malern restauriert worden, bevor das mit meinen Eltern geschah. Überall waren kleine Engel aufgezeichnet und die Decke war eine leuchtende Glaskuppel mit Sternen und der Sonne und darunter hing ein riesiger juwelener Kronleuchter, der die schönsten Farben auf den weißen Marmor zeichnete.
„Das glaube ich nicht.“ sagte Lou. „Was denn ?“ fragte ich. „Dass das alles dir gehört, meine ich.“ „Es gehört aber mir. Meine Eltern haben mir das alles vererbt und wenn du willst, dann zeige ich dir ein bißchen was von meinem Land. Na wie wär´s ?“ „Hmm...“ Lou überlegte sehr lange und ich wurde schon nervös. „...also gut...aber nur, wenn du mir zeigst, wie man reitet.“ „Ich dachte, du bist schon geritten ?“ fragte ich erstaunt. „Zumindest habe ich es einmal versucht.“ sagte sie frech und ging wieder auf den Hof hinaus.
„Na bist du jetzt schon mal geritten, oder nicht ?“ fragte ich hartnäckig. „Nein eigentlich nicht. Ich bin nur mal auf einem Holzpferd gesessen, aber das ist auch schon Jahre her. Also was ist, zeigst du´s mir oder nicht ?“ „Aber klar doch. Jetzt gleich ?“ „Nein, ich muss erst meine Stiefmutter fragen. Warte hier.“ sagte sie und lief wieder ins Haus. Sie kam lange nicht und ich machte es mir derweil vor unserem Brunnen im Gras gemütlich.
Etwa eine halbe Stunde später kam Lou mit ihrer Stiefmutter und Nanny heraus und hatte ein Grinsen auf dem Gesicht. „Alles klar.“ rief sie. Nanny verabschiedete sich von Lou´s Stiefmutter und zwinkerte mir zu. Lou´s Mutter winkte uns zu und stieg dann in ihrem alten Wagen. Sie fuhr davon und Nanny und Lou kamen zu mir herüber. „Darling, Lou´s Mom hat ihr erlaubt, dass sie mit dir spielen darf und auch bei dir übernachten kann.
Lou geht nicht zur Schule und ihre Mom muss für drei Tage verreisen, also habe ich ihr vorgeschlagen, Lou bei uns zu lassen. Sie hat eingewilligt, aber unter einer Bedingung.“ „Und welche ist das,“ fragte ich. „Sie darf sich auf keinen Fall mehr als fünfhundert Meter von unserem Grundstück entfernen. Das war ihre Bedingung.“ „Was ist denn das für eine bescheuerte Idee ?“ fragte Lou. „Ich weiß nicht, aber solange ihr diese Bedingung einhält, könnt ihr tun und lassen was ihr woll. Ihr braucht mich ja jetzt nicht mehr, ihr zwei, oder ?“ „Nein Nanny, und nochmal danke.“ „Keine Ursache. Laßt euch Zeit und stellt nichts an.“ sagte sie noch und ging dann zurück ins Haus.
Lou und ich machten uns auf den Weg zum Reitstall und ich zeigte ihr unsere Pferde. Sie war hellauf begeistert und wollte sofort reiten, aber natürlich mußte ich ihr zuerst einmal zeigen, wie man auf ein Pferd aufsteigt. Sie lernte schnell und nach einer Stunde konnten wir auch schon ins Freie reiten.
Zuerst galoppierten wir langsam und dann immer schneller. Lou wollte gar nicht mehr absteigen bis ihr Pferd plötzlich nicht mehr anhalten wollte. Ich ritt ihr hinterher, während sie schreiend versuchte das Pferd anzuhalten. „Laß ihn nicht los.“ rief ich ihr zu. Kurz vor unserem See blieb Seestern, so hieß das Pferd, dann stehen und ließ Lou absteigen. „So ein blöder Gaul.“ rief sie mir zu. Ich war außer Atem und wußte nicht, was ich ihr darauf antworten sollte. „Das hat sie noch nie getan. Hast du sie geschlagen ?“ „Nein natürlich nicht, ich hab nur gesagt, wenn sie nicht brav ist, dann bekommt sie kein Wasser.“ „Anscheinend war sie beleidigt und ist deshalb zum See geritten.“ „Ach was, Tiere verstehen einen doch gar nicht.“ sagte Lou beleidigt. „Das glaubst du.“ antwortete ich während ich von Angel stieg. „Sieh her.“ sagte ich deutete auf Angel. „Angel - sprich mit mir.“ befehlte ich und Angel wieherte. „Siehst du !“ sagte ich, „er tut immer das, was man ihm sagt.“ „Ach Quatsch. Das war nur Zufall.“ „Okay, probier´s selber.“ sagte ich diesmal etwas beleidigt. „Was soll ich denn probieren ? Ob er sprechen kann ?“ „Nein, aber frag ihn einfach mal was. Frag ihn, wie alt er ist und er wird es dir zeigen.“ „Okay. Angel - wie alt bist du.“ fragte sie gelangweilt. Angel stellte sich vor sie und nickte sechzehn mal mit dem Kopf. „Siehst du, ich hab´s dir ja gesagt. Er spricht mit dir.“ „Tatsächlich. Er ist echt cool. Wie hat er das gelernt ?“ „Mein Vater hat ihm das als Baby beigebracht.“ „Ich wünschte, ich hätte auch ein Pferd.“ sagte Lou traurig. „Du hast doch Seestern.“ „Ja, aber er gehört dir.“ „Ich sag dir was, wenn du hier bist, dann gehört er dir und wenn du weg bist, dann passe ich für dich auf ihn auf. Na, was sagst du dazu ?“ „Du meinst, er gehört mir ?“ „Ja klar, aber nur wenn du gut auf ihn aufpaßt.“ „In Ordnung.“ rief sie und rannte zu Seestern, der sich gerade am Wasser erfreute. „Komm her mein Guter,“ sagte sie zu ihm und stieg auf. Wir ritten bis es dunkel wurde über unser Land und Lou und ich wurden gute Freundinnen. Als wir nachhause kamen aßen wir noch etwas und schwammen ein paar Runden im Pool, bevor wir ins Bett gingen. Lou schlief bei mir im Bett, weil sie sagte, sie hätte angst in so einem großen Haus; also machten wir es uns gemütlich und schliefen beruhigt ein.
3. Wo ist Lou ?
Am nächsten Morgen als ich aufwachte, war Lou schon aufgestanden, denn sie lag nicht mehr neben mir. Ich stand gemütlich auf, zog mich an, wusch mich und machte mich auf den Weg zum Eßzimmer. „Guten Morgen mein Schatz.“ sagte Nanny. „Guten Morgen Nanny.“ „Wo ist denn Lou ?“ fragte sie mich. „Ich dachte, sie wäre schon hier, sie war nicht mehr oben.“ „Ich habe sie heute noch nicht gesehen, vielleicht ist sie baden gegangen.“ „Ja, vielleicht. Was gibt´s zu essen ?“ fragte ich. Ich hatte einen Heißhunger, da ich am gestrigen Tag nicht viel gegessen hatte, vor lauter Reiten. „Heute gibt es Pfannkuchen mit Schokoladensoße und Obstsalat. Was möchtest du zuerst ?“ „Pfannkuchen bitte. Danach schmeckt der Obstsalat immer so schön sauer !“ lachte ich und Nanny und ich aßen gemütlich unser Frühstück.
Nachdem wir fertig waren machte ich mir doch etwas sorgen um Lou. „Nanny, ich mache mir Sorgen. Lou ist bestimmt in Schwierigkeiten.“ „Ach was, sie kann selber auf sich aufpassen. Aber wenn du willst, dann kannst du sie ja suchen.“ „Okay. Ich geh gleich los.“ Ich verabschiedete mich noch mit einem dicken Kuß und verschwand aus der Tür. Ich sah zuerst im Reitstall nach und bemerkte, dass Seestern nicht an seinem Platz stand. Ich sattelte Angel und ritt mit ihm über unser Land. Ich durchsuchte jeden Platz, an dem wir gestern mit Lou waren, doch ich konnte weder Lou noch Seestern finden. Ich machte mir die schlimmsten Gedanken, denn etwa fünf Meilen hinter unserem Haus war eine Schlucht. Sie war zwar umzäunt, aber wenn Lou übermütig geworden ist und Seestern einfach darüberspringen hat lassen, dann sind beide in circa achthundert Meter Tiefe gelandet. Und dort gab es nur Felsen. Ich ritt zur Schlucht und rief immer wieder nach Lou. Sie antwortete nicht ... oder sie konnte nicht mehr antworten. Ich hatte schreckliche Angst und ritt nachhause.
„Nanny, Nanny. Lou ist nicht da. Ich habe überall gesucht und sie nicht gefunden. Seestern ist auch weg. Was soll ich denn nur tun ?“ Ich zitterte am ganzen Körper. „Keine Angst mein Schatz. John wird dir helfen.“ John war unser - wie soll man sagen - Mann für alles. Er konnte alles und wußte alles. Er war einer der liebsten Menschen, die ich kannte, obwohl er schon fast sechzig Jahre alt war, war er immer noch fit für sein Alter. Ich rannte zu ihm in den Hinterhof. „John. Du mußt mir helfen !!! Meine Freundin war heute Nacht hier und jetzt ist sie weg.“ Ich war ganz außer Atem und John sagte still: „Nun überleg mal ganz genau. Hat sie irgendwas zu dir gesagt, wohin sie möchte ?“ „Ich weiß nicht, so gut habe ich wahrscheinlich nicht zugehört, aber...“. „Was aber...du hast eine Freundin und du kennst ihre Wünsche und Träume nicht ?“ fragte er mich verwundert. „Das ist meine erste wirkliche Freundin und ich glaube, sie wünscht sich nichts mehr als von hier abzuhauen.“ sagte ich traurig. „Komm mit“, sagte John. „Ich glaube, ich kann mir denken, wo wir suchen müssen.“ Er nahm mich an der Hand und führte mich zu unserem Fuhrpark. Er nahm sich den Schlüssel für unseren ältesten Wagen und wir fuhren vom Gelände. „Wieso fahren wir mit dieser Schrottkiste ?“ fragte ich. „Damit wir sie nicht erschrecken.“ bekam ich zur Antwort. Ich saß ruhig da und schaute aus dem Fenster, ob ich Lou oder wenigstens Seestern sehen würde. Aber ich sah nichts als Sand und Känguruhs.
Plötzlich hupte John. „Hey ! Ich dachte, wir wollten sie nicht erschrecken ?“ „Tun wir doch nicht, ich zeige Seestern nur, dass wir in der Nähe sind.“ Und tatsächlich ... hinter der nächsten Kreuzung kurz vor den Bergwegen hörte ich ein lautes Wiehern. „Das ist Seestern.“ rief ich. „Ja, das ist er und deine Freundin ist bei ihm.“
Wir fuhren um die Ecke und Seestern stand kerzengerade mit Lou am Bergaufgang und wartete bis John ihn an den Zügeln nahm. „Was soll das ?“ sagte er zu Lou. „Wo wolltest du hin ?“ „Lou, was ist los ? Wieso bist du abgehauen ?“ Lou stieg vom Pferd und begann zu weinen. „Es tut mir leid, aber ich wollte weg von hier. Ich halte das alles nicht mehr aus. Meine Stiefmutter wird nicht mehr kommen und wenn ich euch auf den Geist gehe, dann wollt ihr mich auch loswerden. Ich wollte euch nicht zur Last fallen und das Pferd wollte ich nur leihen.“ „Ich habe dir doch gesagt, dass Seestern jetzt dir gehört. Oder hast du das vergessen ?“ fragte ich sie. „Ich dachte, du sagst das nur, damit wir Freunde sind.“ sagte sie traurig. „Es tut mir so leid Mister“, jammerte sie John an und hielt ihm seine Hände hin. „Nehmen sie mich ruhig mit. Ich werde alles gestehen.“ „Ich bin doch kein Sheriff, Kleine.“ „Ach nicht ?“ fragte sie verwundert. „Nein,“ sagte ich. „Das ist John. Er gehört zu uns und er hat Seestern aufgezogen. Deshalb wußte er auch, dass Seestern niemals einen Berg hoch gehen würde. Stimmt´s John ?“ „Ja Süße. Er hat nämlich Höhenangst und außerdem ist er ein Feigling was weitere Entfernungen angeht. Du wärst also so oder so nicht weit gekommen.“ „Und darüber bin ich auch sehr froh.“ sagte ich und nahm Lou an der Hand.
„Komm wir fahren nachhause.“ Wir stiegen in den Wagen und Seestern folgte uns gemütlich.
Zuhause rannte Nanny aus der Tür und umarmte uns beide, als wären wir die letzten Menschen, die sie zu Gesicht bekommen würde. „Ihr macht Sachen, ich habe mir echte Sorgen gemacht um euch zwei. Danke John ! Und jetzt kommt herein. Jetzt wird erstmal richtig gegessen.“ Wir gingen wortlos mit und aßen mehr Gemüse als je zuvor. Wir waren richtig ausgehungert.
Als wir fertig waren stellte ich Lou zur Rede: „Was ist los ? Warum sagst du solche wirren Dinge ?“ „Was meinst Du ?“ antwortete sie nur kurz und drehte sich zum Fenster. „Ich meine das mit deiner Stiefmutter. Wieso sollte sie nicht zurückkommen ?“ „Weil sie...sie ist krank und sie hat nur einen Platz für mich gesucht, wo ich leben kann ohne meinem Stiefvater zu begegnen. Sie hat es nur gut gemeint, aber das wollte ich alles nicht.“ „Erzähl mir doch einfach alles von Anfang an, damit ich es auch verstehe.“ sagte ich leise. „Okay, aber das kann dauern.“ antwortete sie. „Ich hab Zeit.“ Und so fing sie an, mir ihre Geschichte zu erzählen.
4. Lou darf bleiben
Sie war noch ein Baby, als man sie zur Adoption freigegeben hat und sie wuchs bis zu fünf Jahre in einem Heim auf. Da sie so niedlich frech war, wollte sie niemand haben. Nur diese eine Familie. Der Vater war Säufer und die Mutter herzkrank. Sie hatten bereits vier Kinder, aber sie wollten mehr und da die Mutter keine Kinder mehr bekommen konnte, adoptierten sie Louise. Nach Louise wurden noch mehrere Kinder adoptiert, aber niemand war so frech wie Lou. Sie wurde immer bestraft. Für jede Kleinigkeit. Sie wurde für Dinge bestraft, die die anderen angestellt hatten. Sie traute sich nichts Gegenteiliges zu sagen, da sie Angst hatte, Schläge zu bekommen von ihrem betrunkenen Stiefvater. Sie ließ alles über sich ergehen bis an dem Tag, als ihr Stiefvater von der Polizei mitgenommen wurde. Ihre eigene Stiefmutter hatte ihn angezeigt wegen Einbruch und Körperverletzung. Er bekam zwanzig Jahre Haft aufgebrummt und Lou´s Stiefmutter zog in eine andere Stadt.
Aber sie hatten nicht mit dem Bruder von Lou´s Stiefvater gerechnet, also mußten sie wieder und wieder umziehen, bis sie wieder dort waren, woher sie gekommen waren; in Sidney. Sie hatten nicht viel Geld und ihre Mutter mußte sich bei den reichen Männern beliebt machen, um an Geld zu kommen. Was genau ihre Mutter tat, wußte keiner, aber ich schätze, jeder kann sich seinen Teil dazu denken. Auf jeden Fall wurde viel Geld für die Kinder ausgegeben, nur Lou blieb in ihren alten Kleidern sitzen. Sie wurde vernachlässigt und mußte die ganze Hausarbeit alleine machen. Nach und nach gingen ihre Geschwister und verließen die Familie. Sie zogen alle in andere Städte und heirateten reiche Leute. Es waren nur noch zwei von ihren sieben Geschwistern übrig geblieben und die mußten dann vor ein paar Monaten in ein Heim. Lou durfte zuhause bleiben, weil sie für sich selbst sorgen konnte. Aber vor einer Woche hatte Lou´s Mom vom Arzt eine Bescheinigung über ihre Herzerkrankung bekommen und dass sie nicht mehr lange zu leben hätte. Also hatte ihre Mom beschlossen wegzugehen. Und da sie jetzt etwas passendes für Lou gefunden hatte, war es ihr nicht so schwer gefallen.
„Das ist eine traurige Geschichte. Und du bist sicher, dass sie dich nicht mehr holen wird ?“ fragte ich sie. „Ich bin mir ganz sicher. Sie hat selbst gesagt, dass sie geht, wenn sie jemanden für mich gefunden hat, der gut für mich sorgen wird.“ „Keine Angst,“ sagte ich „wir werden gut für dich sorgen und niemand wird dich hier vernachlässigen.“ „Ich weiß, aber ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut. Ich gehöre doch nicht zur Familie.“ „Ach was. Wir holen Nanny und wir erzählen ihr deine Geschichte und sie wird und sagen, was wir tun sollen, in Ordnung ?“
„Okay.“ sagte sie traurig und wir gingen in den Garten. „Nanny !“ rief ich lauthals. „Wir müssen mal kurz mit dir reden, hast du Zeit ?“ „Ich komme gleich, Schatz.“ hörte ich sie rufen und wir setzten uns neben den Brunnen in den Schatten.
Als Nanny kam, setzte sie sich ins Gras neben uns und hielt mich im Arm. „Nun erzählt schon. Was ist los ?“ Und so kam es, dass wir ihr die ganze Geschichte erzählten und als wir fertig waren standen Nanny Tränen in den Augen. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut, Lou ! Aber ich verspreche dir, dass du es bei uns gut haben wirst und du kannst so lange bei uns bleiben, bis es dir bei uns zu langweilig wird und nicht mehr gefällt.“ „Danke !“ „Und du kannst ruhig auch Nanny zu mir sagen.“ „Danke, Nanny.“ sagte Lou und wir drei umarmten uns innig. „So. Nun geht ins Haus - zieht euch um, Mr. Watson kommt gleich.“ „Wer ist Mr. Watson ?“ fragte Lou. „Das ist mein Lehrer. Wenn du willst, dann kannst du auch was von ihm lernen. Er unterrichtet mich in allen Dingen.“ „Lehrer ? Nein, danke. Ich brauche keine Lehrer. Alles was ich weiß genügt mir und ich glaube nicht, dass ich noch etwas dazulernen könnte.“
„Aber wenn du hier bleiben willst, dann mußt du genau wie Marie zur Schule gehen. Entweder du lernst mit ihr oder du machst Hausarbeiten.“ sagte Nanny. „Okay, dann versuch ich´s eben mal mit Lernen. Aber wenn´s mir nicht gefällt, dann mach ich lieber Putzarbeiten - das kann ich wenigstens schon.“ Wir lachten bis uns der Bauch weh tat und gingen dann in mein Kleiderzimmer. Wir zogen uns um und setzten uns in den Lehrerraum, der extra wie in der richtigen Schule für mich eingerichtet wurde.
„Guten Morgen, Marie!“ sagte Mr. Watson. „Guten Morgen, Sir !“ sagte ich und hielt ihm auch gleich Lou vor die Nase. „Das ist Louise. Sie will Lou genannt werden und sie ist ab heute unsere neue Schülerin. Ist doch toll, dass ich endlich mal einen Klassenkameraden bekommen habe, oder ?“ „Das ist ja ganz schön für Dich Marie, aber wird sie dich auch nicht ablenken ?“ „Nein bestimmt nicht,“ antwortete ich schnell, bevor Lou etwas sagen konnte. „Sie will auch was lernen - und sie ist ganz fleißig - stimmt´s ?“ zwinkerte ich Lou zu. „Ja stimmt,“ sagte sie und setzte sich brav an den zweiten Schultisch hinter mir. „Du kannst ruhig neben Marie sitzen. So streng bin ich nun auch wieder nicht.“ sagte Mr. Watson und bot Lou an sich neben mich zu setzen, in dem er ihr sogar den Stuhl vorschob. „Danke, Sir.“ sagte Lou höflich während sie sich neben mich setzte. Der Unterricht war sehr langweilig diesmal, weil Lou fast nicht lesen und schreiben konnte, aber ich würde ihr helfen und sie würde das auch noch hinkriegen. Nach der Schule spielten wir auf unserem Spielplatz und warteten auf das Abendessen. „Marie...Telefon.“ rief Nanny und ich rannte ins Haus.
5. Der Anruf
Als ich ans Telefon ging stöhnte mir zuerst jemand ins Ohr, als wäre er schwer verletzt: „...äh...hallo...wer ist da ?“ frage man mich. „Hier ist Marie Sinclair. Was kann ich für sie tun, Sir ?“ fragte ich höflich. „Jetzt hör mir mal zu. Niemand wird mir mein Kind wegnehmen und wenn du ihr nicht sofort sagst, sie soll nachhause kommen...“ Als John mein entsetztes Gesicht sah, kam er zu mir und nahm mir den Telefonhörer aus der Hand. „Hören sie Mister, wir wissen nicht, was sie wollen oder wer sie sind, also lassen sie uns in Ruhe. Wiederhören.“ schrie er ins Telefon. Ich war total verwirrt. Wer war das ? Und warum sagte er so böse Dinge zu mir ? Kannte ich diesen Mann ? „Marie, wenn jemand nicht nett am Telefon zu dir ist, dann leg auf, okay ? Und wenn es jemand fremdes ist, dann erst recht. Hast du verstanden ?“ „Verstanden.“ Ich war für mein Alter ziemlich unbeholfen. Ich hatte noch nie mit solchen Situationen zu tun und ich war geschockt, dass jemand so unfreundlich sein konnte.
Nanny kam in den Salon und redete mit John in der Ecke des Bücherregals. Ich konnte nicht verstehen, was die beiden besprachen, aber ich glaube, es ging um Louise.
„Was ist los ?“ fragte Lou, während sie auf mich zugerannt kam. „Louise. Wir haben heute mit der Polizei von Sid-County gesprochen. Sie haben gesagt, dass dein Stiefvater in der Stadt ist. Er ist aus dem Gefängnis ausgebrochen.“ „Und warum sperren sie ihn nicht wieder ein ?“ fragte Lou. „Sie können ihn nur in Nevada einsperren, wo der Haftbefehl läuft. Hier ist er ein freier Mann.“ Wir saßen stumm da und wußte nicht, was wir tun sollten. „War es ihr Stiefvater, der mich am Telefon beschimpft hat ?“ „Ja Süße, er weiß jetzt wo Louise ist und ich glaube, er will dich holen.“ Lou begann zu weinen. „Ich will nicht zu ihm zurück ! Er ist nicht mein Vater.“ „Keine Angst,“ sagte ich „wir werden nicht zulassen, dass du zu ihm mußt. Oder Nanny ?“ Nanny schaute mir nicht in die Augen, was soviel hieß, wie dass sie es nicht wußte. Ich kannte diesen Blick. Sie hatte kein gutes Gefühl. „Am besten, wir verreisen einige Zeit.“ sagte John. Wir nehmen uns frei und machen irgendwo Urlaub, wo keiner ahnt, dass wir sind. „Das ist die beste Idee, die du seit Jahren hattest.“ sagte Nanny. „Na da bin ich aber froh.“ antwortete er mit einem verschmitzten Lächeln.
Also packten wir den ganzen Abend unsere Sachen und orderten alle Angestellten um Mitternacht in die Bibliothek. John stand am Pult und sprach:
„Wie ihr wißt, haben wir eine neue Mitbewohnerin. Sie hatte in ihrer vorigen Familie einige Probleme und jetzt will ihr Vater, der aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, sie zu sich holen. Wir vier werden so tun, als wären wir die Eltern von Louise und Marie und werden Urlaub machen, wo nicht so viel los ist. Ihr müßt derweil auf das Haus aufpassen und zusehen, dass er nicht mitbekommt, dass er an der richtigen Adresse ist. Versucht ihn auf eine falsche Fährte zu locken und erwähnt niemals den Namen Louise oder Lou. Verstanden ?“ „Ja !“ antwortete der ganze Raum. „Vergeßt nicht. Keinem ein Sterbenswort !“ Alle nickten und sahen Lou mitleidig an. Es tat mir weh sie so zu sehen, aber uns blieb einfach nichts anderes übrig. Nicht einmal die Polizei hätte etwas tun können. Schließlich war er vor dem Gesetz ihr Vater.
6. Urlaub ade
Wir machten uns mit unseren Klamotten und unserem Gepäck auf den Weg. Unser Wagen war ein uraltes Wohnmobil, das sie wahrscheinlich im Mittelalter hergestellt hatten. Nanny und John saßen im Führerhaus und wir saßen hinten und schauten uns die Gegend an. Wir wollten nicht zu aufwendig Urlaub machen, deshalb einigten wir uns auf Camping.
Wir fuhren hunderte Kilometer bis nach Afrika, um dort ein Schiff in die USA zu nehmen. Doch bevor wir in die nächst größere Stadt vor der Küste kamen, machte unser Wagen schlapp. Nun standen wir hier mitten in der Wüste und weit und breit keine Menschenseele. Es war wirklich unheimlich hier.
Also übernachteten wir bis es wieder hell wurde in der Wüste von Afrika. Die Nacht war ziemlich schwül, so dass wir die ganze Nacht hindurch schwitzten. Aber wir hielten tapfer durch. Gott sei Dank hatten wir genügend Vorräte dabei. Ich glaube, wir hätten die ganze Heilsarmee verpflegen können. Als es John endlich gelang den Wagen wieder zum Fahren zu bewegen, konnten wir uns endlich wieder auf den Weg machen.
Wir hielten in der nächsten kleinen Stadt und ließen uns erklären, wie wir am schnellsten zur Küste kommen. Während John sich mit den Einwohnern unterhielt hörte ich einen Schuß. Ich drehte mich um und sah, dass Louise sich hinter John versteckt hatte. Ich sah einen großen dunklen Mann auf sie zugehen und Nanny schrie: „Vorsicht John. Es ist Lou´s Stiefvater.“ John schob Louise zwischen die Einwohner und ging auf Louises Stiefvater zu. „Was wollen sie von uns ?“ fragte er ihn. „Ich will meine Tochter zurück.“ Louise stand zitternd bei den anderen. „Niemals !“ schrie John und schlug Bob die Waffe aus der Hand. Nanny nahm mich zur Seite und wir beobachteten das Geschehen. Bob versuchte John aus dem Weg zu räumen, doch dieser war standhaft. Er schlug Bob mit der Faust mitten in den Magen und Bob ging zu Boden. Er versuchte John am Bein zu packen, aber John wich ihm aus. Er nahm die Pistole und forderte die Bewohner dieser Stadt auf den Sheriff zu holen.
Dieser war auch bald da und nahm Bob fest. „Ich kann ihn eigentlich nur wegen Vandalismus festnehmen. Und das nur für einige Stunden.“ sagte der Sheriff der Stadt und legte Bob Handschellen an. Bob fluchte und beschimpfte uns. Er beschimpfte auch den Sheriff, doch dieser überhörte es einfach. „Sie sollten jetzt besser gehen.“ sagte er und stieg mit Bob in seinen Wagen ein. Sie fuhren weg und John kam zu uns. „Kommt, bevor er ihn wieder freiläßt. Wir müssen von hier verschwinden.“
„Woher wußte er, wo wir sind ?“ fragte ich. „Keine Ahnung, aber ich glaube, er gibt nicht so schnell auf. Und jetzt steigt bitte in den Wagen.“ Nanny holte noch ein paar kühle Getränke und wir machten uns wieder auf den Weg.
Als wir in New-Jake-City ankamen, von wo wir aus eigentlich mit der Fähre in die USA wollten, war keine Menschenseele zu sehen. Die Stadt war wie ausgestorben. Nur ein paar kranke Hunde und Katzen liefen uns über den Weg. Wir durchsuchten alle Häuser, aber niemand war zu finden. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Wir warteten vierzehn Tage lang als uns schon die Vorräte langsam ausgingen, als sich endlich ein Schiff hierher verirrte. Wir winkten, schrien und pfiffen, bis uns endlich jemand von der Crew hörte. „Ahoi.“ sagte ein gutaussehender Mann Mitte 20. „Was hat euch denn hierher verschlagen ? Wißt ihr denn nicht, dass hier Überflutungsgefahr besteht ? Alle Menschen wurden in die USA evakuiert.“ Wir waren so überhitzt, dass uns alles egal gewesen wäre, aber John sagte: „Nein wir wollten hier eigentlich Urlaub machen wegen des guten Klimas, aber da hier niemand war und wir fast keine Lebensmittel mehr haben, dachten wir uns, wir könnten in die USA mit eurem Schiff fahren. Wäre das möglich ?“ „Na klar, aber das Wohnmobil paßt glaube ich nicht auf unseren Dampfer. Wir haben selbst zu wenig Platz. Der müßte hier bleiben.“ „Aber das geht nicht.“ sagte Nanny. „Da sind unsere ganzen Sachen drin.“ „Ach Lady,“ sagte der nette Matrose „wir haben hier genug Taschen und Koffer und sogar Schubkarren. Ich glaube das haut schon hin." Er pfiff ein paar Männer her und sie halfen uns die Sachen auf das Schiff zu laden. „Wie heißt du denn, Mädchen ?“ fragte mich der Matrose. „Marie.“ antwortete ich schüchtern. Ich hatte noch nie einen so gut aussehenden Mann gesehen, außer meinem Vater natürlich. „Marie...schöner Name Marie...“ „Ja ist er wohl.“ „Und wie alt bist du ?“
Da ich nicht wußte, wie er auf mein richtiges Alter reagieren würde, log ich ihm vor, ich wäre schon neunzehn. „Aha, du siehst ganz schön jung aus für dein Alter." „Tja, das hat sie halt von ihrer großen Schwester, nicht wahr Schwesterherz.“ sagte Lou während sie ihren Arm um mich schlang. Sie reichte dem Matrosen die Hand und sagte: „Hi, ich bin Samantha, aber du kannst mich Sam nennen. Ich bin Marie´s große Schwester. Und wie heißt du ?“ „Aha, Sam.“ sagte er und reichte ihr höflich die Hand. „Ich heiße Marco. Ich komme aus Italien und ihr ?“ „Wir kommen aus Australien und wir finden es echt nett, dass ihr uns mitnehmt.“ „Keine Ursache. Wir nehmen gern nette Schwestern mit. Schließlich sind wir ja nur Männer auf dem Schiff und Frauen sind immer lustig und können eine tolle Stimmung verbreiten.“ „Stimmt. Und wo wir schon bei der Stimmung sind...“ hörte ich Lou noch sagen während sie Hand in Hand mit Marco auf das Schiff schritt.
Das war ja ein toller Reinfall. Ich treffe einen tollen Mann und sie schnappt ihn mir weg. Man lernt eben nie aus. Außerdem hatte sie die besseren Karten. Ich habe noch nie mit fremden Männern gesprochen und sie hatte Erfahrung damit. Ich machte mich also auf den Weg auf das Schiff und setzte mich auf die erste Bank, die ich fand. „Hi.“ hörte ich es neben mir plötzlich. Ich drehte mich um und neben mir auf der Bank saß der süßeste Junge, den ich jemals gesehen hatte. Er hatte dunkle, schwarze Augen, wunderschöne blaue Augen und war am ganzen Körper braungebrannt - zumindest der Teil den ich sehen konnte. „Ich bin Steven. Schön, dass ihr an Bord seit.“ „Ja find ich auch. Ich bin Marie - nett dich kennenzulernen.“ Wir schüttelten uns die Hand und bei seiner Berührung spürte ich wie mein Herz schneller schlug. „...äh...ich muss gehen“ sagte ich schnell und rannte zu Nanny. „Wo ist Lou ?“ fragte ich. „Sam ist mit Marco unterwegs. Wieso ?“ fragte mich John. Ich merkte, dass er Lou´s neuen Namen extra betonte, damit ich ihn ja nicht vergaß, also nannte ich Lou ab jetzt immer Sam.
In der zweiten Nacht wurde es ziemlich stürmisch und laut. Es donnerte und blitzte. Ich schlief neben John auf einem Reisebett und schlüpfte dann doch zu ihm hinein. „Keine Angst, mein Schatz. Es wird alles wieder gut.“ sagte er, bevor er endgültig in den Tiefschlaf fiel.
Am nächsten Morgen stand ich sehr spät auf und ich konnte nicht fassen, als ich „Sam“ mit Marco an der Reling entdeckte und sie sich küßten. Sie war doch erst siebzehn. „Sam !“ rief ich. „Kann ich dich mal kurz sprechen ?“ „Aber klar doch Schwesterherz.“ bezirzte sie mich. „Was willst du denn ?“ fauchte sie plötzlich, als Marco außer Reichweite war. „Ich habe jetzt keine Zeit für Kinderspielchen. Ich finde Marco nämlich wirklich süß und ich möchte für immer bei ihm bleiben.“ „Das geht aber nicht. Und das weißt du genau so gut, wie ich. Außerdem beruht eure Liebe auf einer Lüge und das ist nicht das richtige.“ „Ach was, wenn die Gefahr vorüber ist, dann beichte ich ihm alles. In acht Monaten werde ich achtzehn, dann kann mir mein Stiefvater nichts mehr anhaben.“ „Du bist aber plötzlich ganz schön mutig geworden. Oder irre ich mich da ?“ „Ich bin nicht mutig, aber du mußt mich verstehen. Hier auf der See, da kann mir keiner etwas antun und sollte es einer versuchen, dann ... springe ich einfach ins Wasser und schwimme davon. So einfach ist das.“ „Ach ja ? Und dann ? Willst du dann die tausend Meilen zurückschwimmen ? Du bist doch verrückt !“ Ich war sauer, machte kehrt und ging auf den Kapitän zu. „Entschuldigung, Sir. Wann kommen wir den in Amerika an ?“ „Tja, das kommt ganz darauf an, wie das Wetter mitspielt. Wenn es so bleibt dauert es etwa drei Tage, aber wenn nicht, dann kann es sein, dass wir noch gut sieben Tage unterwegs sind.“ „Wieso sollte das Wetter nicht mitspielen ? Es ist doch schön heute, oder nicht ?“ „Heute schon, aber heute Nacht war ein ziemliches Unwetter und wenn noch eins von denen kommt, dann sind wir erledigt. Noch einen Sturm hält dieser alte Schrotthaufen nicht aus. Tut mir leid Kleine.“ Er ging wieder in seine Kajüte und schloß hinter sich ab.
„Hi.“ Diese Stimme kannte ich doch. Ich drehte mich um und sah ihn, Steven. Er war jetzt noch hübscher als gestern und er war wirklich nett. „Hast du lust mit mir ein bißchen zu schwimmen ?“ fragt er. „Aber klar.“ sagte ich und wir gingen auf den Privatteil des Schiffes und schwammen im Swimmingpool gleich neben der Reling, wo wir die Haie beobachten konnten. Als ich gerade gedankenvoll auf den Horizont hinaus sah, nahmen mich zwei Händen an der Taille und drehten mich herum. Es war ein Sekundenbruchteil, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor, als Steven mir in die Augen sah und sagte: „Du bist das wunderschönste Mädchen, das ich je gesehen habe. Darf ich dich küssen ?“ Ich konnte nichts sagen. Seine Lippen näherten sich den meinen und er küßte mich leidenschaftlich. So etwa hatte ich vorher noch nie gefühlt und in diesem Moment hatte ich nichts anderes im Kopf, als diesen Kuß für immer bei mir zu halten.
„Was macht ihr denn da ?“ schrie Sam plötzlich. „Solltet ihr nicht im Kindergarten sein ?“ sagte sie scherzend. Ich war stinksauer auf sie und zog ihr das Handtuch aus der Hand und machte mich ohne Worte auf den Weg zu meiner Kajüte. Ich legte mich auf´s Bett und begann zu heulen. Ich heulte so lange, bis es plötzlich am Bullauge klopfte. Ich sah kurz hin und sah, dass eine Blume am Fenster klebte. Ich stand auf, öffnete das Fenster und nahm die Rose. Sie duftete nach frischen Wiesen - wie lange hatte ich schon kein Gras mehr gesehen und Bäume. Ich vermißte mein Zuhause und all die Menschen. Ich konnte es nicht ertragen hier eingesperrt zu sein, also ging ich hinaus und legte mich in die Sonne. Die Rose hatte ich natürlich vorher in mein Tagebuch gelegt, das ich unregelmäßig seit etwa zehn Jahren führte.
„Hi Marco.“ sagte ich, als ich ihn auf der Schaukel neben der Kombüse sah. „Hi Süße.“ sagte er und lächelte mich an. „Sag mal, kann ich mit dir reden ?“ fragte er mich. „Wenn´s nicht zu lange dauert, denn meine Nann...Mom wartet schon auf mich.“ Beinahe hätte ich mich verplappert; hoffentlich hatte er es nicht gemerkt. „Ich habe da ein paar Fragen an dich über dich und deine Schwester und deine komische Familie.“ Ich hatte Angst, aber ich konnte jetzt nicht einfach verschwinden also sagte ich cool: „Schieß los.“ „Okay, aber sei mir bitte wegen den Fragen nicht böse. Also, wie alt bist du wirklich ?“ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, deshalb rückte ich mit der Wahrheit heraus: „Ich bin erst sechzehn.
Aber in drei Monaten werde ich siebzehn. Tut mir leid, dass ich dich angelogen habe.“ „Schon gut. Ich weiß ja, dass du es nicht böse gemeint hast. Und wie alt ist Sam ?“ „Lou...Sam ist siebzehn. Wieso, was hat sie denn gesagt ?“ fragte ich schnell. „Wieso Lou ?“ „Ach - ich hab mich versprochen.“ „Ist das ihr richtiger Name ?“ „Ja, aber sag ihr nicht, dass ich dir das gesagt habe, okay ?“ „Okay !“ „Sie heißt in Wirklichkeit Louise. Wir nennen sie aber Lou. Geht schneller...“ „Aha. Und warum lügt ihr uns an ? Seid ihr auf der Flucht ?“ „Nein, ja, nein...ich weiß es nicht.“ „Na was jetzt ?“ fragte Marco ungeduldig „Eigentlich schon ! Wir flüchten vor Lou´s Vater. Er ist ... ich kann dir das nicht erklären, aber auf jeden Fall sind wir im Recht. Und sag keinem etwas darüber, okay ? Bitte !“ „Geht klar, aber wenn Sam oder Lou mich heute abend weiterhin anlügt, dann werde ich ihr mal gehörig die Meinung sagen müssen.“ „Mach das ruhig mal. Das hat sie sicher verdient, nachdem was sie allen vorlügt, müßte sie eine Medaille bekommen.“ Wir lachten und umarmten uns. Ich war froh, dass Marco so nett war. Er war echt süß, aber er war für mich wie ein Bruder und Steven ? Er war so schüchtern, dass er sich seit dem Kuß nicht mehr blicken ließ. Aber mit Marco verstand ich mich sowieso besser. Er hat Lou zur Rede gestellt und von da an wollte sie nichts mehr von ihm wissen.
Einen Tag vor unserer eigentlichen Ankunft in Amerika begann es plötzlich zu stürmen. Es war so kalt draußen, dass wir uns nicht hinauswagten. Lou wurde plötzlich seekrank und John bekam hohes Fieber. Die Wellen schlugen gegen das Schiff, als wollten sie es versenken und einige Stunden später schafften sie das auch. Ich konnte gerade noch Lou aus der Toilette holen bevor in allen Kajüten das Wasser stieg. Wir zogen uns hinauf auf das Deck und hielten uns an allen möglichen Gegenständen fest, um nicht verloren zu gehen. Ich hörte einen kurzen Schrei, bevor John ins Wasser fiel und wir ihn nicht mehr sehen konnten. Wir riefen nach ihm, doch wir konnten es nicht riskieren auch über Bord zu gehen. Nanny wurde immer nervöser und hielt uns beide fest in den Armen. „Madam, sie müssen sofort das Schiff verlassen. Auf der anderen Seite ist ein Ruderboot. Bitte beeilen sie sich.“ rief Marco Nanny zu. Im gleichen Augenblick sah ich, dass wir schon fast ganz untergegangen waren. Unsere Füße waren bereits unter Wasser.
Ich hatte furchtbare Angst. „Schnell Kinder, lauft zum Boot. Ich komme gleich nach.“ schrie Nanny und schubste uns Richtung Ruderboot. Wir rannten was das Zeug hielt und sprangen so schnell wir konnten ins Boot, bevor das Schiff ganz unterging. „Nanny !!!“ schrie ich. „Nanny !!!“ schrie Lou, aber wir konnten niemanden mehr sehen. Jetzt waren nur noch Lou und ich übrig und wir wußten nicht einmal wo wir waren. Wir waren total durchfroren, ich konnte meine Finger nicht mehr richtig spüren und Lou´s Gesicht war schon fast blau. „Wo ist Nanny ?“ fragte ich. „Sie ist...“ stotterte Lou „mit den anderen untergegangen.“ „Das kann nicht sein. Sie war doch gerade noch da.“ Aber es war niemand mehr außer uns auf der Wasseroberfläche.
Nach einigen langen Minuten beruhigte sich das Meer wieder und wir fielen uns weinend in die Arme. „Tut mir leid, dass ich so böse zu dir war.“ sagte Lou. „Schon gut. Aber was machen wir jetzt ohne John und Nanny ? Wir können sie doch nicht einfach vergessen.“ „Wir müssen sehen, dass wir irgendwo an Land kommen.“ antwortete Lou abwesend. Wir sahen uns um, aber nirgendwo war auch nur ein kleines Stück Land zu sehen. Wir schliefen erschöpft und unterkühlt ein.
7. Land in Sicht
„Wach auf, Marie.“ flüsterte Lou mir ins Ohr. „Ich glaube, wir sind gerettet.“ Ich öffnete meine Augen und wurde von der strahlenden Sonne geblendet. Es war herrlich warm und das Meer ziemlich ruhig. Ich setzte mich auf und sah, dass wir gestrandet waren.
„Gott sei Dank. Wir haben es geschafft. Wie lange sind wir denn auf See gewesen ?“ fragte ich Lou. „Du hast drei Tage geschlafen, Kleine. Aber jetzt ist alles vorbei.“ Wir umarmten uns und gingen an Land. Der Sand fühlte sich wie Seide unter meinen nackten Füßen an. Es war wunderschön, so dass ich mich einfach fallen ließ und die Sonne genoß.
„Du wirst nicht glauben, wo wir sind, Marie.“ rief Lou, als ich gerade aufwachte. „Was ist denn los ? Hast du jemanden getroffen ?“ „Komm mit, ich muss Dir etwas zeigen.“ Sie zog mich hoch und schleppte mich hinter einen Felsen. Als ich unseren alten Wohnwagen sah, sackte ich zusammen. Ich konnte es nicht glauben. Wir waren genau dahin zurückgekehrt, woher wir gekommen waren. „Aber das kann doch nicht sein, oder ?“ „Du siehst doch, dass es so ist. Und glaube mir, das ist diesmal keiner deiner Träume.“ „Wir haben das alles umsonst mitgemacht ?“ fragte ich bedrückt. „Ja. Und John und Nanny und all die anderen sind umsonst ertrunken. Nur wegen uns.“ „Ach was, doch nicht wegen uns. Der Himmel und die Erde wollten es so.“ „Du redest wieder nur Unsinn. Komm, wir sehen nach, ob wir noch was zu beißen im Wohnwagen gelassen haben.“
Lou öffnete die Türe und stieg ein. Ich sah mich um und folgte ihr dann. „Ha !!! Hab ich euch !“ hörte ich jemanden neben mir schreien. „Endlich. Hat ja auch lange genug gedauert.“ Es war Lou´s Stiefvater Bob. „Was wollen sie von uns ?“ fragte ich ihn höflich. „Das ist unser Wohnwagen. Verschwinde !“ schrie Lou ihn an. „Hallo mein Schätzchen. Kennst du denn deinen Daddy nicht mehr ?“ fragte er mit einem unheimlichen Grinsen auf den Augen. „Du bist nicht mein Vater.“ schrie Lou ihn an.
Bob hatte bereits gekocht und mich und Lou derweil an einen Stuhl festgebunden. Er machte uns eine leckere Erbsensuppe, die gar nicht mal so übel schmeckte. Ich wußte gar nicht, was sie gegen ihn hatte. „Na Kleine, wo sind denn deine Eltern ?“ fragte er mich dann. Da ich nicht wußte, was er mit uns vorhatte antwortete ich schnell: „Sie sind unten am Strand schwimmen, sie müssen jeden Moment zurückkommen.“ „Ach ja,“ fragte er „und warum habe ich dann seit zwei Tagen hier niemanden gesehen ? Du bist ganz schön gewitzt, kleines Fräulein.“ sagte er und zwinkerte mir zu.
8. Bob´s wahres Gesicht
„Was willst du von uns ?“ fragte Lou ihn. „Ich will, dass du und Mommy und die anderen wieder zu mir nach hause kommt. Ich vermisse euch so sehr.“ „Ach ja ? Warum haben sie dich dann eingesperrt ?“ fragte Lou frech. Im gleichen Moment schlug Bob mit seiner flachen großen Hand in Lou´s Gesicht. Ihre Backe rötete sich schnell. Das muss ein ganz schön heftiger Schlag gewesen sein, aber Lou kümmerte das anscheinend nicht. Sie rührte nicht eine Träne. „Das ist das einzige, was du kannst.“ schrie sie ihn an. Ich bekam es mit der Angst zu tun, aber einerseits bewunderte ich ihre Ausdauer und ihre Stärke. „Sei nicht so frech, sonst mußt du die andere Backe auch noch hinhalten.“ „Dann schlag mich doch. Mir tut das schon lange nichts mehr. Ich habe keine Gefühle mehr, seitdem du mich damals krankenhausreif geschlagen hast.“ „Das ist nicht wahr. Und das weißt du auch.“ sagte er ganz ruhig. „Du bist die Treppe hinuntergefallen und hast dir sehr weh getan. Das weißt du doch noch, oder ?“ „Richtig ! Und den Hammer habe ich mir auch selbst auf das Schlüsselbein geschlagen, oder ? Du tickst doch nicht mehr richtig !“ fauchte sie schon fast. Sie hatte keine Stimme mehr. Wir hatten seit vier Tagen nichts mehr getrunken. Irgendwann verliert jeder seine Kraft. „Lassen sie sie doch erst einmal zur Ruhe kommen, Mister. Sie ist total fertig. Wir haben Schiffbruch erlitten und...“ Aber er ließ mich nicht weiter zu Wort kommen.
„Das geschieht euch recht. Wenn ihr nicht davon gelaufen wärt, dann wäre das alles nicht passiert und ihr hättet nicht leiden müssen. Aber ich will nicht so sein. Hier, trinkt das.“ Er gab mir eine Flasche Wasser in die Hand und ließ mich daraus trinken. „Danke, Sir.“ „Du kannst mich ruhig Bob nennen. Schließlich sind wir hier nicht im Land der reichen Leute.“ „Okay, Bob. Danke.“ antwortete ich brav. Ich hatte solche Angst vor diesem unscheinbaren Kerl, dass ich zu zittern begann. Er ließ Lou ein wenig trinken und trug uns dann beide in den hinteren Teil des Wohnwagens. „So, ihr schlaft jetzt und ich will keinen Mucks von euch hören, bis ich euch hole. Wir fahren nach Hause, Schätzchen.“ sagte er und schloß die Trennwand ab. Ich hörte, wir er nach draußen ging und die Türe verriegelte. Dann gab es einen kurzen Ruck und wir fuhren los.
9. Reise nach Nirgendwo
„Marie, du darfst dich auf keinen Fall von ihm fertig machen lassen, okay ? Tu nie das, was er dir befiehlt. Gib ihm nie eine Antwort. Bitte.“ flehte Lou. „Aber ich kann doch nicht zu einem Erwachsenen frech sein.“ „Du hast einfach zuviel Anstand von Nanny gelernt. Sei einmal du selbst und geh aus dir heraus. Du bist jetzt meine einzige Hoffnung. Wir haben nur noch uns beide. Niemand wird uns hier raushelfen, weil alle denken, dass wir bereits in den USA sind. Verstehst du denn nicht ? Wir sind verloren, wenn du mir nicht hilfst.“ Ich sah mich um und ich konnte aus dem Fensterspalt lugen. Ich sah, dass wir noch weiter in die Wüste fuhren und ich hatte schreckliche Angst. „Okay.“ sagte ich. „Aber du mußt mir versprechen, dass wir wenn wir zuhause sind einmal deine Anstandsregeln durchkämmen und, dass du versuchst eine Lady zu werden.“ „Marie...wenn wir jetzt nicht zusammenhalten, dann werden wir nie wieder ein Haus von innen sehen.“ Wir schwiegen und Lou begann zu weinen. „Hey, ich werde auf dich aufpassen. Ich habe keine Angst und sollte irgend jemand versuchen dir weh zu tun, dann werde ich ihn solange quälen, bis er es aufgibt. Das verspreche ich dir.“ Wir schliefen beunruhigt ein.
„Hey ihr zwei. Aufwachen. Wir müssen schieben. Der Wagen hat´s aufgegeben. Macht schon.“ schrie Bob. „Was ist denn los ?“ fragte Lou entgeistert. „Der Motor ist überhitzt, wir müssen ein paar Meilen schieben. Na kommt schon. Hier ist Endstation für Faulenzer.“ Er band uns los und drängte uns hinaus. Wir mußten etwa zusammen mit ihm etwa zehn Meilen schieben, bis wir schon fast einen Hitzschlag hatten.
„Hey !“ flüsterte Lou mir zu. „Wie wär´s, wenn wir hier abhauen ?“ „Bist du verrückt ? Wir sind hier total fremd. Hier gibt es weit und breit keine Stadt. Und du willst hier abhauen. Noch dazu sind wir mitten in der Wüste. Vergiß es, Lou.“ Lou sah ziemlich fertig aus und brach plötzlich ohne ein Wort zusammen. „Bob. Schnell. Kommen Sie. Lou geht es nicht gut.“ schrie ich. Bob machte ein böses Gesicht und ich wich einen Schritt zurück. „Was sollen diese Scherze ?“ fragte er sauer. „Steh auf Kleine, sonst darfst du den Wagen alleine schieben.“ Doch Lou antwortete nicht. „Vielleicht ist sie tot !“ fing ich an zu wimmern. „Sei still. Sie ist nicht tot. Sie atmet doch noch, siehst du das nicht ?“ Er nahm Lou hoch und trug sie in den Wohnwagen. Er legte sie auf das Bett und holte ihr eine Flasche Wasser. „Hier,“ sagte er zu mir und hielt mir die Flasche hin. „Gib ihr das zu trinken und kühl sie ein bißchen ab. Wir machen vorerst mal einen Pause. In einer Stunde will ich, dass ihr wieder fit seit. Verstanden ?“ „Ja, Sir.“ antwortete ich. „Sag nicht immer Sir zu mir und heb mir auch noch ein bißchen Wasser auf. Das ist die letzte Flasche.“ Er ging hinaus und ließ mich mit Lou alleine.
„Lou ?“ fragte ich. „Was ist passiert ? Wie geht es dir ?“ Ich gab ihr einen Schluck zu trinken und kühlte mit der kalten Flasche ihre Stirn. „Es geht schon wieder. Bob ist so ein Idiot.“ „Hier trink das zuerst.“ sagte ich gab ihr das Wasser. „Danke.“ Sie trank die halbe Flasche in einem Zug leer. „Nicht soviel Louise. Bob hat gesagt, dass das die letzte Flasch ist.“ „Das ist doch super. Dann müssen wir ja demnächst einmal irgendwo in einer Stadt anhalten.“ „Du hast recht und wenn wir es klug anstellen, dann könnten wir versuchen abzuhauen oder Hilfe zu holen.“ „Hast du denn noch nicht kapiert, dass uns niemand helfen kann ?“ sagte sie sauer. „Die Polizei kann ihn nirgendwo außer in Nevada verhaften. Wir müssen uns selbst helfen.“ „Okay, aber wie können wir das anstellen ?“ „Laß mich das nur machen. Geh du raus zu Bob und unterhalte ihn ein wenig, während ich mir hier etwas einfallen lasse.“ Ich tat was sie sagte und ging raus zu Bob. „Hi.“ sagte ich. „Na ?“ antwortete er ganz höflich. „Geht es ihr schon besser ?“ „Es geht, aber ich glaube sie braucht noch eine kleine Pause.“ Bob nickte und sah in die Ferne. „Ganz schön einsam hier, hm ?“ fragte er mich. „Ja. Irgendwie unheimlich. Sag mal Bob, wenn wir kein Wasser mehr haben, müssen wir dann nicht einmal in eine Stadt fahren und welches kaufen ? Wir können doch nicht verdursten, oder ?“ „Keine Angst, ich habe vorgesorgt. Hundert Meilen südlich von hier ist eine kleine Farm. Sie gehört meinem Bruder und er hat bestimmt genug Wasser für uns. Aber wenn der Wagen nicht anspringt, dann glaube ich, dass wir dort nicht so heil ankommen.“ Er sah mich kurz an und dann gleich wieder in die Ferne. Ich wußte nicht, was er vorhatte, aber ich glaube, er war nicht so dumm, wie Lou dachte.
10. Richards Haus
Als wir nach zwei heißen Tagen endlich an der Ranch von Bob´s Bruder Richard ankamen waren wir total fertig. Die letzten fünfzig Meilen fuhr wenigstens der Wagen wieder. Wir hatten lange nichts mehr getrunken und Lou hatte Probleme mit ihrem Kreislauf.
„Ihr wartet hier, verstanden ?“ sagte Bob und stieg aus. Wir saßen ruhig im Auto und sahen Bob nach. Er klopfte an der Tür, doch es schien, als würde ihm keiner öffnen. Also hämmerte er regelrecht gegen die alte Holztür. „Hey Richard ! Mach schon auf du alter Sack. Ich bin´s Bob.“ schrie er. „Denkst du, dass er da ist ?“ fragte ich Lou. „Keine Ahnung, aber ich hoffe, wir bekommen bald etwas zwischen die Kiemen.“ Bob kam zurück zum Wagen. „Steigt aus. Wir machen es uns hier ein bißchen gemütlich bis Richard wiederkommt.“
Bob schlug das Hinterfenster ein, kroch hinein und machte uns von innen auf. Uns stieg ein alter vermoderter Geruch in die Nase. Es roch nach verwestem Fleisch, aber das schien Bob nicht zu stören. „Ich suche uns was zu essen und ihr seht euch nach Decken und Holz für den Kamin um.“ Ich suchte mit Lou im oberen Stockwerk nach Decken und wir fanden nichts außer ein paar alter Leintücher, die wir mit nach unten nahmen. „Hier riecht es so komisch,“ sagte ich zu Lou. „Ja, ich weiß. Glaubst du, hier stimmt was nicht ?“ „Ich weiß nicht, aber es macht mir Angst.“ Wir gingen zu Bob in die Küche. Er hatte einen ganzen Kühlschrank voller leckerer Sachen gefunden und die Vorratsschränke waren auch vollgestopft. „Na also. Richard war wohl vor seiner Abreise noch einkaufen. Was wollt ihr essen ?“ „Mir wäre etwas zu trinken lieber.“ sagte Lou. „Sei nicht so frech Kleine, sonst mußt du fasten.“ schimpfte Bob. „Ich koche euch was und ihr räumt derweil diesen Saustall auf.“ Das Haus sah wirklich schrecklich aus. Überall waren Spinnweben und Schmutz auf dem Boden. „Die haben wohl noch nichts von der Müllabfuhr gehört.“ sagte Lou während sie anfing den Müll in eine Plastiktüte zu stecken, die neben der alten Couch stand.
Bob hatte inzwischen Steaks mit Bohnen gekocht. Es roch jetzt wenigstens wieder gut im Haus, aber richtig Hunger hatte ich jetzt nicht mehr, nachdem was wir hier alles an Müll gefunden hatten. „Kommt ! Es gibt leckeres zu essen.“ rief Bob aus der Küche. Natürlich stürmte Lou gleich hinein und machte sich am Tisch breit. „Das riecht wirklich gut.“ sagte sie zu Bob. Das war das erste nette Wort, das ich von ihr seit langem hörte. Wir aßen gemütlich und machten dann noch einen kleinen Spaziergang um das Haus. Es war eine sehr schöne Gegend, aber dieser komische Geruch ging mir einfach nicht mehr aus der Nase.
„Hier gibt es weit und breit keine Bäume. Woher sollen wir jetzt Holz für den Kamin bekommen ?“ fragte ich Bob. „Dann nehmen wir halt einfach einen alten Stuhl von Richard. Der brennt bestimmt auch gut.“ lachte Bob und ging wieder ins Haus. Wir folgten ihm und sammelten alles, was aus Holz und nicht mehr brauchbar waren. Bob warf einen uralten Stuhl in den Kamin und zündete ihn mit seinen Streichhölzern an. Es wurde schön warm und ich setzte mich mit Lou unter eine Decke vor den Kamin.
„Ihr solltet jetzt schlafen. Morgen wird ein harter Tag. Ich muss den Wagen reparieren und ihr müßt mir helfen.“ befahl uns Bob und zeigte auf das Sofa. „Nein, danke. Wir schlafen lieber hier vor dem Kamin.“ sagte Lou und breitete ein Laken auf dem Boden aus. Ich legte mich neben sie und nahm das andere Laken für uns zum Zudecken. „Von mir aus. Aber weckt mich nicht auf, wenn euch heute Nacht die Ratten fressen.“ „Keine Angst, ich glaube nicht, dass wir ihnen schmecken.“ erwiderte Lou und legte sich neben mich. Bob und Lou schliefen bald ein, doch ich hatte ein ungutes Gefühl. Der Geruch wurde von Stunde zu Stunde stärker und mir war schon richtig übel. Ich konnte einfach nicht schlafen, also stand ich auf und sah mich im Haus um.
In der Küche fand ich eine Taschenlampe, mit der ich mich in das obere Stockwerk aufmachte. Es war hier unheimlicher als in einem Horrorfilm und um so weiter ich ging um so mehr Angst hatte ich. Ich schlich mich durch das ganze Haus, aber nirgendwo war etwas besonderes außer diese dummen Mäuse, die überall umherliefen. Ich habe keine Angst vor Mäusen, aber sie quieken immer so schrecklich. Plötzlich hörte ich ein quietschendes Geräusch hinter mir. Ich drehte mich um und sah aber niemanden. Es hörte sich an, als würde jemand die Treppen runtersteigen, also lief ich wieder hinunter. Ich wollte Bob und Lou nicht wecken, also folgte ich dem Geräusch ganz vorsichtig und leise. Meine Taschenlampe hatte ich längst ausgeschalten, damit ich nicht gesehen werden konnte. Ich sah dass die Kellertür offenstand. Komisch, ich hatte sie vorhin gar nicht bemerkt.
„Du bist doch lebensmüde.“ sagte ich zu mir selbst und ging in den Keller. Es war stockfinster hier und überall wo ich hinfaßte berührte ich Spinnweben. Ich stieg die Treppen vorsichtig hinab und tastete mich an der Wand entlang. Es war wirklich ekelerregend, weil ich nicht wußte, was ich da alles berührte. Beinahe hätte ich angefangen zu schreien, als ich plötzlich etwas hartes spitziges fühlte. Ich tastete es ab und drückte es. „Na endlich.“ sagte ich. Es war der Lichtschalter. Die Neonlampen flackerten und als das Licht völlig klar war blieb ich starr vor Angst stehen. „Bob ! Lou ! Ahhhhh...!“ schrie ich. Ich glaube sogar, die nächst größere Stadt wurde mitaufgeweckt, weil ich so laut schrie, dass es nur etwa zwei Sekunden dauerte, dass Bob und Lou oben an der Kellertreppe standen.
„Was ist denn los ? Was hast du hier eigentlich zu suchen ?“ fragte Bob erbost darüber, dass ich ihn aus dem Schlaf gerissen habe. Doch ich konnte nicht antworten. Mein Blick starrte immer noch auf die gleiche Stelle wie vor dem Schrei. Lou stieg zu mir herunter. „Oh mein Gott, Bob !“ schrie auch Lou jetzt. Wir waren wie versteinert. Vor uns lag ein etwa vierzigjähriger Mann, der voll von Ratten und Mäusen war. Sie nagten an seinem Körper und überall hingen Fleischfetzen von ihm weg. Seine Augäpfel waren aus den Höhlen getreten und dort wo einmal seine Nase war, befand sich ein großes Loch. Die Ratten hatten seine Lippen aufgefressen, so daß man seine kaputten Zähne sehen konnte. Der Geruch hier unten war widerlich und dieser Anblick war noch viel widerlicher. Nun kam Bob endlich herunter. „Haut ab ihr Mistvieher, schert euch zum Teufel. Laßt meinen Bruder in Ruhe. Richard. Was ist passiert ?“ fragte er fast schon weinend und verjagte das Ungeziefer, das versuchte Richard zu verzehren. Aber dieser Richard konnte ihm nicht mehr antworten. Ich schätze, er lag schon einige Zeit hier unten und versorgte das Ungeziefer mit seinem Fleisch. „Ist das Onkel Richard ?“ fragte Lou. „Aber er ... er sieht so ...“ stotterte Lou. Sie brachte kein Wort mehr heraus. „Geht nach oben und holt ein Laken, damit wir ihn zudecken können. Morgen früh werden wir ihn begraben.“ befahl uns Bob und wir gingen nach oben.
Ich nahm ein Laken und Lou ein altes Kissen. Sie gab es mir uns sagte: „Bitte bring du es nach unten, ich kann diesen Anblick nicht ertragen.“ Ich nickte und ging zu Bob. Ich reichte ihm das Laken und das Kissen. Er deckte seinen Bruder behutsam zu und stützte seinen - halb verwesten - Kopf mit dem Kissen. „Mir ist schlecht.“ sagte ich. „Geh nach oben. Sag Lou, sie soll dir was gegen Übelkeit geben. Ich komme gleich nach.“
Ich ging wieder nach oben, aber ich fand Lou nicht. Erst als ich jemanden weinen hörte bemerkte ich, dass Lou vor der Tür saß. Ich ging zu ihr und hielt sie im Arm. „Er war zwar kein netter Onkel, aber immerhin...“ „Laß es gut sein.“ tröstete ich sie. Als Bob nach einer Ewigkeit hochkam sahen wir schon den Sonnenaufgang. „Es wird hell. Fangt an zu graben.“ sagte er und gab uns zwei Schaufeln in die Hand. „Aber...“ „Kein aber...grabt hinter dem Haus ein Loch mit drei Fuß Tiefe und wenn ihr fertig seit, dann ruft mich.“ Ohne Widerworte - die hätten sowieso nichts genützt - gingen wir hinter das Haus und fingen an zu graben. Es war zwar noch früh am Morgen, aber die Hitze war jetzt schon unerträglich. Wir machten so schnell wir konnten und so um die Mittagszeit waren wir dann auch fertig. Dieser Boden war ziemlich hartnäckig. „Bob !“ schrie Lou. „Komm raus. Wir sind fertig.“ Er kam nicht sofort, aber als er kam hatte er irgend etwas über seiner Schulter hängen. Es war die Leiche von Richard. Mir wurde wieder übel. Bob legte Richard´s Leiche sorgfältig in das Loch und deckte ihn mit dem Laken zu. Dann nahm er die Schaufel und begann das Loch wieder zuzuschütten. Es wunderte mich, aber er machte das ganz alleine. Ihm standen die Wut und der Haß im Gesicht geschrieben, aber er sagte kein Wort, als wir uns neben ihn auf den sandigen Boden setzten und ihm zusahen.
Es dauerte nicht lange, aber Bob war schweißgebadet. „Kommt. Wir müssen was essen und dann machen wir uns wieder auf den Weg.“ sagte er schnell und ging wieder ins Haus. Wir folgten ihm, machten uns einen Haufen Sandwiches und lagerten etwa fünfzig Liter Wasser im Wohnwagen. Wir nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war und in unseren Wohnwagen hineinpaßte. „Diese Geier sollen nichts bekommen.“ murmelte Bob andauernd. Als wir fertig waren war es schon wieder dunkel und Lou und ich setzten uns hinten in den Wagen, weil im Wohnwagen kein Platz mehr war. Bob stand mit dem Rücken zu uns und sah sich noch einmal das Haus an. „Hoffentlich beginnt er jetzt nicht zu weinen.“ sagte Lou spöttisch. Ich schlug sie mit dem Ellenbogen in die Seite und schüttelte den Kopf. „Wie kannst du nur so herzlos sein. Schließlich war es sein Bruder.“ sagte ich und sah zu Bob. Bob drehte sich jetzt um und stieg vorne ein. Er ließ den Wagen an, den er leider noch nicht repariert hatte, der sich aber bis jetzt ganz gut anhörte und fuhr los. Wir waren ziemlich geschafft und deshalb schliefen wir auch ein paar Meilen später ein.
11. Lou auf Abwegen
Als ich aufwachte sah ich, dass Bob am Straßenrand geparkt hatte und ebenfalls schlief. Er schnarchte laut vor sich hin. Ich sah aus dem Fenster und sah einen großen Fluß. Das mußte der Lake-River sein. Es gab hier weit und breit keine großen Flüsse außer diesem. „Hey, Lou.“ sagte ich und drehte mich in ihre Richtung. Doch sie lag nicht neben mir. Ich sah mich um und sah nur Bob, dem der Speichel aus den Mundwinkeln lief. Ich stieg aus und sah mich um . Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Wo war sie nur. Ich ging zum Wohnwagen und öffnete die Tür. Dort war sie auch nicht. Aber ich konnte doch nicht schreien. Also ging ich zu Bob. Zuerst zögerte ich, ihn zu wecken, aber es blieb mir einfach keine andere Chance.
Ich schüttelte ihn lange, bis er endlich zu sich kam. „Hey. Was willst du denn schon wieder ?“ fragte er sauer. „Lou ist verschwunden. Sie ist nicht mehr hier.“ sagte ich. Ich kam mir vor wie eine Verräterin. „Waaas ?“ schrie er und stieg aus. „Das kann doch nicht sein ! Dieses kleine Luder. Na warte !“ schimpfte er und ging auf den Fluß zu. „Lou ! Lou !“ schrie er in das Wasser. „Sie ist doch bestimmt nicht davongeschwommen, oder ?“ fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf und sah in den Fluß. „Hoffentlich ist sie nicht ertrunken.“ sagte ich traurig. „Ach was, ich selbst habe Lou das Schwimmen beigebracht und sie schwimmt besser als jeder andere Mensch auf der Welt.“ antwortete Bob mir. Ich war traurig. Lou ließ mich mit ihrem Vater einfach alleine. Ich wußte ja, dass sie abhauen wollte, aber ich dachte, sie würde mich wenigstens mitnehmen.
Wir stiegen wieder ins Auto und fuhren weiter. Bob war eigentlich ganz nett zu mir bis auf, dass er andauernd an seinen Kindern und seiner Frau herumnörgelte. Ich konnte nicht verstehen, wie man so einen Menschen lieben konnte, der immer nur meckert. Endlich nach ein paar Meilen kamen wir in eine Stadt. „Sei bloß still und verhalte dich unauffällig, dann wir dir nichts passieren, verstanden ?“ drohte er mir. „Ja Bob. Verstanden.“ sagte ich und wir parkten vor einem riesigen Steak-House. „Wir gehen jetzt erstmal essen. Tja, da hat Lou eben Pech gehabt. Sie hat nichts zu essen und auch nichts zu trinken. Das ist jedem sein Bier.“ lachte er und stieg aus. Ich folgte ihm und wir setzten uns an den erstbesten Tisch, den wir sahen. Bob bestellte zwei große Portionen Steak mit Kartoffeln und Gemüse und ging dann schnell auf die Toilette. Ich sah derweil aus dem Fenster und sah die vielen Leute auf der Straße. Wie ich Sydney vermißte...
„Bitteschön.“ sagte die Kellnerin. „Sag deinem Dad, dass wir kein dunkles Bier mehr haben, aber ich habe ich ein besseres hingestellt.“ lachte sie mich an. Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte sie gebeten, mich von hier wegzubringen. Aber ich hatte viel zu viel Respekt vor Bob. Ich wollte nicht riskieren, dass er hier in aller Öffentlichkeit ausfallend wurde und Radau machte, also nickte ich nur und begann zu essen. Es war das beste, was ich seit langem gegessen hatte und als Bob wiederkam lächelte er zufrieden. „Ich weiß jetzt wo Lou ist.“ sagte er plötzlich. „Wir holen sie später ab.“ Wir aßen fertig und Bob bestellte uns sogar noch zwei große Eisbecher, die wir verschlangen. Bob rülpste kurz und zahlte. Wir stiegen in den Wagen und fuhren in die Innenstadt. Bob hielt vor dem Polizeirevier.
Er stieg wortlos aus, schloß den Wagen ab und ging hinein. Ich saß nur da und wußte nicht, was ich von ihm denken sollte. Warum waren wir zur Polizei gefahren ? Jemand klopfte an die Windschutzscheibe und lugte zur mir herein. Es war ein kleines Mädchen und sie winkte mir. Ich winkte zurück und lächelte. Dann sah ich, wie jemand hinter das Mädchen trat und sie hochnahm. Es war ihre Mutter. Das Mädchen lachte laut und ihre Mutter kitzelte sie. Ich wurde traurig und vermißte meine Nanny mehr als je zuvor. Warum mußte das alles geschehen ? Und warum nahm es einfach kein Ende.
Als Bob heraus kam hatte er Lou an der Hand. Ich konnte es nicht fassen. Sie war zur Polizei gegangen ! „Lou !“ rief ich, als er sie ins Auto drängte. „Wo warst du denn ? Bist du denn verrückt ?“ fragte ich sie. Als Bob einstieg war das erste, was er tat, das Radio laut einzuschalten. Er nahm Lou an den Schultern und schüttelte sie. „Du hast wohl gedacht, dass du ganz schlau bist, oder ? Zufällig ist Officer Bradley ein guter Freund von mir und ich glaube es ist mein gutes Recht meine ausgerissene Tochter zurückzuholen.“ schrie er. Er packte sie immer fester und plötzlich schlug er ihr ins Gesicht. Ich konnte das nicht mit ansehen. Ich nahm das Warndreieck unter dem Beifahrersitz und Schlug es ihm auf den Kopf. Bob wurde bewußtlos. „Lauf, Marie !“ schrie Lou während sie ihre Türe öffnete.
Wir rannten so schnell und so weit wir nur konnten. Es war eine große Stadt und Gott sei Dank waren überall Schlupflöcher. Wir versteckten uns in einem alten Gebäude, das zum Abriß bereit stand. Wir gingen ins oberste Stockwerk und entdeckten ein paar alte Männer, die sich an einem Lagerfeuer wärmten. „Dürfen wir uns zu euch setzten ?“ fragte Lou. Einer der Männer lächelte und sagte: „Na klar, ihr seid ja ganz außer Atem. Woher kommt ihr ?“ „Wir mußten abhauen, uns hat ein sehr böser Mann verfolgt, dem wir lieber nicht mehr begegnen wollen.“ antwortete Lou hastig und setzte sich ans Feuer. Ich sah kurz aus dem Fenster um zu sehen, ob Bob uns gefolgt war und machte es mir dann auch am Feuer gemütlich. Die Männer waren sehr nett und gaben uns sogar Brot und etwas zu trinken. Sie spielten Gitarre und sangen viele traurige Lieder. Sie waren alle obdachlos und hatten keine Familie mehr. Sie taten mir leid. „Könnten wir heute hier übernachten ?“ fragte ich. „Aber klar, wir haben bestimmt noch ein paar Decken für euch übrig.“ sagte einer der Männer, der wie sich später herausstellte, Mike hieß. Wir kuschelten uns aneinander und schliefen ein.
Am nächsten Morgen als wir aufwachten waren die Männer verschwunden. Sie hatten uns aber eine Dose Bohnen und Brot dagelassen. Das war wirklich nett von ihnen. „Lou, was machen wir jetzt ?“ fragte ich. „Zuerst einmal müssen wir von hier wegkommen.“ sagte sie und öffnete mit einem spitzen Stein die Dose. „Hier iß erstmal was.“ Sie hielt mir einen alten Löffel hin und wir frühstückten. Wir durchsuchten das ganze Haus um zu sehen, ob etwas Nützliches zu finden war. Aber das einzige was hier nützlich war, war ein uraltes Messer, das schon ganz stumpf war. Man hätte es höchstens noch zum Streichen für Brote benutzen können. Aber Lou nahm es trotzdem mit.
12. Die Flucht
Als es Abend wurde, trauten wir uns aus dem Haus. Wir nahmen nur die dunkelsten Straßen und waren ganz leise. Als wir an einer großen Bank vorbeikamen, fiel mir ein, dass ich ja Geld hatte. Zwar nicht hier, aber in Sydney. Ich mußte also nur noch sehen, wie ich an mein Geld kommen konnte, ohne dass es auffiel. „Wir brauchen dringend Geld, sonst kommen wir nie nachhause.“ flüsterte ich Lou zu. „Ja, aber wie willst du das anstellen ?“ Ich nahm sie an der Hand und wollte gerade in die Bank gehen, als mir von innen eine nette Dame winkte und deutete, dass sie gerade schließen würden. „Bitte lassen sie uns rein. Es dauert nicht lange. Bitte. Es ist wichtig.“ flehte ich. Aber die Dame schien stur zu bleiben. Plötzlich fiel Lou um. „Oh mein Gott !“ rief die Dame. Sie sperrte die Türe auf und tätschelte Lou´s Wange. „Was ist denn los, Kinder ?“ fragte sie mich. „Woher kommt ihr und was macht ihr hier alleine auf der Straße ? Wo sind eure Eltern ?“ Mir fiel nichts besseres ein, also log ich: „Wir sind von zuhause ausgerissen, aber wir haben meine Kreditkarte verloren. Jetzt können wir nicht mehr heimfahren. Wir vermissen unsere Mommy und unseren Daddy so.“ „Kreditkarte ?“ fragte die Dame. „Ja, ich bin Marie Sinclair. Ich habe ein Konto bei der Bank of America und wir möchten Geld abheben, um nachhause zu fahren.“ Die Dame nahm mich an der Hand und Lou wachte endlich auf. „Mir war plötzlich so schlecht. Ich glaube, das waren die Bohnen.“ sagte sie mit einem gedrückten Lächeln. „Das ist jetzt schon das dritte mal.“ sagte ich zu ihr. „Da stimmt doch was nicht !“ „Ach was, das ist nur mein Kreislauf. Ich verkrafte das alles nicht.“ antwortete sie keck und stellte sich neben mich. „Also gut, Kinder. Kommt herein. Aber ihr müßt euch beeilen. Wenn mein Chef sieht, dass ich so spät noch Kunden hereinlasse, dann gibt es Ärger und ich kann mir einen neuen Job suchen.“ Sie nahm uns mit in die Bank und führte uns in ein Nebenzimmer.
Sie machte uns eine Tasse Tee und setzte sich dann an ihren Computer. „Wie war dein Name nochmal ?“ fragte sie. „Marie Sinclair.“ sagte ich ihr und schaute gespannt in den Bildschirm. Ich hatte so eine Kiste vorher immer nur hinter einer dicken Glasscheibe im Schaufenster gesehen. Diese Computer waren wirklich interessant. Sie tippte mit einer Leichtfertigkeit in die Tastatur und als sie fertig war erschien auf ihrem Bildschirm ein Bild von mir und meine persönlichen Daten. „Na also. Da haben wir dich ja. So, so. Du hast also sehr viel Geld auf deinem Konto junge Dame.“ „Ja. Aber das nützt mir nichts, wenn ich es nicht benutzen kann.“ „Keine Angst. Ich werde dir eine Ersatz-Kreditkarte geben und dann brauchst du dir keine Sorgen mehr um eure Heimreise machen, in Ordnung ?“ „Okay !“ sagte Lou schnell. „Aber wir brauchen auch noch ein bißchen Bargeld. Wir können doch nicht in so einer Stadt als reiche Damen auftreten, wenn wir nicht einmal so aussehen. Wir würden an der nächsten Ecke überfallen werden.“ „Du hast recht.“ sagte die Lady. Sie tippte schnell etwas in den Computer ein und schaltete ihn dann ab. „Kommt mit, wir müssen in den Zentral-Safe.“ Wir gingen in den Keller der Bank und sie öffnete eine schwere Eisentür mit ihrer Code-Karte. Man hörte überall Maschinen arbeiten und am Ende des Raumes war wieder eine dieser schweren Türen. „Hier ist unser Drucker-Raum.“ sagte die Dame. „Deine Karte ist gleich fertig.“ Wir mußten noch einige Minuten warten, bis die Karte sichtbar aus dem Drucker kam und jetzt mußte ich sie nur noch unterschreiben. Wie gesagt, so getan und dann machten wir uns wieder auf den Weg zum oberen Teil der Bank. „Jetzt bekommst du noch ein bißchen Bargeld und dann könnt ihr hier abhauen.“ sagte die Bankangestellte und ging in den Kassenschalter. Dort schaltete sie den Computer ein, was einige Zeit dauerte, und öffnete dann die Kasse. Sie holte uns zehn Zwanzig-Dollar-Scheine heraus und gab sie mir. Ich steckte sie sorgfältig in meine hintere Hosentasche und bedankte mich nochmal. „Keine Ursache. Paßt auf euch auf und laß euch nicht überfallen. Sagt euren Eltern einen schönen Gruß, wenn ihr zuhause seit und sie sollten sich mal ein wenig um euch zwei Süßen kümmern.“ „Okay, machen wir. Vielen Dank nochmal.“ sagte Lou. Sie sperrte uns die Türe auf und wir machten uns auf den Weg.
Ich hörte einen Zug pfeifen wollte Lou darauf hinweisen, aber sie kam mir zuvor. „Sieh mal, da hinten ist der Bahnhof.“ rief sie und rannte los. Ich lief ihr hinterher und als wir dort ankamen stand dort ein Polizeiwagen. „Bleib stehen und geh zurück - aber langsam.“ sagte Lou ruhig. Wir verschwanden um die nächste Ecke. „Bob ist hier irgendwo. Wir müssen irgendwie anders hier wegkommen.“ Ich drehte mich um und sah ein Schaufenster. Ich ging hin und sah, dass sie noch geöffnet hatten. „Komm Lou. Wir müssen uns verkleiden. Hier gibt es alles, was eine Dame braucht.“ sagte ich und trat in den Laden ein.
Es war ein großes Geschäft und es gab überall schöne Kleider zu sehen. Ich zog Lou hinter mir her und suchte uns ein paar teure Sachen aus. Der Kassierer sah uns nur kurz an und verschwand dann wieder hinter seiner Zeitung. Er schien sehr gelangweilt zu sein. Wir probierten unendlich viele Kleider an, bis endlich jeder das richtige gefunden hatte. Natürlich kauften wir uns noch zwei wunderschöne Hüte dazu und gingen zur Kasse. „So meine Damen.“ sagte der Mann. „Ihr wollt das also alles kaufen und auch gleich anbehalten, habe ich recht ?“ „Richtig Mister, wir müssen uns beeilen, bitte machen sie schnell. Unser Zug fährt gleich ab.“ „Okay, okay.“ Der Mann tippte die Beträge in die Kasse und ich legte ihm meine Kreditkarte hin. Er zog sie durch den Scanner und gab sie mir zurück. „Danke für den Einkauf und noch einen schönen Abend.“ sagte er freundlich und wir gingen zum Bahnhof.
Wir gingen gerade auf den Eingang zu, als plötzlich jemand „Halt meine Damen !“ rief. Ich erschrak und war starr vor Angst. Ich drehte mich um und ein Officer kam auf uns zu. „Könnte ich mal eure Ausweise sehen ?“ fragte er höflich. „Hey, Jim ! Laß die Mädchen in Ruhe. Wir suchen ganz andere.“ rief einer seiner Kollegen aus dem Wagen. „Entschuldigung Ladies. War ein Mißverständnis.“ Er drehte um und setzte sich wieder in den Wagen.
Erleichtert gingen wir weiter. In der Halle waren viele Menschen und wir mußten uns an einer langen Schlange am Schalter anstellen. „Das ist ja gerade nochmal gutgegangen.“ sagte Lou. „Puh. Ich bin total geschafft. Hoffentlich kommt bald der nächste Zug.“ Wir mußten eine Weile warten, bis wir an der Reihe waren und ich kaufte zwei Ticketts nach Sydney. Da unser Zug aber erst in einer guten Stunde abfuhr setzten wir uns derweil in das Café direkt neben den Gleisen. Wir kauften uns Kaffee und Kuchen und redeten über unsere Flucht.
Als wir dann endlich im Zug saßen waren wir erleichtert. Wir hatten sogar einen eigenen Abteil und konnten uns breitmachen. „Glaubst du, dass Bob schlimm verletzt ist ?“ fragte ich Lou. „Und wenn schon. Er war auf jeden Fall nicht verletzt genug, um uns von der Polizei suchen zu lassen.“ Lou legte ihre Füße hoch und schloß ihre Augen. „Genieß einfach die Ruhe.“ sagte sie und dann schlief sie ein.
13. Endlich zuhause
„Sid-County - Endstation.“ hörte ich den Schaffner rufen und schnellte hoch. „Wir sind da !“ rief ich voller Begeisterung und öffnete das Fenster. Ich blickte hinaus und sah unsere gute alte Heimatstadt. Wir stiegen aus und atmeten tief durch. „Jetzt müssen wir nur noch nachhause kommen.“ sagte ich und nahm Lou bei der Hand. „Komm, gehen wir.“ sagte ich und wir schlenderten gemütlich in die Innenstadt. Endlich fanden wir ein Taxi mit Kreditkartenleser und stiegen ein. Der Mann sah uns etwas verwundert an, aber er kapierte recht schnell, wohin wir wollten. Auf dem Weg nachhause konnte ich es nicht glauben. Wir hatten so viel durchgemacht und jetzt sind wir wieder in Sicherheit.
Als wir auf den Hof fuhren kam uns Cornelius, einer von unseren Gärtnern, entgegen. Als er mich sah rieb er seine Augen und begann zu schreien. „Kommt alle raus. Unsere Marie ist zurück.“ Wir stiegen aus und ich bezahlte das Taxi. Plötzlich kamen aus allen Ecken und Enden unser Personal und alle stellten Fragen, die wir selbst nicht beantworten konnten. „Wo wart ihr denn ? Wieso habt ihr nicht angerufen ? Wo ist John ? Wo ist Nanny ?“ fragten uns alle. „Laßt uns erstmal ins Haus gehen.“ sagte Louise.
Als wir in der Bibliothek saßen, erzählten wir beide unser Erlebnis. Wir ließen kein Detail aus, auch nicht, dass wir geflüchtet waren. „Wie konnte dieser Bob euch eigentlich finden ?“ fragte jemand. „Wir wissen es nicht, aber er ist nicht so blöd wie wir dachten.“ antwortete Lou. Nach diesen aufregenden Wochen waren wir es leid uns eingeengt zu fühlen, also stellten wir nach dem Essen hinter dem Haus mein Zelt auf. Wir schwammen einige Runden im Swimmingpool und genossen die Stille. Als es spät wurde rief uns Carter - unser ältester Butler - ins Haus. Wir sahen, dass alle versammelt waren und befürchteten das Schlimmste. „Was ist los ?“ fragte ich.
„Wir haben gerade von der Navy gehört, dass sie einige Leichen aus dem Wasser geholt haben. Genau in der Nähe von einem uralten Dampfer. Sie konnten nur eine Person bisher identifizieren. Es war John.“ antwortete Carter. „Oh mein Gott.“ „Ja, und es sind sechs weitere Personen dabei und eine davon ist weiblich. Es kann also gut möglich sein, dass das Nanny ist. Und wir dachten, ihr erzählt ein bißchen mehr, als ihr müßtet. Es ist also alles wahr, was ihr erzählt habt ?“ „Natürlich ist das alles wahr. Habt ihr denn wirklich gedacht, dass wir uns so etwas nur ausdenken würden ?“ Sie sahen uns alle reumütig an, bis Lou endlich das Schweigen brach. „Hey, ist ja schon gut. Hauptsache, ihr glaubt uns jetzt.“ „Genau. Wir wollten doch nichts anderes, als dass wir heil nachhause kommen.“ „Also gut, Marie.“ sagte Carter. „Aber ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt alle schlafen gehen. Morgen können wir immer noch weiterreden.“ Alle nickten und wir wünschten uns eine gute Nacht. Wie diese Nacht wirklich werden sollte, war niemandem bewußt. Wir gingen wortlos auf mein Zimmer und schliefen sofort ein.
14. Töten oder getötet werden
Plötzlich - es war mitten in der Nacht, hörte ich seltsame Geräusche im Flur und zog meinen Morgenrock über. Ich spähte aus dem Schlüsselloch, sah aber niemanden. Lou drehte sich im Bett und ich erschrak. Sie schien nicht aufgewacht zu sein, also öffnete ich vorsichtig die Tür. Es war dunkel im Flur, aber ich konnte ein paar Kerzen in der Halle erkennen. Ich schlich mich leise von Tür zu Tür und versuchte vorsichtig herauszubekommen, wer hier um diese Uhrzeit in unserem Haus herumspukte. Ich hatte schreckliche Angst, aber ich konnte nicht zulassen, dass jetzt, wo wir endlich zuhause waren, jemand unseren Hausfrieden zerstörte. Mir schwebten alle möglichen Hirngespinste im Kopf herum, aber was ich sah, als ich in die Küche kam, konnte nichts mehr übertreffen.
„Miss de lour a Saison !“ rief ich erstaunt. „Was machen sie denn hier ?“Lou´s Mutter drehte sich erschrocken in meine Richtung. „Es...tut mir leid, Kleine. Aber ich hatte keine andere Wahl. Wo ist Louise ?“ fragte sie verwirrt. „Was tut ihnen leid ?“ fragte ich sie verwundert. „Einer deiner Angestellten hat mich benachrichtigt, dass ihr wieder da seid und...“ „Halt den Mund, Weib.“ schrie plötzlich jemand hinter mir. Ich drehte mich um und ich sah in die haßerfülltesten Augen, die ich je gesehen hatte. Es war Bob. „Wie...wie...,“ stotterte ich, bevor er mir seine Pistole auf den Kopf schlug und alles um mich herum dunkel wurde.
Als ich aufwachte war niemand mehr zu sehen. Mein Kopf schmerzte und ich spürte Blut auf meinen Haaren. „Oh Gott ! Louise !“ rief ich, schnellte hoch und rannte in den ersten Stock. Ich hörte jemanden schreien und blieb ruhig stehen. Ich schlich mich zuerst ins Bad und holte mir ein Handtuch. Ich legte es auf meine Platzwunde und ging wieder auf den Flur hinaus. Als ich gerade versuchte durch das Schlüsselloch meines Zimmers zu spähen ging die Tür auf und Miss de lour a Saison flog mir entgegen. Sie stolperte über mich und stürzte über das Treppengeländer in die Halle. „Oh nein.“ quiekte ich leise. Ich sah kurz hinunter und die Misses lag blutüberströmt am Boden. Sie sah schrecklich aus und ihrer Körperhaltung zufolge war sie tot. Ich starrte einige Zeit auf ihre Leiche, bis ich wieder einen Schrei hörte. Diesmal war es Lou, die um ihr Leben rannte. Sie stürzte aus der Tür und rannte die Treppen hinunter beinahe wäre sie gestürzt, doch sie konnte in letzter Sekunde ihr Gleichgewicht noch halten. „Louise !“ rief ich ihr nach, aber sie hörte mich nicht. Statt dessen hörte mich Bob und kam aus meinem Zimmer. „Na also. Ich wußte doch, dass du hart im Nehmen bist.“ sagte er mit einem dreckigen Grinsen auf den Lippen und packte mich brutal am Arm. „Louise.“ rief er. „Ich habe hier jemanden, der deine Hilfe braucht. Ich glaube nicht, dass du deine beste Freundin im Stich lassen wirst, Louise.“ Aber er irrte sich. Von Lou war nichts zu sehen. Er schleppte mich in die Besenkammer, holte sich ein Seil heraus und knotete es mir um die Hände. „So, dann kannst du keinen Unsinn anstellen.“ Er band das Seil so fest, dass ich nach kurzer Zeit meine Hände kaum mehr spürte.
Er zog mich die Treppen hinunter an Miss de lour a Saison´s Körper vorbei und dann hinaus auf den Hof. „Louise !“ rief er wieder und wieder, aber sie ließ sich nicht blicken. „Was haben sie vor ?“ fragte ich. „Sie werden damit nicht davon kommen, das verspreche ich ihnen.“ „Halt deinen vorlauten Mund, sonst geht es dir so wie meiner Frau.“ lachte er hämisch und sah sich um. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich konnte meine Hände kaum bewegen so schmerzte mich das Seil. Er zog mich durch den ganzen Garten und als wir an der Schlucht ankamen, blieb er stehen. „Vielleicht hat sie sich selbst umgebracht.“ sagte ich frech. „Wenn du nicht still bist, dann wirst du dich gleich selbst umbringen.“ bekam ich zur Antwort. Er sah vorsichtig die Schlucht hinunter und zog mich dann weiter zum Bedienstetenhaus. „Carter !“ rief ich. „Hilf mir. Er ist verrückt. Hol die Polizei.“ „Du kannst aufhören. Sie hören dich nicht. Oder glaubst du, ich bin auf den Kopf gefallen ? Außerdem war das die Rache für deine mutige Aktion im Auto. Weißt du noch ? Ich habe das nicht vergessen. Du bekommst auch noch deine Strafe, aber erst, wenn wir Louise gefunden haben.“ Ich war total verzweifelt, nicht nur weil ich feige war, sondern auch weil ich alle immer nur in Schwierigkeiten brachte. Wären wir nur in eine andere Stadt gefahren als zurück nachhause. Ich hätte es auch wissen müssen. Wir gingen in den Stall zu den Pferden. „Louise. Komm jetzt endlich heraus. Meine Geduld ist bald am Ende. Ich warte nicht ewig. Wenn du es so willst, dann werde ich eben deine kleine Freundin vor dir töten. Dann habe ich wenigstens nicht so viel Ballast an mir, wenn ich mir dich vorknöpfe.“ „Du wirst niemanden töten ! Verstanden ?“ hörte ich Lou schreien. Sie stand auf dem oberen Teil des Stalles, wo das Stroh gelagert wird. Sie hatte eine Mistgabel in der einen Hand und in der anderen ein Seil. Das Seil hatte sie zuvor am Dachbalken angebracht. Sie war nicht auf den Kopf gefallen.
„Komm sofort da runter du Miststück.“ Er zog noch fester an meinem Seil. Meine Hände waren jetzt wirklich taub. Er zog ein Messer und hielt es mir an die Kehle. Ich schluckte und Tränen rannen mir über mein Gesicht. „Laß sie sofort los.“ schrie Lou. „Wenn du runter kommst, dann werde ich das vielleicht auch tun.“ Lou zog kurz an ihrem Seil und schwang sich dann auf den Boden. Sie machte das sehr geschickt mir ihrer Mistgabel in der Hand. Bob stieß mich zur Seite und sprang auf Lou zu. Lou konnte sich gerade noch zur Seite rollen, bevor er ihr mit seinem Buschmesser den Bauch aufgeschlitzt hätte. Wo war nur seine Pistole, fragte ich mich. Ich suchte nach ihr, aber ich konnte sie an ihm nicht entdecken. Während er mit Lou einen Kampf austrug versuchte ich mich aus meinen Fesseln zu befreien. Ich rieb das Seil an der Drahtbürste und machte es so dünner. Es dauerte lange, aber Lou gab nicht so schnell auf. Sie schlug Bob mit der Mistgabel auf den Kopf und in den Magen, aber er ließ sich keine Schmerzen anmerken. „Verdammtes Miststück.“ rief er, bevor er wieder auf sie lossprang.
Endlich hatte ich es geschafft das Seil so zu lockern, dass ich mit den Händen herauskam, aber sie waren immer noch taub. Ich sah mich um und fand einen Eimer Wasser am anderen Ende des Stalles. Ich kroch vorsichtig hin, so dass Bob mich nicht sehen konnte und stecke meine Hände hinein. Das tat gut. Meine Handgelenke hatten schon angefangen zu bluten und das Wasser kühlte den Schmerz. Bob und Lou kämpften immer noch gegeneinander und ich sah mich nach einem Hilfsmittel um, das ich benutzen könnte, um Bob zu stoppen. Plötzlich sah ich die Pistole neben einem Heuhaufen hervorblitzen. Ich schlich mich langsam hin und als ich gerade dabei war, sie an mich zu nehmen, schlug Bob mir mit seinen spitzen Stiefeln in die Rippen. „Verschwinde. Das ist nichts für kleine Mädchen.“ schrie er. Ich brach zusammen und landete neben der Pistole. Als ich sie gerade nehmen wollte, packte Bob meine Hand und entsicherte sie. Er bog meine Hand um und zielte auf Lou. Ich hörte nur noch den Schuß und sah, wie Lou zu Boden ging. „Nein !!!“ schrie ich und wehrte mich. Doch Bob ließ nicht locker. Er zog mich hoch und versuchte mir die Pistole aus der Hand zu reißen, doch mit letzter Kraft legte ich meinen Finger auf den Abzug und drückte ab. Ich traf nur seine rechte Schulter, aber wenigstens ließ er mich los. Ich wich einen Schritt zurück und wollte noch einmal schießen, doch dieses verdammte Ding wollte einfach nicht losgehen. Ich versuchte es wieder und wieder, aber es funktionierte nicht. Bob stand plötzlich wieder auf und hielt seine Schulter fest. Seine Hände waren mit Blut überströmt und er war etwas benommen. „Das hat man davon, wenn man es nur gut meint.“ lechzte er. Ich kam in Panik und lief mit der Pistole aus dem Stall. Ich rannte zur Schlucht und warf sie hinunter. Als ich Bob hinter mir herrufen hörte lief ich weiter.
Ich rannte in unser Bedienstetenhaus und wollte Hilfe holen, doch überall lagen nur Leichen von unseren Angestellten. Sie waren alle samt von Bob erschossen worden. Sie hatten alle ein Loch in der Stirn; Bob mußte sie regelrecht hingerichtet haben, so wie sie hier lagen. Mir wurde übel und meine Platzwunde pochte. Ich konnte nicht mehr richtig denken also lief ich in die Küche. Ich suchte nach einer Waffe, doch alles was ich fand war ein Fleischermesser. Ich nahm es an mich und spähte aus dem Fenster. Bob war nicht zu sehen. Ich schlich mich gerade zur Hintertür hinaus, als mich Bob von der Seite packte und mich auf den Boden schlug. „So, jetzt bist du dran.“ stöhnte er und trat auf mich ein. Er nahm einen Besen, der an der Hauswand lehnte und versuchte nach mir zu schlagen. Ich konnte mich nicht mehr schnell bewegen, da meine Rippen von seinem Fußtritt sehr weh taten und ich versuchte aufzustehen. Doch Bob ließ es nicht zu. Er schlug mich immer wieder in den Magen oder in den Rücken, um mich auf dem Boden zu halten. „Sie haben doch erreicht, was sie wollten, oder ? Was wollen sie denn noch ?“ schrie ich ihn an. „Einer mehr oder weniger - das macht jetzt auch nichts mehr. Und du solltest es lieber genießen, so lange du noch am Leben bist.“ antwortete er mir und trat wieder auf mich ein. Ich bekam fast keine Luft mehr und begann zu röcheln. Ich suchte das Gras ab und sah das Messer neben einem großen Stein liegen. Ich versuchte langsam dorthin zu kriechen und Bob half mir mit seinen Schlägen. Er bemerkte nicht, dass das Messer dort lag, wohin er mich prügelte. Als ich nah genug dran war machte ich mit letzter Kraft einen Satz und packte das Messer. Ich drehte mich um, stand auf und ging auf Bob zu. „So so, du willst also immer noch nicht aufgeben. Was hast du denn hinter deinem Rücken versteckt ?“ fragte er. Ich gab ihm keine Antwort, sondern rannte auf ihn zu und stach ihm das Messer genau in die Brust. Ich fiel auf den Boden und konnte beobachten wie Bob zurücktorkelte. Er packte das Messer am Griff und versuchte es herauszuziehen. „Du Miststück, ich hätte dich gleich töten sollen.“ quiekte er mit letzter Kraft, bevor er über den Baumstamm fiel, der hinter ihm lag. Es wurde still.
Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte es geschafft. Ich kroch zu ihm hin und versuchte mich zu vergewissern, dass er auch wirklich tot war. Seine Augen waren weit aufgerissen und aus seinem Mund strömte Blut. Seine Hände lagen schlaff neben ihm. Ich schleppte mich wieder ins Haus. In mir schmerzte alles und mein Kopf war kurz vorm Platzen. Ich erreichte endlich das Telefon im Wohnzimmer und wählte den Notruf. Doch Bob hatte vorsorglich die Telefonleitungen herausgerissen. Ich wollte nicht wieder über all die Leichen klettern, also stand ich auf und kroch durch das Fenster auf die Veranda. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch durchhalten würde, deshalb mußte ich mich beeilen. Ich sah den Stall und dachte sofort an Angel. Ich pfiff nach ihm und er wieherte. Das Tor war zu, sonst wäre er zu mir gekommen, aber ich schaffte es, das Tor zu öffnen und vor mir stand er auch schon. Ich nahm den kleinen Hocker von der Seite und stieg auf. Mich durchfuhr es von solchen Schmerzen, wie ich es noch nie erlebt hatte und legte mich auf Angel´s Rücken. Nur gut, dass er nicht gesattelt war. Sein Fell färbte sich langsam rot durch mein Blut und ich versuchte es wegzuwischen, doch ich machte es nur noch schlimmer. Ich mußte nicht viel tun, um Angel in Bewegung zu setzen, er lief von ganz alleine auf das Haupttor zu. In langsamen Galopp ritten wir in Richtung Straße, doch als Angel diese gerade überqueren wollte, konnte ich mich nicht mehr halten. Ich fiel herunter und landete auf dem kalten, harten Asphalt. Angel erschrak und rannte davon. Ich wollte ihn rufen, doch ich hatte keine Kraft mehr. Plötzlich sah ich ein paar Scheinwerfer auf mich zukommen. Ich hob meine Hand und hörte nur noch eine Hupe, dann wurde alles um mich herum dunkel.
Epilog
Ich wurde von den besten Ärzten unserer Stadt wieder zusammengeflickt, wurde mir später von den Schwestern erzählt. Ich hatte vier gebrochene Rippen, drei gebrochene Finger, einen verstauchten Arm, ein geprelltes Bein, eine Gehirnerschütterung, eine Platzwunde am Kopf und zu guter letzt lag ich auch noch zwei Wochen im Koma. Der Farmer, der mich auf der Landstraße aufgegabelt hatte hat mich sofort zum Krankenhaus gefahren, aber er hat keine Angaben über seine Personen gemacht, sondern ist dann einfach weitergefahren. Er war meine letzte Rettung. Wäre er nicht zufällig gerade unterwegs gewesen, wäre ich höchstwahrscheinlich nicht mehr aufgewacht. Mein Retter ist bis heute noch unbekannt, aber sollte er dies einmal lesen, so möchte ich ihm hiermit herzlichst danke sagen.
Die Ärzte waren zufrieden mit der Heilung meiner Knochen und Wunden. Die Therapien waren sehr anstrengend für mich, denn ich durfte drei Monate lang nicht laufen. Ich mußte also praktisch das Gehen erst wieder lernen. Aber ich war hartnäckig und übte sogar noch, wenn alle Patienten schliefen. Ich mußte so schnell wie möglich wieder gehen lernen.
An meinem siebzehnten Geburtstag bekam ich von den Schwestern einen großen Kuchen gebacken und wir verspeisten ihn in deren Mittagspause. Ich hatte mich ziemlich gefreut und mich auch bei allen bedankt, aber als ich dann vor dem Fenster ein Mädchen mit ihren Eltern nachhause gehen sah, da konnte ich die Tränen nicht mehr halten. Ich hatte jeden Menschen verloren, den ich je einmal geliebt habe. Schwester Patricia hielt mich fest im Arm und schickte die anderen hinaus. „Marie. Sei nicht traurig, denk nur mal, was du alles durchgemacht hast und trotz allem bist du am Leben.“ Ich sah ihr in die Augen und sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Schürze und gab es mir. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und sagte leise: „Ich weiß, ich sollte glücklich sein, aber wie soll ich nur all die lieben Menschen vergessen ? Sie haben mir immer geholfen und sie sollten immer für mich da sein. Und was mache ich jetzt ? Ich bin noch nicht volljährig, ich darf noch nicht einmal alleine zuhause wohnen. Sie stecken mich bestimmt in ein Heim.“ Plötzlich fing Schwester Patricia an zu lachen. „Wieso lachen sie ?“ fragte ich. „Du bist mir schon ein komischer Kauz !“ sagte sie. „Du hast doch eigenes Land, oder ?“ „Ja, aber...“ „Und du hast genug Geld. Sie können dich gar nicht in ein Heim stecken, weil du doch schon über sechzehn bist. Du darfst genau so wie jeder Erwachsene in deinem eigenen Haus wohnen und dort allein leben. Kennst du denn die Gesetze nicht ?“ Ich dachte darüber nach, während Schwester Patricia das schmutzige Geschirr hinaus räumte. Wenn das wahr war, was sie sagte, dann wäre soweit ja alles in Ordnung.
Natürlich mußte ich mich erst bei einem Anwalt erkundigen und das tat ich auch sofort. Ich rief bei Mister Jackson Costum an und er erzählte mir genau das gleiche wie die Krankenschwester. Er sagte sogar, dass ich auch eigene Angestellte einstellen dürfte, soweit es mir mein Budget erlaubte.
Am darauffolgenden Monat bekam ich meine Stützen weg und ich durfte alleine im Park spazieren gehen. Ich setzte mich im Schatten auf eine Bank und sah den Kindern zu, die ihre Mütter besuchten. Sie waren glücklich und ich glaube, ich war es auch, denn ich war noch am Leben, und das ist alles, was zählt.
Mister Costum war ein wirklich netter Mann, er bot mir sogar an meine Finanzen zu regeln. Ich willigte natürlich ein und seit diesem Telefonat ist Mister Costum einer meiner besten Freunde. Mit Schwester Patricia treffe ich mich heute noch und wir sind gute Freundinnen geworden, bis sie geheiratet hat und nach Boston gegangen ist. Aber wir schreiben uns noch oft und telefonieren gelegentlich miteinander. Sie ist wie eine Mutter für mich.
Mittlerweile bin ich selbst verheiratet und habe einen Sohn und eine Tochter. Edward, mein Mann ist der liebevollste Vater, den man sich vorstellen kann und Lou und Louise, meine Kinder sind einfach wunderbar. Sie helfen mir, wo sie nur können. Ich habe ihnen nie von meinen Erlebnissen erzählt, weil ich angst hatte, ich würde sie erschrecken, aber sobald sie etwas älter sind und die Zeit dafür gekommen ist, werde ich ihnen diese Geschichte geben, dann können sie selbst entscheiden, ob sie meine Vergangenheit kennen möchten oder nicht.
Hätte ich das alles vorher schon gewußt, hätte ich alles anders gemacht...
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