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Das Leben geht weiter
Langsam ging er die Stufen hinauf. Lars fand es sehr anstrengend und es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Sein Kopf hämmerte und er musste schon nach wenigen Schritten stehen bleiben. Ihm wurde schwindelig. Um nicht zu fallen, klammerte er sich mit der rechten Hand an dem schwarz lackierten Treppengeländer fest, das an einigen Stellen schon so abgegriffen war, dass das blanke Metall zum Vorschein gekommen war. Dann richtete er sich wieder auf.
Es war viel passiert in den letzten Wochen, zu viel. „Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?“, fragte eine ältere Frau in einem grauen Hosenanzug, die die Treppen nach unten lief. „Danke, schon gut, vielen Dank“, antwortete Lars leise. Doch obwohl er sich bemüht hatte, seiner Stimme einen frischen und heiteren Tonfall zu geben, klang das Ergebnis doch eher so, wie er sich tatsächlich fühlte. Die ältere Frau schaute ihn besorgt an und hakte nach. „Wirklich nicht?“ „Nein, es ist wirklich alles gut!", erwiderte Lars. Daraufhin ging die Frau langsam weiter, drehte sich noch einmal kurz um und verließ das Treppenhaus durch den Ausgang zur Halle. Lars schleppte sich nun langsam weiter. Er keuchte ein wenig und das Atmen bereitete ihm Schwierigkeiten. Er schaute auf und sah vor sich die große rote 1 an der Wand. Noch ein Stockwerk weiter. Lars schüttelte den Kopf. Warum hatte er nicht den Aufzug genommen. Kalter Schweiß trat ihm ins Gesicht und er zwang sich, tiefer Luft zu holen. Noch ein Schritt und wieder ein Schritt. Nur nicht stolpern, dachte er. Ich laufe wie ein alter Mann, fuhr es ihm durch den Kopf. Doch dann war er tatsächlich im 2. Stock angekommen.
Er verließ das Treppenhaus durch eine schwere Glastür und betrat den Flur, der irgendwie nach scharfem Putzmittel roch. Hier kannte er sich aus. Jedes Bild und jede Einzelheit. Er klopfte, betrat den Raum und bemühte sich, einen gut gelaunten Eindruck zu machen, aber Lina konnte er nichts vormachen. „Hallo Lars, mein Schatz“, begrüßte sie ihn freundlich und ihre Stimme hatte einen leicht fröhlichen Unterton. „Du siehst schlecht aus, Lars“, sprach sie weiter, „setz dich doch erst einmal.“ Nur zu gerne ließ sich Lars auf den Stuhl sinken, dessen Sitzfläche mit grünem Kunstleder bezogen war. „Was ist los, kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte sie nun sichtlich besorgter. „Ach“, begann er zu sprechen, zögerte kurz und fuhr leise fort, „es ist doch alles nur eine einzige große Scheiße! Ich schaffe das nicht mehr!“ Lina setzte sich kurz auf, ergriff die linke Hand ihres Freundes und drückte sie sanft. „Du schaffst das, Lars, ich weiß das. Es ist klar, dass es dir schlecht geht, aber du kommst da drüber weg. Du wirst Zeit dafür brauchen, aber die hast du.“ Lars senkte langsam den Kopf und begann, leise zu schluchzen. „Niemals werde ich das schaffen. Das ist zu schwierig für mich. Das haut mich um und ich krieg ja jetzt mein Leben schon nicht mehr in den Griff.“ Das geht gar nicht, dachte er, und jetzt fing er auch noch an zu heulen. Die ganze Situation war ihm nur noch peinlich. „Was hältst du davon, wenn du erst einmal einen Kaffee trinkst?“, fragte sie, „oder du erzählst mir einfach, was du heute schon so gemacht hast.“ Was sollte er schon gemacht haben. Er hatte sich krank gemeldet, war nicht zu seinem Betrieb gefahren und hatte stattdessen wie betäubt im Bett gelegen. In vier Wochen war seine Ausbildung zum Feinwerkmechaniker zu Ende und die Abschlussprüfung stand an. Aber das war jetzt alles nicht mehr wichtig für ihn. „Kopf hoch, Lars, dein Leben geht weiter“, meinte Lina nun und schaute ihn mit festem Blick an.
Das war jetzt zu viel für ihn. Aus seinem Schluchzen wurde ein ungebremstes, fast jaulendes Weinen, das ihn in krampfartigen Wellen durchfuhr. Lars presste sein Gesicht an den Oberkörper seiner Freundin, die ihn nun mit beiden Armen umschlang und sanft auf dem Rücken streichelte. Er krallte sich an ihrem weißen Oberteil fest und umklammerte sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. Auf einmal aber riss er sich los von ihr und sprang ruckartig auf. Der Stuhl flog krachend um. Mit rotem Gesicht und vom Weinen verquollenen Augen schaute er sie an und seine Mundwinkel waren weit nach unten gezogen. Was Lina sah, war ein Bild des tiefen Leidens. „Es tut mir leid, Lina, ich liebe dich!“, entfuhr es ihm, dann drehte er sich schlagartig um, lief wie panisch aus dem Zimmer und gelangte auf den Flur zurück, von dem er vor wenigen Minuten erst gekommen war. Er rannte -ohne auf andere Menschen zu achten- wie betäubt über den Flur zurück, riss die Tür zum Treppenhaus auf und drückte sich, nun hemmungslos weinend, in die Ecke, die der Tür am nächsten lag.
Eine junge Frau, ganz in Weiß gekleidet, war ihm gefolgt und legte eine Hand auf seinen Rücken. „Was ist mit Ihnen?“, fragte sie etwas verunsichert. Da brach es aus Lars heraus und er schrie, dass es durch das ganze Treppenhaus hallte und die Krankenpflegerin erschrocken von ihm zurückwich: „Meine Freundin, Lina, sie hat Krebs und… in zwei Wochen ist sie tot!“