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Das Leben der Sarah X

Beitritt
30.09.2002
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Das Leben der Sarah X

Sarah X wird am 19.7.1983 im städtischen Krankenhaus weiß der Teufel wo geboren. Bei der Geburt ist Vater Bernhard nicht anwesend, weil er mit den Fingern im Kaffeeautomaten des Krankenhauses im Keller steckenbleibt und sich die Hand verbrüht. Erst dreieinhalb Stunden später kann er mit verbundener Hand das Ergebnis zahlreicher nächtlicher Bemühungen bewundern: 3000 Gramm schwer, 53 cm groß und schreit unaufhörlich, bis eine beherzte Hebamme ihr eine Zigarette in den Mund steckt, die sie unten im Schwesternzimmer am Zigarettenautomaten gezogen hat. Alle Menschen freuen sich über die problemlose Geburt, außer Opa und Oma. Die wissen nämlich nichts von ihrem Glück und verbringen vergnügte Wochen im Seniorenerholungheim in Sibirien. Ein nettes Geschenk von ihrem Sohn Bernhard. Auf Nimmerwiedersehen hat er bei ihrer Abführung gesagt. Sarah X kommt schon bald nach Hause und wackelt immer mit den Beinen, wenn Mama X WDR 4 im Radio hört. Wahrscheinlich möchte sie wegrennen. Mit elf Monaten macht sie ihre ersten Schritte und stellt Papa X ein Beinchen als er die teure Porzellansammlung aus dem Hause seiner vermutlich erfrorenen Eltern ins Wohnzimmer trägt. Sarah X weint, als Papa X sie schlägt. Bald hat Papa X alle Wertgegenstände aus dem Hause seiner Eltern entwendet und ist nun ein reicher Mann, seine Eltern, Sarah Xs Großeltern sind Tiefkühlkost. Eine Berufslücke. Mit dreizehn Monaten spricht Sarah X ihre ersten Worte: „Papa, Arschloch.“ Mit zwei Jahren nimmt Sarah X das erste Mal bewußt eine Droge. Sie hält eine Salzstange in eine Kerze und bewegt sich in anderen Sphären. Als Sarah drei Jahre alt ist, wird ihr Vater wegen zweifachen Mordes an seinen Eltern verhaftet und zu zwanzig Jahren Bettsitzen hinter Gittern verurteilt. Mutter X heult immer, Sarah X lacht, denn wenn Mama X heult, hört sie kein WDR 4. Mit fünf Jahren geht Sarah X zum ersten Mal auf eine richtige Kinderparty. Dort lernt sie Paul kennen, dem sie völlig hingerissen einen Schmatzer aufdrückt und ihn heiraten will. Paul aber rennt entsetzt auf die Toilette. Ein Jahr später kommt Sarah X in die Schule. Jungen, die zwei Klassen über ihr sind, pfeifen ihr hinterher. Sie ist die einzige, die schon Mama Xs Lippenstift benutzen darf. Zu hause ist Sarah X nur noch Abends, Nachmittags trifft sie sich mit Dietmar aus der dritten Klasse. Mit dem guckt sie immer Kinderstunde oder steckt mit ihm seinen Hamster in die Friteuse, weil das echt Spaß macht. Mit acht Jahren meckert Sarah X zum ersten Mal ihre Lehrerin an, weil sie ihr eine Fünf gegeben hat. Sarah X bringt am nächsten Tag das große Küchenmesser mit, das normalerweise nicht für die Lehrerin gedacht ist. Um zwei Zentimeter verfehlt sie die Lehrerin mit ihrem Wurf. Der Vorfall wird unter der Sparte „Sonstiges“ abgehakt. Mit neun hat Sarah X ihren ersten richtigen Freund: Fred, zwei Jahre älter und Besitzer eines eigenen Fernsehers. Oft schauen sie fiese Filme an, die recht anschaulich zeigen, auf wie viele Arten man denn so zugrunde gehen kann. Sie rennt weg, als er ihr ein Schmuddelheft von seinem großen Bruder zeigt. Mit zehn Jahren trennt sie sich von Fred, als er ihr seine Zunge in den Hals steckt. Das mag Sarah X nämlich gar nicht. Bei Siegfried ist das anders. Er ist zwölf und kann küssen wie die Männer aus den Filmen, die Mum X immer guckt und dabei weint. Sarah X kommt nun immer später nach Hause, oft sitzt sie noch lange bei ihrem Freund, der ihr immer Nudeln mit Soße aus der Dose kocht. Er ist ein richtiger Gentleman. Sarah X raucht mit elf ihre erste Zigarette, mit zwölf klaut sie ihre erste Dose Bier und trinkt sie mit Manfred, vierzehn Jahre alt. Mum X weint immer häufiger, Sarah lacht, wegen WDR 4? Bald will Manfred mehr als Küssen, Sarah X hat sich mit „Super“ aufgeklärt. Die sagen auch, daß der Rock kurz sein muß und das Lächeln aufgesetzt. Mit Vierzehn passiert es. „Super“ hat nicht gesagt, daß es weh tut. Bei Franz und Hans ist es schon besser, Ralf ist spitze. „Super“ ist jetzt out, „Young Lady“ ist angesagt. Papa X wird vorzeitig entlassen, Sarah X scheißt drauf. Bald streiten sich Mum X und Papa X. Sarah reißt aus und zieht zu Andreas, ihr zwölfter Freund. Er ist achtzehn, sie ist fünfzehn. Kokain durchzieht mit fünfzehn zum ersten Mal ihre Nase. „Ich bin frei.“ Ein Wrack ist sie nur ein Jahr später. Niemand ist da, keine Mum X, kein Papa X nur Sarah X. GAME OVER

 

Servus Sebastian!

Ja, seltsam ist sie schon deine Geschichte. Sie hat mich betroffen gemacht, gerade wegen dieser oberflächlich hingestreuten Art. Der Text wirkt auf mich wie eine ernst gemeinte Geschichte, verpackt in ein Desinteresse erzeugen wollendes Witzkisterl. Die Personen erhalten zwar so eine Art Identität, bleiben aber dennoch ohne Emotionen, ohne Persönlichkeit. Bis hin zum Schluß zieht sich diese Machart durch - game over -Münze einwerfen und die nächste Lebensgeschichte kann abgespult werden. Zynisch - aber sehr gut geschrieben.

Lieben Gruß - schnee.eule

 

Hallo Sebastian!

Ich bin völlig hingerissen von dieser Geschichte. Diese durchwegs "flapsige" Erzählweise von eigentlich ziemlich schlimmen Entwicklungen - irgendwie trifft das meinen Geschmack. Aus meiner Sicht kommt der Inhalt dadurch umso besser rüber.

Ist es möglich, dass du vor kurzem Trainspotting gesehen hast? Irgendwie erinnert mich der Stil an den Kommentar, der im Film ständig mitläuft.

Kann es nicht anders sagen - bin begeistert.

klara

 

Hallo Sebastian,

normalerweise hätte ich jetzt erst einmal über Struktur und Absätz reden müssen, aber gerade so wie es ist, passt es zu dieser "lust-/emotionslos" runtergespulten Geschichte. Wobei ich nicht zum Ausdruck bringen möchte, dass sie lustlos geschrieben wurde, sondern im Gegenteil glaube ich, dass dieser Stil beabsichtigt ist. Schließe mich schnee.eule und klara an: gefällt mir gut. Gerade diese zynische Litanei beeindruckt.

Gruß vom querkopp

 

Huch, so viel Lob auf einmal.
So, nun möchte ich auch kurz etwas zu meiner Geschichte sagen:

Ja, die Handlung ist absichtlich so lapidar erzählt.Und als ich die Geschichte zu schreiben begann, sollte sie eigentlich komisch werden, aber plötzlich wurde sie immer ernster. Am Ende war ich - kein Witz - von meiner eigenen Geschichte betroffen.

Nein, als ich diese Kurzgeschichte verfasst habe, kannte ich weder Trainspotting noch Irvine Welsh.

Liebe Grüße
Sebastian

 

Hallo Sebastian,

ich finde die Geschichte wirklich sehr gut. Der Zynismus lebt von der abgehakten, trockenen Sprache, die Reprisen (z.B. WDR4) würzen die Storyline und leiten durch die rapide Lebensgeschichte der Sarah X.

Ganz subjektiv fiel mir auf, daß Dir die Geschichte am Ende ein wenig entgleitet. So paßt beispielsweise der Satz "Kokain durchzieht mit fünfzehn zum ersten Mal ihre Nase." von Satzbau und Stil (Personifizierung des Objekts) überhaupt nicht in das bisherige Gefüge. Auch das "Sarah X scheißt drauf" als Reaktion auf die vorzeitige Entlassung von Vater X bricht mit den vorherigen staubtrockenen "Kommentaren" - zuvor sprach nämlich immer die Handlung für die Einstellung der jeweiligen Person. So wäre bspw. ein "Papa X wird vorzeitig entlassen, Sarah X bemerkt seine Rückkehr erst drei Tage später, als sie ihn im Badezimmer beim Kotzen trifft." möglicherweise besser.

Warum kriegt der Vater eigentlich einen Namen, um dann doch als Papa X zu enden. Und warum wird er nicht - wie die Mutter zur Mum - zum Dad?

Trotz dieser Fragen und Anmerkungen zu Ende, die die Analyse aufwirft ist die Geschichte wirklich ganz gut. Das Durcharbeiten der Elemente könnte sie also quasi nur noch zu einer unglaublich guten Geschichte machen. ;-)

Internette Grüße

loona

 

Hallo Loona,

gerne beantworte ich deine Fragen.

"Scheiß drauf" passt wie du bemerkt nicht in diesen trockenen Stil, genau das war meine Absicht. So wird die Ablehnung Saras, die sie für ihren Vater empfindet, noch deutlicher.

Papa X endet als Papa X und die Mutter als Mum, weil sie ihren Vater jahrelang nicht gesehen hat und er in ihrer Vorstellung deshalb immer noch der bleibt, der er vor seiner Gefängnisstrafe war. Die Mutter hingegen wird mit Sara groß und deshalb irgendwann von Mama zu Mum.

Grüße
Sebastian

 

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