Das Leben, du große Liebe
Das Leben, du große Liebe
Nichts deutete an diesem Sommermorgen darauf hin, dass es ein besonderer Tag werden sollte. Die meisten Bewohner der Stadt schliefen wohl noch. Einige Fenster der Häuser im Kolonialstil waren geöffnet, in der Hoffnung ein wenig morgendliche Kühle in die Wohnungen zu locken.
Tatsächlich wehte ein leichter Wind und über den Asphalt rutschten träge die Zeitungen des Vorabends. Das ganze Land hatte in den Nationalfeiertag hinein getanzt und in großen Buchstaben berichteten die Blätter von den Errungenschaften der Revolution, die nun bald ein halbes Jahrhundert zurücklag.
Durch eine der engsten Gassen der Altstad gingen zwei Männer, denen anzumerken war, dass sie es nicht eilig hatten. Dennoch gingen sie zielstrebig, sie waren keine Übriggebliebenen der Nacht. Der jüngere der beiden Männer ging mit schlurfenden Schritten voran und fuhr sich ständig mit der rechten Hand durch die dunklen Haare. Gleichzeitig warf er dem anderen Blicke zu, ganz so, als fühle er sich verantwortlich für diesen. Der ältere der beiden trug eine Polizeiuniform mit weißem Pistolenhalfter, jedoch keine Waffe. Es schien ganz so, als stolpere er dem jüngeren Mann hinterher.
An einer Häuserecke blieben sie stehen und der jüngere, Miguel, steckte sich eine Zigarette an. Sein Begleiter, Ramon, zog sein Telefon aus der Hosentasche um es auszuschalten. Er steckte es zurück und betastete rasch die Brusttasche an seinem Uniformhemd. Es war alles an seinem Platz.
Miguel schnippte die halbgerauchte Zigarette im hohen Bogen auf die Straße und sie setzten sich wieder in Bewegung.
Hinter der nächsten Häuserecke schoben sie sich durch eine halb offene Tür in einen Hinterhof und betraten das Treppenhaus. Der heruntergefallene Putz machte jeden ihrer Schritte zu einem knirschenden Geräusch als sie in den zweiten Stock hinaufgingen.
Ramon bemühte sich, im Gleichschritt mit Miguel zu gehen. So wurden ihre Schritte fast zu einem gemeinsamen und es war nur gut wenn es nach einer einzelnen Person klang. Auch empfand er dadurch das Treppensteigen als weniger beschwerlich. Seine eigenen Schritte wurden leichter je synchroner sie mit Miguels wurden.
Im 2. Stock angekommen öffnete Miguel eine unverschlossene Wohnungstür, gleichzeitig rief er laut ”Guten Morgen, Antonio!”.
Im Korridor schob sich Ramon in eine Nische zwischen Küchentür und Garderobe. Da er kleingewachsen war brauchte er sich unter der Hutablage nicht zu bücken. Später, wenn es wie erwartet länger dauern würde, konnte er sich an die Wand anlehnen oder vielleicht sogar auf das Schuhschränkchen setzen. Aber nun, als er seinen Platz eingenommen hatte, spürte er, dass sich die Muskeln zwischen seinen Schulterblättern bereits verkrampften, und das konnte nicht daran liegen dass er vielleicht zu lange gestanden hätte.
”Wie schön dass Du kommst” rief Antonio, der in der Küche an einem kleinen Tisch vor einem offenen französischen Balkon saß und rauchte.
”Aber ich komme doch immer am ersten Samstag im Monat, seit vielen Jahren!”
Er betrachtete den alten Mann. Sein weisses Haar war im Nacken zu einem dünnen Zopf zusammengebunden. Auch seine Bartstoppeln waren weiß und seine Augen waren mit den Jahren milchig geworden, verloren immer mehr an Kraft. Deshalb kam es oft vor, dass Miguel ihm bei seinen Besuchen aus der Zeitung vorlas.
”Du bist wirklich ein treuer Freund. Wenn man wie ich nicht mehr aus dem Haus kommt ist es schwer Freundschaften zu pflegen. Du kommst sogar am Nationalfeiertag!”
Miguel atmete tief, er durfte sich keine Sentimentaliteten erlauben. Er begann, ein einfaches Frühstück aufzutischen.
”Übertreibe nicht, Antonio, du bist doch kein Einsiedler. Ich habe gehört, dass du noch Kontakt zu einigen Schülern hast, so wie mit mir. Suchen sie Deinen Rat?”
”Nein, dass glaube ich nicht. Ich stehe ja nicht mehr richtig im Leben. Ich glaube, sie sehen mich als ein Relikt aus den Tagen der Revolution an und wollen mich treffen solange noch die Chance dazu besteht.”
Im Korridor verstand Ramon, dass er nun seine Arbeit beginnen konnte. Er zog Notizblock und Stift aus seiner Brusttasche und schrieb ”Diskussionszirkel mit ehemaligen Schülern”. Dann hörte er, wie Miguel in der Küche Kaffee einschenkte.
”Erzähl, was gibt es Neues in der Welt?”
Wie üblich liess sich Miguel etwas Zeit, um seinem alten Professor zu antworten. Er wollte dem intellektuellen Anspruch des betagten Philosophen gerecht werden. Deshalb war es ihm unmöglich, nicht jedes seiner Worte genau abzuwägen. In ihm nagte ein Gefühl der Unterlegenheit. Das lag daran, dass die Männer der ersten Stunde der Revolution als eine Art Avantgarde galten. Eine spezielle Aura umgab sie. Sie hatten für die Befreiung des Volkes ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Er selbst war hingegen in das System hineingeboren, was ihn zu einem Nicht-Kreativen, einem Wiederkäuer machte. Manchmal, vor allem wenn er betrunken war, empfand er eine große Wut auf die Alten und es war schwer für ihn zu tolerieren, dass diese die Welt immer noch mit ihren tradierten Werten interpretieren wollten.
”Es wird immer schwerer, die Welt zu erklären. Sie steht Kopf. Manchmal scheint es, dass alle Philosophien, alle Religionen, alle politischen und wirtschaftlichen Systeme einen totalitären Anspruch haben. Es macht einem Angst.”
Antonio lächelte mild: ”Und doch landen wir immer wieder bei der gleichen Frage: Wer profitiert eigentlich von all den Konflikten, Anschlägen, Kriegen? Und worin liegt der Profit?”
Er trank einen Schluck Kaffee und biss in sein Brot. ”Glaubst Du wirklich, es sind die Weltanschauungen die miteinander kämpfen? Das tust Du nicht, denn dann wärst Du naiv!”
Miguel zuckte innerlich zusammen. Wieder diese Arroganz des Allwissenden! Wieder diese Erniedrigung, die so verletzend war weil er sie zuließ. Er war selbst anerkannter Mann der Wissenschaft und liess sich hier belehren. Gleichzeitig ärgerte es ihn, dass er nicht in eine richtige Diskussion mit dem Alten kam.
”Die Angst, Miguel, die Du erwähnst, sie ist die weltumspannende Philosophie geworden. Manchmal vermute ich, dass in einer zusammenrückenden Welt die Furcht zunimmt, das zu verlieren, was man besitzt. Seit den Weltkriegen hat sich ja nicht nur Kapital angesammelt. In vielen Ländern hat sich seit langem eine Staatsform etabliert, eine Gesellschaftsstruktur und Kultur. Man hat heute viel mehr zu verlieren als nach dem 2. Weltkrieg, wo viele Länder in Schutt und Asche lagen. Wenn man aber nur das Erreichte verteidigt statt sich zu öffnen, steigt die Angst vor Veränderungen. Wir reagieren mit Aggressivität.”
Im Korridor unter der Hutablage hatte Ramon sich nun auf das Schuhschränkchen gesetzt. Historischen Ausführungen konnte er nicht folgen, das war niemals sein Interesse gewesen. Trotzdem fand er, dass Antonios letzte Aussagen fast wie Selbstkritik geklungen hatten und deshalb schrieb er sie auf.
Miguel bemerkte, dass er beim Zuhören zwischenzeitlich den Faden verloren hatte. Eine unerklärliche Müdigkeit überkam ihn. Gleichzeitig ein Gefühl der Ohnmacht, denn eigentlich sollte doch er das Gespräch in seine Bahnen lenken.
”Was können wir dieser Entwicklung entgegensetzen? Niemand will doch Krieg nur um wieder in der Stunde Null anfangen zu können!” warf er ein.
”Nun, natürlich die Freiheit.”
”Die Freiheit? Welche Art von Freiheit meinst Du?”
Der alte Mann hielt inne und langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
”Ich will dir erzählen wie es war als die Freiheit in unser Land kam. Wir verließen die Berge und zogen in die Hauptstadt ein, begleitet von grenzenlosem Jubel. Kein Mensch war in seiner Wohnung, alle waren auf der Straße. Dieses Gefühl der erkämpften Freiheit war überwältigend. Es durchflutete den ganzen Körper! Alle Frauen waren bildschön, ich schwöre es. Hüften, die vielleicht ein wenig zu rund waren sah ich als perfekte Weiblichkeit, ältere Frauen in ihrer Würde unübertroffen. Die Frauen meines Alters lockend und verführerisch. Bei jeder Umarmung, und es waren viele in diesem Glückstaumel, sog ich den Duft ihrer Haare ein. Es gab keinen Gestank in den Strassen, keinen Anblick der das Auge beleidigte, alles um uns herum war schön und wie ein großes Versprechen.”
”Das klingt fast nach einem Rausch, aber nicht nach konstruktivem Aufbruch” quengelte Miguel. ”Wie kann der Sozialismus auf dem Fundament eines Rausches aufgebaut werden?”
Antonio drehte Miguel ruckartig den Kopf zu, fast als wäre er entsetzt:
”Wie kann ich ohne Leidenschaft das alte hinwegfegen und nur mit Rationalität etwas neues schaffen?”
”Wie hätten wir den jahrelangen Kampf und die Entbehrungen überstanden wenn wir nicht dieses Feuer in uns gehabt hätten?
Keiner von uns hätte überlebt nur mit einem Buch unter dem Arm. Wir dachten doch nicht an die nächste Staatsform als wir uns in den Armen lagen. Unsere Würde haben wir uns zurückgeholt!”
Miguel war, als hätte Antonio einen Fetzen Stoff von einer eingetrockneten Wunde gerissen. Es war nicht nur diese nagende Eifersucht, nicht dabei gewesen zu sein. Er spürte vielmehr, dass seine Karriere in der Partei und als Wissenschaftler niemals von der Liebe zu einer Weltanschauung getrieben war. Seine Intelligenz und Sprachgewandtheit hatte er nur für sich selbst genutzt. Nicht einmal die Liebe zu seiner Lebenspartnerin war selbstlos.
Dieses Eingeständnis hatte er nie zugelassen, doch nun hatte sich die Unterhaltung mit seinem Gegenüber, den er ”kategorisieren” sollte, zu einem Kräftemessen entwickelt, in welchem der Alte Hiebe austeilte ohne es zu wissen.
”Ich verstehe nicht, was der Freiheitsbegriff im jetzigen Weltkontext leisten kann.”
Im Korridor rollte Ramon mit den Augen. Wie er dieses wissenschaftstheoretische Gelaber satt hatte. Ständig wurde man damit konfrontiert, nirgendwo in der Gesellschaft sollte es einen politikfreien Raum geben. Die Inspiration für diese Phraseologie lieferten Miguel und seine Studenten. Dabei änderten sie gar nichts. Das Volk lebte sein Leben, auch ohne Politik. In den Nationalfeiertag wurde hinein getanzt, es wurde laute Musik in den Bars gespielt. Später am Abend wurden die Körper verschwitzter, das Lächeln für den Unbekannten direkter, und manche Paare verschwanden für ein paar Minuten im dunklen Hinterhof.
Er selbst liebte es, mit Freunden an der Bar zu stehen und zu plaudern, laut zu lachen. Fast zwangsläufig hatte er seine Frau beim Tanz kennengelernt. Sie war, wie viele Frauen in diesem Altstadtviertel, eine attraktive Person durch ihre offen zur Schau gestellte Lebenslust. Es war unmöglich, sie isoliert von ihrem impulsiven Temperament zu betrachten. Sogar auf Fotos sah es aus als wolle sie jeden Moment laut loslachen oder tanzen. Es war die Familie, die Ramon immer wieder wärmte, ihn nie am Sinn seines Lebens zweifeln ließ.
Die Stille in der Küche riss Ramon aus seinen Gedanken. War das Gespräch etwa beendet und Miguel im Begriff aufzubrechen?
Er spürte nun die einsetzende Hitze des Vormittags in der schlecht gelüfteten Wohnung und erste Schweißperlen rannen seinen Rücken herab.
In der Küche wurde das Gespräch wieder aufgenommen.
”Warum willst Du die ganze Welt erklären, Miguel?”
”Das kannst Du nicht verstehen, Antonio. Wie Du selbst sagst, ist die Welt kleiner geworden, die Jungen sehen täglich, was in anderen Ländern möglich ist. Was können wir ihnen entgegnen?”
Ramon legte den Block auf den Schoß und schrieb.
”Dass der Mensch seinen Wert nicht wie ein Preisschild vor sich hertragen kann. Meine Frau lernte ich kennen, nachdem ich ihren Aufsatz über den romantischen Freiheitsbegriff gelesen hatte. Sie verglich den Freiheitswillen der tschechoslowakischen Sozialisten mit Strandhafer. Egal wie oft er zugeschüttet wird, kommt er immer wieder ans Tageslicht. Er gibt der Sanddüne Stabilitet und schützt dadurch das Hinterland. Für mich war es sehr bedeutsam, diese Autorin kennenzulernen.”
”Das ist lange her! Klingt er poetisch als politisch.”
”Natürlich. Aber keine Ideologie kann die Herzen der Menschen gewinnen wenn nicht der Einzelne von der Überzeugung der Freiheit durchdrungen ist.”
”Und, findest Du unser Land vorbildlich in dieser Beziehung?”
”Was willst Du hören?” stöhnte der Alte und Miguel war sich nicht sicher, ob Antonio nicht einen Blick Richtung Küchentür geworfen hatte.
”Wir haben den Fehler gemacht, dem Volk nicht zu vertrauen. Stattdessen haben wir versucht, alles mit unserer Ideologie zu durchdringen, und der größte Verrat an unserer Revolution ist die Überwachung der Menschen. Diese Maßnahmen verhindern, dass die Menschen ihr Land mit Liebe und Bewunderung betrachten.”
Miguel schwieg.
Ramon wünschte sich sehnlich das Ende des Gespräches herbei. Mit einem Anflug von Scham schaute er auf den inzwischen gut gefüllten Block herab. Es war nur gut, dass andere sich mit der Auslegung seiner Notizen befassen mussten.
Als die beiden Männer aus dem Haus kamen, war die Luft schwül geworden. Es würde sicherlich zum Nachmittag ein Gewitter aufziehen.
Sie wechselten die Straßenseite, um ihren Weg im Schatten fortzusetzen. Ramon wollte schnell nach Hause, daher lief er mit großen Schritten voran. Sie verließen wortlos Antonios Viertel und gingen grußlos auseinander.
Eine Woche später erfuhr Ramon von Miguels Verhaftung.