- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 1
Das Leben aus einem Blickwinkel - Episode 8-9
Ein bisschen über Gott und die Welt
Es war etwa `70 als im Haus gegenüber ein sehr merkwürdiger Mann lebte. Er lebte dort alleine und das Zimmer in das ich blicken konnte, war sehr gottesfürchtig eingerichtet. Er hatte dort an der Wand eine Art Altar aufgebaut. Es standen dort kleine Kerzen, Fotos und natürlich ein grosses Kreuz über allem. Der Mann selbst war eine sehr mickrige Gestalt. Er war dünn und klein. Er trug schlichte und unauffällige Kleidung und sein Gang wirkte irgendwie ängstlich. Oft wenn ich ihn zu Hause sah, kniete er vor diesem Altar –manchmal über Stunden hinweg. Welche Gründe hatte er wohl um das zu tun, ich fragte mich, was seine Geschichte ist. War er in Trauer? Diese Fotos, welche er dort aufgestellt hatte, waren das Fotos von Menschen, die er auf irgend eine Art verloren hatte? Oder betete er einfach nur? War er so von seinem Glauben besessen? Vielleicht bat er aber auch um Verzeihung für etwas? Und warum jeden Tag? War es eine solch schlimme Tat oder glaubte er, dass Gott ihn sonst nicht hören würde? Möglicherweise aber suchte er auch Vergebung für etwas , das er Tag für Tag von neuem tat und nicht davon los kam. Etwas, das er für eine Sünde hielt und was ihm doch zu wichtig war um es zu aufzugeben.
Ich weiss, dass ich damals ungemein viel Zeit an diesem Gedanken herumspielte und versuchte herauszufinden, was seine Geschichte sein könnte. Und trotzdem weiss ich heute nur, dass er wohl ein sehr gottesfürchtiger Mann war.
In meinem Leben spielte Gott und die Religion eine weitgehend andere Rolle. Meine Eltern waren sehr gläubig und liessen lange Zeit jeden Monat den Pfarrer zu mir kommen. Mir sind diese Besuche jedoch in keiner schönen Erinnerung. Er redete über Gott und sprach Gebete, sang manchmal sogar oder las aus der Bibel vor. Mir ist bis heute nicht bewusst warum? Meine Eltern glaubten, ich könne nicht mal der simpelsten Unterhaltung folgen, luden jedoch einen Pfarrer ein, der mir Bibelzitate um den Kopf schlug. Das war in der Zeit, als ich etwa zwischen sechs und zehn Jahre war. Und ich hasste es. Dieser Priester machte mir Angst. Er sah mich bei seinen Besuchen kaum an, sondern verbarg seine Augen hinter einer Bibel oder hielt seinen Blick zur Decke hoch. Einen normalen Satz hörte ich ihn nie zu mir sprechen. Er kam in die Wohnung, redete kurz zu meinen Eltern, trat dann zu mir und las seine vorbereiteten Texte ab und ging danach wieder. Natürlich spielte sich das ganze nicht ohne einen dicken Schuss Theatralik ab.
Eine andere Geschichte passierte auch irgendwann in diesem Zeitraum. Meine Mutter hörte Sonntags im Radio Bibelstunden und ähnlich religiöse Sachen, wie auch die Bibelgeschichten. Darin ging es grösstenteils um das Leben von Jesus Christus. Ich war völlig hingerissen von ihm und seinen Taten, wie er Blinde, Lahme und andere kranke Menschen einfach heilte. Ich war überzeugt, dass er bald auch zu mir käme und mich heilen würde. Doch wie es so ist, kam er nicht. Nach einigen Wochen des Wartens und einigen weiteren der sonntäglichen Bibelstunden, wurde mir klar, dass nichts geschehen würde. Wütend ignorierte ich von da an sonntags die Geschichten über Jesus Leben und begann innerlich einen Religionsboykott.
Erst in den letzten Jahren habe ich mich wieder etwas mehr mit Religion beschäftigt, mit Gott und der Bibelgeschichte. Nun es fällt mir schwer zu sagen, ich sei heute gläubig. Ich glaube, das ist gar nicht möglich, so vom einen auf den anderen Moment an etwas zu glauben, von dem man jahrzehnte lang keine Ahnung hatte und sich nicht damit auseinandergesetzt hat. Ich hoffe, dass es Gott und so etwas wie den Himmel gibt. Doch um jetzt plötzlich daran zu glauben, ist es zu spät. Glauben entwickelt sich mit einem und existiert nicht einfach so plötzlich. Auch glaube ich nicht, dass ich Gott irgendetwas schulde, viel eher ist er mir etwas schuldig. Ich habe auf eine Art und Weise gelebt, wie es sich andere Menschen in ihren schrecklichsten Alpträumen nicht vorstellen könnten und doch bin ich grösstenteils zufrieden mit meinem Leben. Ich habe nichts ungenutzt gelassen und alles erlebt und getan, dass für mich möglich war, wer sonst kann so etwas von sich behaupten?
Ich glaube, er ist mir schuldig das Tor zum Ziel, wenn es dieses wirklich gibt, zu öffnen, ohne dass ich darum flehen muss. Ich denke guten Gewissens, ich habe meinen Teil getan, jetzt ist er an der Reihe.
Erste Liebe
Die Liebe ist wohl ein Thema, welches in keiner packenden Erzählung fehlen darf, so also auch nicht in meiner. Es war 1975, kurz nach meinem 18. Geburtstag, als meine Mutter sich entschloss wieder arbeiten zu gehen. Sie lebte nun seit meiner Geburt, das heisst seit 18 Jahren in diesem Haus wie eingesperrt. Sie wollte nicht mehr ewig Tag ein Tag aus diese vier Wände anstarren und mich dasitzen sehen, ohne je eine Veränderung an mir festzustellen. So entschloss sie sich ihr erspartes Geld zusammen zu kratzen und eine Pflegerin für mich einzustellen. Das alles plante sie damals ohne das Wissen meines Vaters.
Zuerst war es irgendwie nur ein träumerisches Gedankenspiel von ihr.
Zugegeben war es mir nicht wohl in meiner Haut als ich bemerkte, was sie vorhatte. Wenn sie laut so vor sich hinträumte, konnte nicht einmal ich mich der Tatsache verschliessen, dass sie weg wollte.
Doch absolut klar und beängstigend wurde diese Tatsache erst wirklich als Mutter eines Abends Vater sagte, sie müsse etwas mit ihm besprechen und mich in mein Schlafzimmer brachte. Auch wenn ich durch die verschlossene Tür nichts mitgekriegt hatte, kann ich mir denken, dass mein Vater nicht glücklich über die für ihn überraschenden Ideen meiner Mutter war. Als sie mich etwa eine Stunde später mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht zurück an den Küchentisch holte und ich meinen Vater mit finsterer Miene so dasitzen sah, wurde mir klar, dass die ganze Sache entschieden war.
Es war etwa knapp eine Woche später als meine Mutter eines Nachmittags sich zu mir ans Fenster setzte. Sie drehte meinen Rollstuhl so, dass ich ihr direkt ins Gesicht blickte. Sie begann mir übers Gesicht zu streichen und versuchte die richtigen Worte zu finden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie es mir bewusst machen könnte, dass sie von nun an nicht mehr immer hier an meiner Seite sein würde. Da es mir aber schon längst bewusst war, was sie wollte, innerlich verletzt und wütend über sie war, wartete ich ungeduldig darauf, von ihr wieder in Ruhe gelassen zu werden. Dann begann sie mit langsamen, mich anwidernden Sätzen mir zu erklären, was sie eben sagen wollte. Wie gerne wäre ich ihr fortgelaufen, wie gerne wäre ich aufgestanden in mein Zimmer gegangen und hätte die Türe hinter mir zu geknallt, nachdem ich sie wild angeschrieen hätte. Doch stattdessen hörte ich sie mir all dies erklären, nur um dann zum Schluss noch von ihr zu hören: „Ach Gott, er versteht ja doch kein Wort von dem, was ich sage.“. Am deprimierendsten war es nicht, dass sie ging, es war, dass ich meine Wut nicht zeigen konnte. Ich hätte mit ihr streiten wollen, weinen, fluchen –egal was.
Nun begann die Suche nach jemandem, der für mich sorgen konnte. Meine Mutter hatte die Auswahl unter sich und lud in den nächsten Tagen verschiedene Pflegerinnen und Krankenschwestern ein. Logisch dass ich mich bei der Auswahl nicht beteiligen konnte.
Wieder mal war Mama überängstlich und nicht in der Lage sich zu entscheiden. Sie fragte, fragte und quetschte die armen Leute aus, bis diese sich selbst für zu unqualifiziert hielten und deprimiert und niedergeschlagen die Flucht ergriffen. So zum Beispiel auch bei Elise Kreschner. Elise Kreschner war eine ausgebildete Pflegerin und hatte lange Erfahrung in Altersheimen hinter sich und war so um die 45 Jahre alt. Sie war sehr altmodisch und streng gekleidet und bewegte sich auf hohen Stöckelschuhen durch die Gegend. Alleine schon der Blick meiner Mutter, als wir alle drei am Esstisch sassen, schien Frau Kreschner zu verunsichern. Mamas Augen schienen jedes einzelne Muster ihrer Wolljacke genau zu inspizieren, die Schuhe, die Strümpfe, sogar ihre Haare schien Mam nach Flöhen zu überschatten. Dann begann Mam sie auszuquetschen. Sie fragte sie nach ihren Schwächen, Ängsten, ihren Gesundheitszustand, fragte sie nach ihrem Verhalten in fiktiven Situationen, die sie einfach so mal schnell erfand und mit meiner Pflege nicht das geringste zu tun hatten. Dann begann sie von mir zu erzählen. Sie erzählte, was alles geschehen könnte, was für mich alles eine Gefahrenquelle bedeute und wie wichtig es sei, alles ganz genau richtig zu machen. Sie betonte das Tempo mit dem man mit mir sprechen musste oder auch nur schon die Stimmlage. Selbst ich erschrak ab ihren Horrorausführungen. Und als sie sich dann am Ende des Gespräches von Elisa Kreschner verabschiedete, konnte man in deren Augen schon auf 100 Meter Distanz erkennen, dass wir sie hier nie wiedersehen würden.
Chris (abgeleitet von Christina) kam sich genau an dem Tag vorstellen, als meine Mutter selbst bei ihrem Bewerbungsgespräch war und mein Vater sie vertrat. Und meinem Vater war das ganze Getue um Qualifikation und Perfektionismus weit weniger wichtig.
Ich hörte damals nur, wie es an der Tür klingelte, mein Vater die Tür öffnete, noch an der Türschwelle drei bis vier Sätze mit Chris wechselte und dann zufrieden wieder ins Wohnzimmer watschelte.
Meiner Mutter erzählte er dann am Abend das Blaue vom Himmel und schaffte es tatsächlich sie zu besänftigen. Auch Mam hatte ein erfolgreiches Gespräch hinter sich gebracht und wollte schon eine Woche darauf mit ihrer neuen Arbeit anfangen.
Chris lernte ich dann drei Tage vor Mams Arbeitsbeginn kennen. Es war kein besonders angenehmes Kennen lernen. Denn meine Mutter ging mit ihr meine Pflege und Betreuung Punkt genau durch. Ich kam mir vor wie eine Laborratte auf dem Seziertisch. Meine Mutter wusch mich, zog mich aus und wieder an, brachte mich aufs Klo und das alles vor den Augen einer Fremden. Als ich dann jedoch zufällig im richtigen Winkel lag und direkt in Chris Gesicht blicken konnte, musste ich feststellen, dass es sehr schöne Augen waren und ich konnte erkennen, dass es ihr auch nicht besonders angenehm war. Das Schönste jedoch war, dass sie es zu bemerken schien, wie ich sie ansah und über sie nachdachte, denn sie zwinkerte mir mit einem süssen Lächeln im Gesicht zu.
Chris war etwa 26. Sie hatte lange, braune Haare und hellgrüne Augen. Für eine Frau schien sie mir sehr gross, sie war bestimmt 1.84 oder so.
Als meine Mutter und mein Vater dann den ersten Tag beide bei der Arbeit und Chris und ich alleine waren, lernte ich das erste Mal einen Menschen genauer kennen, der nicht verwandt mit mir war. Den ganzen ersten Tag verbrachte sie damit mir von sich zu erzählen. Während sie wischte, kochte, abwusch oder einfach bei mir sass, plauderte sie fröhlich vor sich hin. Und sie redete nicht mit mir, wie mit einem dreijährigen Kind, sondern wie mit einem 18 jährigen Burschen. Am Anfang schien mir ihre Art komisch, nervig und ungewöhnlich, doch schon am Ende dieses ersten gemeinsamen Tages hätte ich mir gewünscht, dass sie nicht gegangen wäre.
Mit ihrer Art brachte sie etwas in mein Leben, das ebenso wundervoll wie auch schmerzhaft war. Und mit jedem Tag an dem sie kam und mich dann wieder verliess, wurde mir das noch deutlicher.
Wenn sie um mich war, fühlte ich mich frei und zufrieden. Ich fühlte mich verstanden und sicher. Doch wurde es Abend und sie packte ihre Sachen zusammen, war ich nicht in der Lage sie zu halten oder ihr auf Wiedersehen zu sagen. Ihr zu sagen: „Gute Nacht“ – „Bis Morgen“ oder einfach nur „Danke“.
Vielleicht war sie auch nur eine gute Schauspielerin. Welche Sympathie hätte sie denn schon für mich aufbringen können? Ich gab kein Lebenszeichen von mir, keine Emotionen –nichts. Doch sie konnte mir das Gefühl vermitteln, meinen Teil an unserer freundschaftlichen Beziehung zu leisten. Wie wäre es gekommen, wenn ich hätte reden können? Wenn sie mich tatsächlich gekannt hätte, so wie ich wirklich innerlich bin? Hätte sie mich dann auch gemocht?
Alles in allem habe ich schon viele Verliebte gesehen, wie sie sich in Liebe taumelnd völlig zum Narren machten, ich sollte glücklich sein, dass ich dazu nicht in der Lage war.