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Das Leben nach dem Verlust des eigenen Kindes
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Ich schreibe dies, weil ich sonst befürchte nicht damit fertig zu werden. Es ist eine Therapie für mich, die mir weder ein Psychologe, noch ein Arzt im Krankenhaus empfohlen hat. Ich habe vor einer Woche damit angefangen, und weiß, dass es mir gut tut. Es hilft mir meinen Schmerz über den Verlust meines Sohnes zu lindern. Es in Worte zu fassen, die ich nicht aussprechen könnte. Nicht in der Öffentlichkeit, und, was noch viel schlimmer ist, nicht bei meinem Mann.
Anfangs fiel es mir schwer alles aufzuschreiben, meine tiefsten Gefühle zu offenbaren, auch wenn dies hier niemand lesen wird. Mit der Zeit fällt es mir immer leichter. Ich weiß nicht warum, aber ich bin froh über diesen Zustand, auch wenn man in dieser Zeit das Wort „froh“ nicht ohne nachzudenken benutzen sollte. Es ist wirklich so. Das Schreiben hilft mir alles besser zu Verarbeiten. Trotzdem ist auch ein gewisses Maß an Scham damit verbunden. Obwohl ich es albern finde, schäme ich mich, dass ich nicht mit meinem Mann, oder wenigstens mit einem Psychologen darüber reden kann. Ich schäme mich wie ein Kind, das sich heimlich die Pornos seines Vaters anschaut.
Es ist verrückt, fast schon pervers. Über so eine Scheiße mach ich mir Gedanken, während mein Sohn im Koma liegt und vielleicht nie wieder aufwacht (oh Gott, darüber darf ich noch nicht einmal nachdenken). In meinem Kopf oder meinem Herzen ist ein kleiner Punkt, der versucht mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Er wirft mir ständig vor, dass ich meinen Mann betrüge, dass ich so zu sagen geistig fremdgehe.
Je mehr ich versuche diesen Punkt in mir zu ignorieren, desto größer wird er. Er wächst wie ein Tumor. Nur, dass man einen Tumor rausoperieren lassen kann. Bei meinem Problem ist die Lösung leider nicht ganz so einfach. Mein schlechtes Gewissen lässt sich nicht abschalten, obwohl es unangebracht und unbegründet ist.
Manchmal kann ich meinem Mann nicht mal mehr in die Augen sehen. Ich befürchte etwas zu sehen, was mir nicht gefallen würde. Ich erwarte, dass in seinen Augen geschrieben steht, dass ich an allem Schuld bin. An Klaas Unfall, und am scheitern unserer Beziehung. Auch wenn es keiner von uns beiden laut ausspricht, ist uns beiden klar, dass die Trennung nur noch eine Frage der Zeit ist.
Er gibt mir die Schuld daran. Auch wenn er es nicht bewusst tut. Ich merke es an seinem Verhalten mir gegenüber. Wenn er sich einen Kaffee macht und mich nicht fragt, ob er mir eine Tasse mitbringen soll. Früher, bevor Klaas angefahren wurde, hat er es immer gemacht. Es war so etwas, wie ein Ritual für ihn und mich. Es war ein Beweis für reife Liebe.
Nicht der Liebe, die man mit 16 erlebt, mit falschen Vorstellungen, und einer Länge, von höchstens einem Jahr Dauer.
Die reife Liebe bedeutet, dass man sich sicher ist, bis ans Ende seines Lebens zusammenzubleiben. Und das waren wir!
Das scheinen Kleinigkeiten zu sein, aber sie spiegeln die Empfindungen, die er mir gegenüber hat deutlich wieder.
Deshalb war ich heute bei der Eheberatung. Alleine, ohne meinen Mann. Ich bin mir nicht sicher, ob er mitkommen würde. Ich bedauere das. Vielleicht würde das unsere Situation verbessern und uns wieder näher zusammen führen.
Ich hatte Angst, und es war mir sogar peinlich, als ich die Tür aufmachte und in das Zimmer ging, indem ich mit einem fremden Menschen, mit dem ich vorher nur telefoniert hatte, über meine Ehe sprechen sollte. Es war ein schrecklich kleines Zimmer, direkt unter dem Dach. Das engte mich noch mehr ein und ich wusste nicht, ob ich in der Lage wäre alles zu offenbaren. Ich wollte nur die Teilwahrheit sagen. Den Teil mit Klaas Unfall und dem Koma wollte ich bewusst weglassen. Es schien zu intim und zu schmerzlich zu sein.
Der Mann der mich hinter seinem Schreibtisch erwartete, Dr. Wilhelm Groß, machte anfangs einen äußert sympathischen Eindruck. Er war adrett gekleidet und frisch rasiert. Er war ein kleiner etwas dicklicher Mann, der aussah, als hätte er die Worte Toleranz und Verständnis erfunden.
Er musste bemerkt haben, was in mir vorging, denn er sprang sofort auf und ging auf mich zu.
„Guten Tag Frau Wendel, mein Name ist Wilhelm Groß, wir haben miteinander telefoniert nicht wahr?“
Er gab mir die Hand. „Ja, das haben wir.“ Mehr sagte ich nicht. Ich wartete ab, was als nächstes passieren würde.
Damit ich nicht falsch verstanden werde, nach Klaas Unfall war ich bei unzähligen Psychologen und Seelenklempnern, aber diese Situation war anders. Diesmal ging es nicht um mich, diesmal ging es um uns. Es ging um etwas Konkretes, nämlich um unsere Ehe. Der Eheberater war ein solches Verhalten wohl gewohnt und reagierte deshalb äußerst gefühlvoll. Er weiß wie man mit Patienten umgeht.
Erst einmal bot er mir an, mich zu setzen. Er zeigte auf einen kleinen Tisch an dem zwei Sessel standen, in der hintersten Ecke des Raums. Als ich meinen Mantel ausgezogen hatte (er nahm ihn mir ab und henkte ihn an den Kleiderständer) und mich hingesetzt hatte, fragte er ob ich einen Kaffee oder ein anderes Getränk haben wolle. Ich nahm den Kaffee. „Extra stark“, sagte ich lächelnd, während er schon auf dem Weg in die Küche war.
Ich hatte Zeit mich etwas im Zimmer umzusehen. Die einzigen Möbelstücke außer den Stühlen und dem kleinen Tischchen waren der Schreibtisch und ein Regal, indem allerlei Papierkram lag. Hauptsächlich, so vermute ich, Patientenakten. Überhaupt hatte es unordentlich ausgesehen. Vor der Wohnungstür des Doktors, der in einem zweistöckigen Haus zur Obermiete wohnte, standen zwei leere Bierflaschen und ein Paar abgenutzter gelber Gummistiefel. Es stört mich nicht, im Gegenteil das macht den Mann für mich noch sympathischer. Ich hasse Menschen, die penetrant auf Sauberkeit achten. Fanatiker, hatte sie Klaas genannt. Er hat es stets im Spaß gesagt, aber ich glaube das dieses Wort in diesem Zusammenhang gut passt.
Aber ich schweife ab! Ich wollte von meinen ersten Besuch bei Dr. Groß schreiben und nicht von Eigenschaften, die ich an Menschen hasse. Das würde ein extra Buch werden, vielleicht hätte es die Länge der Bibel.
Der Doktor setzte sich gegenüber von mir hin und stellte mir eine Tasse dampfenden Kaffee auf den Tisch. Ich bedankte mich. „Aber bitte, das ist doch nicht nötig, ich wollte mir sowieso gerade einen machen.“
Sein Grinsen verriet, dass dem nicht so war. Als Nächstes holte er einen Block und einen Kuli hervor und fragte mich nach meinen Personalien.
Ich bin mir nicht sicher, wofür er diese Informationen braucht. Aber natürlich berichtete ich ihm alles. Ich glaube in diesem Moment hätte ich ihm sogar meine Kreditkarte und meine Geheimzahl, ohne zu fragen, ausgehändigt. Ich fühlte mich alleingelassen und schutzlos. Wie ein Schüler, der in eine neue Klasse kommt.
Nachdem er das erledigt hatte, legte er den Block auf den Tisch. Er nahm in später immer wieder in die Hand, um sich Notizen zu machen. Dann stellte er mir ein paar Fragen. Warum ich ihn aufsuche, wie ich mich fühle, in welcher Beziehung ich lebe, und warum mein Mann bei dem Gespräch nicht dabei war.
„Er weiß nichts von diesem Gespräch“, sagte ich. „Ich weiß nicht, wie er zu so was steht, wir hatten in der letzten Zeit zu vielen Psychologen Kontakt und er hat nicht immer positiv auf solche Treffen reagiert, und ich möchte abwarten.“
„Gut“, hatte er gesagt. „Das kann ich voll und ganz nachvollziehen, doch zu einer Ehe gehören zwei Menschen, und es bringt nichts, wenn sich nur ein Partner mit den Problemen auseinandersetzt.
Glauben sie mir, ich habe Erfahrung in diesen Dingen, es ist schließlich mein Beruf.“ Er hatte gelächelt. „Deshalb möchte ich sie bitten, ihren Mann das nächste Mal mitzubringen, vorrausgesetzt es gibt ein nächstes Mal.“
Ich habe so etwas befürchtet. Es bereitet mir jetzt noch Kopfschmerzen. Ich weiß nicht, ob ich es über mich bringe meinem Mann davon zu erzählen und ihn zu bitten mitzukommen. Vielleicht fühlt er sich hintergangen, weil ich den Eheberater aufgesucht habe, ohne ihn zu informieren. Ich habe den nächsten Termin in genau einer Woche, also nächsten Dienstag. Bis dahin muss ich es ihm sagen, oder zumindest den Termin absagen. Wenn ich nur wüsste wie er darauf reagieren würde! Es täte unserer Ehe sicherlich gut, oder besser gesagt, es wäre ein letzter Hoffnungsschimmer.
Die Frage, die dem Eheberater wohl am peinlichsten war, war die nach dem letzten Mal Sex, den ich mit meinem Mann hatte. Mir war vorher schon klar gewesen, dass diese oder eine ähnliche Frage kommen würde, und hatte mich innerlich schon darauf vorbereitet. Sie schockierte mich keineswegs. Allerdings war die Überraschung groß, als ich darüber nachdachte und feststellen musste, dass wir seit langer Zeit nicht mehr mit einander geschlafen haben, uns sogar nicht mehr leidenschaftlich geküsst haben. Über einen freundschaftlichen Kuss am Frühstückstisch oder vor dem Schlafengehen kam unsere Sexualität in letzter Zeit nicht hinaus.
Das normale Pensum, vor Klaas Unfall, war zwei – drei Mal pro Woche gewesen. Jetzt gibt es kein Sexualleben mehr. Ich denke, ich würde mich sogar schuldig fühlen, wenn ich Sex hätte, während mein Sohn mit dem Tod kämpft. Es ist absurd. Aber die gleiche Stimme, die mir geistiges Fremdgehen gegenüber meinem Mann vorwürft, macht mir auch in dieser Hinsicht Probleme.
Als ich Dr. Groß sagte, ich wüsste es nicht mehr, aber es wäre schon lange her, konnte ich diesen Blick in seinen Augen sehen. Er schien, aha hier liegt also die Wurzel des Problems, zu sagen. Auf den ersten Blick kann ich nachvollziehen, dass es für Außenstehende den Anschein hat, aber das ist es definitiv nicht. Das Nichtvorhandensein der Sexualität ist lediglich eine weitere Konsequenz aus dem Verhalten, dass wir uns, ich und mein Mann, Tag für Tag entgegenbringen. Ich wusste nur nicht, wie ich das dem Eheberater sagen sollte, ohne dabei Klaas Unfall zu erwähnen.
Das alles sind Sachen, die mir durch den Kopf gehen, während ich in meinem Bett liege und bei dem Schein meiner Nachttischlampe schreibe.
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Heute ist das geschehen, wovor ich mich am meisten gefürchtet, das ich aber auch gleichzeitig am ehesten erwartet habe. Er hat mich geschlagen! Mein Mann hat mich geschlagen! Es ist 23:00 Uhr an einem Donnerstag und ich liege in unserem Ehebett. Mein Mann liegt neben mir und schläft tief und fest. Nicht einmal das Klingeln des Telefons könnte ihn jetzt aufwecken. Ich sitze hier, schreibe in mein kleines Buch, das ich mir für 2,50 € in einem Geschäft für Schreibwaren gekauft habe, und habe ein blaues Auge.
Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben hat mich ein Mensch geschlagen. Jede Art von Gewalt ist schlimm, wenn sie gegen einen selbst angewendet wird, aber noch schlimmer ist es, wenn eine Person sie ausübt, der man vertraut, der man geschworen hat, sein Leben mit ihr zu teilen.
Meine Scham ist zu groß, um sie hier niederzuschreiben. Ich kann sie nicht in Worte fassen und ich bezweifle, dass es ein Schriftsteller schaffen würde. Dieses Gefühl ist einfach schrecklich.
Wie konnte er das bloß tun? Warum hat er das getan? Warum hat er mir weh getan, mir Schmerz zugefügt, obwohl ich doch auch seelisch leiden muss?
Der Alkohol, ja das wäre sicherlich eine schöne Erklärung, und einfach noch dazu. Er hat mich nur geschlagen, weil er besoffen war. Normal würde er das niemals machen.
Außerdem ist er ja sonst ein so lieber Mann. Und er hat sich ja gleich danach dafür entschuldigt.
Das sind die Einbildungen einer verschüchterten Hausfrau, die das seit zwanzig oder mehr Jahren mitmacht, aber nicht meine. So denkt eine Prostituierte, die mit 16 von ihrem Zuhälter von der Straße aufgegriffen wurde, und die, wenn zu wenig Geld in der Kasse ist, regelmäßig eine geknallt kriegt. Aber ich denke anders. Es mag eine Ausnahmesituation gewesen sein, das will ich nicht anzweifeln, aber gerade deswegen, gerade wegen dieser Ausnahmesituation, ist seine Tat für mich so schrecklich und unfassbar. Das Bild, das ich von meinem Mann habe, hat sich innerhalb von wenigen Sekunden grundlegend verändert. Das Vertrauen, das uns zuvor verbunden hatte (ein Gefühl, das mir kein anderer Mann vorher geben konnte) ist zerstört und darf als nichtwiederherstellbar gelten.
Verdammt ich kann die Frauen verstehen, die sich selbst betrügen. Es ist einfach und bequem, aber auf Dauer bringt es einen innerlich um und man wird abhängig, bis man innerlich verweest.
So will ich nicht enden. Ich nicht! Ich werde stark sein! Auch wenn ich mir kurz nach dem Vorfall heute Abend eingeredet habe, dass das nie geschehen ist, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Die Wahrheit tut weh. Auch muss ich gestehen, dass ich ihm verzeihen wollte. Nur einen Moment. Aber der Drang war stark. Ich dachte bis jetzt, dass er der einzige Mensch ist, der mich versteht. Es tut weh einsehen zu müssen, dass alles nur Lüge und Selbstbetrug war. Ja es ist schrecklich, ich fühle mich vergewaltigt. Man hat mir in letzter Zeit alles genommen, nun auch noch das. Ich weiß nicht ob ich damit fertig werde. Ich habe viel ausgehalten, aber in diesem Moment fühle ich mich, als wäre ich an der Grenze, dessen, was ich im Stande bin auszuhalten, angelangt.
Ich muss zugeben, dass mir der Gedanke an Selbstmord gar nicht mehr so falsch vorkommt. Selbstmord scheint immer mehr zur Lösung meines Problems zu werden.
Aber so darf ich nicht denken.
Wegen Christin und nicht zuletzt wegen Klaas. Beide brauchen meine Nähe und meine Liebe in dieser schrecklichen Zeit. Ich weiß nicht, ob ich im Stande bin zu leisten, was von mir verlangt wird.
Ich bin an einem Wendepunkt in meinem Leben angelangt. Ich stehe vor einer Weggabelung. Ich befinde mich in einem dunklen Wald und weiß nicht, ob ich den linken oder den rechten Weg wählen soll. So sehr mich meine Kinder auch brauchen, so geben sie mir doch die Kraft alles durchzustehen. Ohne sie läge ich längst in einer Leichenhalle, mit einer Kugel im Kopf, oder zerquetscht weil ich mit meinem Auto vor einen Baum gefahren bin.
Es hört sich grausam an. Aber es ist Realität. Das ist die Schattenseite des Lebens. Das Leben ist nicht fair. Und jeder läge gut daran, die verblümten Geschichten aus seiner Kindheit zu vergessen, und die Augen zu öffnen. Der Realität ins Auge zu sehen. Wenn mein Leben noch einen Sinn hat, dann der, dass ich meinen Kindern beistehen muss. Ich habe einmal in einer Zeitung gelesen, dass eine 80 jährige Frau nur einen Tag, nachdem ihr Mann an Kehlkopfkrebs gestorben ist, selbst aus dieser Welt gegangen war. Sie hatte ihren Mann gepflegt, bis er schließlich gestorben war. Als es dann soweit war, hatte ihr Leben keinen Sinn mehr gehabt, und sie konnte in Ruhe sterben.
Ich glaube, wenn Klaas sterben wird, würde mich das gleiche Schicksal ereilen.
Tod wegen gebrochenem Herzen. Es mag sich lächerlich, fast sogar wie eine Schauergeschichte anhören, aber ich zweifle längst nicht mehr daran, dass es so was gibt.
Es ist an der Zeit niederzuschreiben wie es zu dem Vorfall heute gekommen ist. Auch wenn es mir schwer fällt. Ich habe gesagt, dass das Schreiben für mich so etwas wie eine Therapie ist. Darauf hoffe ich auch jetzt.
Es war kurz nach 17:00 Uhr, als ich von der Apotheke zurück kam (ich hole mir seit Klaas Unfall wöchentlich eine Packung Schlaftabletten, ohne die geht es nicht mehr). Ich merkte gleich, dass etwas nicht stimmte. Es gab keine Anzeichen dafür, es war nur ein Gefühl. Etwas, dass ich in dieser Intensität noch nie verspürt habe.
Ich kam in die Küche, stellte meine Tasche auf den Tisch (ich schäme mich nicht vor meinem Mann wegen der Tabletten, wir haben uns nie darüber unterhalten) und da sah ich es: Eine halb leere Flasche Wodka Gorbatschow, und zwei leere Bierflaschen.
Mein Mann trink sonst höchstens eine Flasche Bier, wenn überhaupt. Und das auch meistens nur am Wochenende. Es ist also nicht verwunderlich, dass er stockbesoffen war. Diese Menge hätte wahrscheinlich einen starken Trinker von den Beinen geholt, und zu dieser Sorte gehört mein Mann gewiss nicht.
Obwohl ich einräumen muss, dass ich nachts, wenn er neben mir im Bett lag, öfters Alkohol gerochen habe, war ich überrascht.
Auch wenn man das Schlimmste erwartet, so ist man doch schockiert und überrascht wenn es eintrifft. Bis zu Letzt scheint ein Teil in uns (vielleicht der gleiche, der mir Schuldgefühle einredet) uns zu sagen, dass es nicht so schlimm wird, oder, dass uns das nie passieren kann. Man sieht so etwas nur in schlechten Krimis, oder in den Nachrichten, aber es gibt so etwas nicht wirklich. Jedenfalls nicht in der Stadt in der du wohnst oder in deinem Landkreis.
Es ist komisch, aber so etwas reden wir uns Tatsächlich ein.
Oder kann mir jemand sagen, dass er, wenn er einen Bericht über einen Autounfall mit mehreren Toten im Fernsehen sieht, weint oder sich wirklich grässlich fühlt? Klar sagen wir wie schlimm das ist, oder wir betonen, wie sehr uns die Menschen, denen das passiert ist, leid tun, aber das sind nur Worte. Das Fernsehen lässt die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Wir wissen es stimmt, aber gleichzeitig wissen wir, dass es nicht stimmt, weil es das einfach nicht geben darf. Es ist nicht, was nicht sein darf. Dieser Lüge geben wir uns nur allzu gerne hin. Aber ich wiederhole mich und schweife erneut ab. Vielleicht weil ich mich vor dem drücken will, was ich erzählen muss.
Also, ich kam nach Hause und sah die Wodka-Flasche und die leeren Bierflaschen. Mein Mann kam in die Küche, er hatte gehört wie ich die Haustüre aufgeschlossen habe. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich war auf einmal unglaublich wütend auf ihn. Man kann sogar von Hass sprechen, auch wenn ich dieses Wort nur selten und ziemlich ungern in den Mund nehme. Aber in diesem Moment traf es zu.
Ich sah in seine blutunterlaufenen Augen und schmiss eine der Bierflaschen vor ihm auf den Boden. Sie zerbrach mit einem lauten Knall. „Warum tust du das? Warum tust du Klaas das an?“ Habe ich ihm ins Gesicht geschrieen. Es war nicht fair von mir, und ich bereute es schon, während ich es sagte. Es war nicht fair, weil der Alkohol für ihn einen Ausweg aus dem Dilemma und den seelischen Qualen darstellte. Sein Ventil alles rauszulassen. Ich schreibe, er trinkt.
Er sah mich entgeistert an. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
Ich wollte mich gerade bei ihm entschuldigen, hatte schon den Mund aufgemacht, um etwas wie, "Schatz das wollte ich nicht", zu sagen, da holte er mit der linken Hand aus und schlug mir mit geballter Faust (ich weine während ich das schreibe) ins Gesicht. In diesem Moment brach eine Welt für mich zusammen. Eine Welt, die sich schon stark verdunkelt hatte, aber der Schlag nahm ihr den letzten Sonnenschein. Der physische Schmerz war sekundär, der seelische war brutal.
Ich stand da, rieb mir über die Wange, auf die er mich geschlagen hatte, und brachte kein Wort raus. Das war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich sprachlos war. Das erste Mal war, dass ich von einem Arzt mitgeteilt bekam, das Klaas im Koma liegt und das es ungewiss wäre, ob er noch einmal erwachen würde.
Ich glaube jede Frau, die schon mal von ihrem Mann geschlagen worden ist, kann das nachvollziehen. In diesem Moment konnte ich nicht denken. Mein Kopf war leer. Völlig leer.
Mein erster klarer Gedanke war, dass ich diesen Mistkerl umbringen musste. Ich musste ihn töten, für das, was er mir angetan hat. Für den Schmerz, und damit es nie wieder geschehen konnte. Ich will das nicht noch einmal erleben. Mein Mann sank auf die Knie. Er kniete in den Scherben der Bierflasche und schlug die Hände vors Gesicht.
„Es tut mir leid, es tut mir so leid...“, stammelte er immer wieder vor sich hin. Er sagte es so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Vielleicht war der Schock aber auch einfach nur zu groß.
Was danach geschah, kann ich nur noch bruchstückhaft wiedergeben. Mein Verstand war komplett ausgeschaltet. Also tat ich das, was für mich in diesem Moment am Wichtigsten schien. Ich holte Schaufel und Besen und machte die Scherben weg.
Ich schäme mich dafür, wenn ich jetzt darüber nachdenke, aber es war das einzige was mir plausibel erschien. In diesem Moment zumindest.
Mein Mann redetet immer wieder auf mich ein. Er versuchte mir klar zu machen, dass er das nicht gewollt hat. Das er mich nicht schlagen wollte, dass alles mehr oder weniger ein Versehen gewesen war. Ich hörte ihn nicht. Ich wollte ihn nicht hören!
Seit der Szene in der Küche haben wir nicht mehr miteinander geredet. Das wird auch so bleiben. Ich glaube es ist an der Zeit, dass wir uns von einander trennen. Vielleicht haben wir zu lange gewartet!
By: Timo Mengel