Das Leben aus einem Blickwinkel - Episode 6-7
Familienleben
Ich war damals glaube ich 11 Jahre alt, als in das Haus, auf welches ich durch mein Fenster Tag für Tag blickte, die Familie Klerk einzog. Ich kannte natürlich ihren richtigen Namen nicht und gab ihnen so selbst einen Eigenen. Das grosse Zimmer durch dessen Fenster ich in den Raum blicken konnte, war das Wohnzimmer. Im Gegensatz zu dem Ehepaar, das vorher dort lebte, hatten die Klerks eine sehr schlichte Einrichtung. Die Klerks waren eine fünfköpfige Familie. Die zwei jüngsten Kinder mussten zwischen drei und fünf Jahre alt gewesen sein und der Älteste ging bereits in die Schule. Für eine fünfköpfige Familie war die Wohnung sehr klein, was man schon am zu eng wirkenden Wohnzimmer schnell feststellen konnte. Der Vater arbeitete wohl in einem ähnlichen Beruf wie meiner, was ich an seinem muskulösen Körperbau feststellen konnte. Dagegen war seine Frau sehr dürr und sah zerbrechlich aus, ihre verzerrt wirkenden Gesichtszüge liessen sie immer sehr gestresst erscheinen. Den Tag über bis in den Abend hinein war sie alleine mit den drei Kindern in der Wohnung. Die beiden Jüngsten waren zwei wilde Burschen und ich sah sie immer in Sekundenschnelle durch das Wohnzimmer in die eine Richtung und dann wieder in die Andere zurück flitzen. Die Mutter schaffte es höchst selten sie zu bremsen. Sobald der ältere Junge von der Schule kam, versuchte sie ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Wenn er zu Hause war, schienen die beiden Jüngeren etwas ruhiger zu werden, als ob sie vor ihrem grossen Bruder ganz besonderen Respekt hätten.
Ihren Vater sah ich nur sehr selten, da er meistens aus dem Haus ging, wenn ich noch schlief und zurück kam, wenn ich schon im Bett war oder mit den Eltern Fern schaute.
Im Sommer 68 änderte sich dieser Rhythmus dann aber, da es am Abend bis 21 Uhr und noch länger hell draussen war, liessen mich meine Eltern immer bis neun Uhr am Fenster sitzen.
Kam Herr Klerk um acht Uhr zurück, waren die Kinder immer bereits in ihren Zimmern und nur noch die Mutter wartete im Wohnzimmer. Ich konnte immer um halb acht erkennen, wie der grössere Bruder auf die Anweisung seiner Mutter mit seinen kleinen Brüdern das Wohnzimmer verliess. Es war etwa am 5. Abend als ich etwas für mich sehr Merkwürdiges beobachtete. Bereits als er um die Strassenecke in mein Blickfeld gelaufen kam, konnte ich erkennen, dass Herr Klerk stark schwankte und zuerst noch an seiner eigenen Haustür vorbei lief, um so einige Meter später verdutzt wieder umzudrehen. Es dauerte einige Zeit bis ich ihn dann, nach dem Durchtreten der Haustüre, im Wohnzimmer wieder erblickte. Seine Frau schien nervös zu werden, als sie ihn eintreten hörte.
Als er zu ihr ins Wohnzimmer trat, schien sie mit ihm zu schimpfen und musste ihn stützen, damit er nicht zu Boden fiel. Plötzlich stiess er sie dann jedoch von sich weg und holte mit seiner rechten Hand aus, worauf er sie zu Boden schlug. Ich kann mich gut erinnern, wie ich zu erkennen glaubte, dass sie blutete, als sie sich wieder vom Boden auf bemühte.
So erschreckend nahe war Gewalt noch nie an mich herangekommen. Ich konnte zusehen, wie er sie weiter anbrüllte, beschimpfte und demütigte. Gewalt war für mich etwas bis dahin Abstraktes. Ich hatte sie selbst noch nie erfahren oder in solcher Nähe erlebt. Die Nachrichten berichteten über Krieg, Ausschreitungen und vieles mehr, doch die Nähe war mir nie bewusst, in der sie sich aufhielt. Woher konnte ich das Vertrauen nehmen, dass bei uns nicht ähnliches hinter meinem Rücken geschah oder noch geschehen würde? Einmal mehr wurde ich mir über meine Hilflosigkeit bewusst, ich würde niemanden beschützen können...
An den nächsten Abenden wiederholte sich das Schauspiel mit vielleicht einem oder zwei Abenden Pause dazwischen. Manchmal hörte ich ihn sogar bereits schon vor dem Haus herumbrüllen. Ich hoffte dann immer, meinen Eltern würde es auch auffallen und sie täten aus dem Fenster sehen und das gleiche Schauspiel beobachten wie ich. Doch sie kümmerten sich nicht darum, ob sie es nun gar nicht wahrnahmen oder einfach nur ignorierten.
Jeder dieser Abende verlief gleich, Frau Klerk schien wahrhaft darauf zu warten geschlagen zu werden, wie meine Mutter sich immer absichtlich am Herd postierte, wenn Papa von der Arbeit kam. Die Tür war offen, ihr Sohn trat täglich hinaus um zur Schule zu gehen. Sie ging hinaus um einzukaufen. Warum kehrten sie ein jedes Mal zurück? Was für ein Gefängnis hält einen so lange, dessen Tore unbewacht und offen stehen?
Es kamen 4 Wochen in denen ich wieder früher zu Bett ging. Zwei Wochen war es einfach schlechtes Wetter und wieder früh finster und die anderen zwei Wochen hatte mich eine leichte Grippe erwischt.
Als ich nach diesen vier Wochen wieder zu ihnen hinüber sah, fiel mir auf, dass das Wohnzimmer über den ganzen Tag hindurch verlassen war. Niemand liess sich blicken, weder die drei Kinder noch ihre Mutter oder Herrn Klerk.
Erst um acht Uhr zwanzig etwa erschien der Vater auf der Strasse. Er trug einen Anzug und in seinen grossen, Händen hielt er einen Strauss Blumen. Auch seine Haare schienen frisch frisiert. Er stand da unten vor der Tür und sah zum Verkehrsspiegel hinüber, der an der Strassenecke stand. Er wischte sich mit der linken Hand noch einmal den Scheitel zu recht und brachte die Blumen in die richtige Armhöhe, seinen buckligen Rücken formte er gerade, zog den Bauch ein und drückte seine Brust nach aussen, worauf er ins Haus trat.
Wenige Sekunden später trat er dann mit langsamen Schritten und suchendem Blick durch das Wohnzimmer. Er ging weiter in ein anderes Zimmer und verschwand für etwa zwei, drei Minuten. Als er wieder ins Wohnzimmer trat, hing ihm sein Scheitel über die Augen ins Gesicht, seine Arme mit denen er die Blumen hielt hingen zu Boden und wie auf einen Moment sackte sein gerader Rücken zusammen, seine Beine liessen nach und er verschwand aus meinem Blickfeld zu Boden fallend. Ein Paar Sekunden später kniete er sich hoch, wobei ich sein Gesicht wieder erkennen konnte und er schien genau zu mir hinüber zu sehen. Bis heute weiss ich nicht, ob er mich erkannte. Sein Kopf fiel wieder nach unten und ich sah nur noch den hinteren flach gekämmten Teil seiner frisch gewaschenen Haare.
Seine Frau und die Kinder kamen nicht mehr zurück. Der Mann der sie Wochen-, wahrscheinlich Monate-, wenn nicht sogar Jahre lang mit seinen starken, von Muskeln aufgeblähten Armen geschlagen hatte, kniete hilfeflehend und elendig am Boden.
Taschengeldaufbesserung
Mein Bruder Josef war damals, glaube ich mich zu erinnern, 13 Jahre alt und ich somit 9, als er an akutem Taschengeldmangel litt. Ich durfte des öfteren die lauten Auseinandersetzungen zwischen meinem Bruder und meinen Eltern mitanhören, in denen er für eine sofortige Taschengelderhöhung plädierte und darauf von meinen Eltern mit Hausarrest bestraft wurde. Auch dieser Umstand trug nicht zu einem besseren Verhältnis zwischen mir und Josef bei, denn die Argumentation meiner Eltern beruhte darauf, dass kein Geld vorhanden wäre um Josefs, damals wirklich spärliches Taschengeld, zu erhöhen. Und der Grund für diesen Geldmangel lag wieder einmal auf meinen Schultern.
Besonders zur damaligen Zeit, es war das Jahr 1968 oder 1969, war es nicht gerade billig ein schwerbehindertes Kind zu Hause gross zu ziehen.
Ich brauchte viele medizinische Behandlungen, dadurch dass ich leicht anfällig für jede Form von Krankheit war. Es brauchte öfters mal Umbauten in der Wohnung, und der Rollstuhl musste immer wieder auf Vordermann gebracht werden. Ich brauchte ein Sauerstoffgerät für den Fall, dass mir einmal die Atmung aussetzen würde etc., etc.
Verständlich also dass mir mein Bruder indirekt die Schuld an dem Umstand gab.
Es war an einem Montag, als meine Mutter einen Termin beim Friseur hatte und die Verantwortung über mich bis zu ihrer Rückkehr auf Josef übertrug, der dies nicht das schon des öfteren zuvor getan hatte.
Nun kaum war Mam aus dem Haus, machte sich Josef ans Telefon und etwa zehn Minuten später standen 5 pickelige, pubertäre Jungs um mich versammelt und glotzten mich an.
„Seht ihr, das ist mein Bruder. Ich hab euch doch gesagt, dass er ein entstellter Irrer ist!“, rief Josef vorlaut. Und ich mit meinen damals 9 Jahren war irgendwie stolz, dass ich Josef helfen konnte. Denn jeder dieser 5 Jungens musste ihm beim Eintreten in die Wohnung einen Geldbetrag zustecken, damit er mich sehen durfte. Von da an hatte Josef eine neue Geldquelle in mir entdeckt. Und obwohl er immer noch nicht ein Wort mit mir wechselte, bildete ich mir damals ein, dass wir ein tolles Team wären. Bei jeder günstigen Gelegenheit schleuste also Josef wieder Jungens und Mädchen, welche er aus der Schule kannte, entgegen Bezahlung in unsere Wohnung.
Manche Kinder bezahlten sogar zwei- dreimal, um mich sehen zu dürfen –ich war ein Star geworden und Josef mein Manager. Das war eine aufregende Zeit für mich. Am Anfang waren die Kinder scheu und wagten es kaum zu nahe an mich heranzutreten. Doch mit der Zeit überwanden sie allen Ekel und umarmten mich schliesslich zum Spass sogar, machten das Eselszeichen über meinem Kopf oder trieben ähnlichen Schabernack mit mir. Ich fühlte mich damals, als wäre ich einer von ihnen –eine Illusion mit der ich sehr gut leben konnte.
Eines Tages war jedoch von einem Moment auf den anderen Schluss damit. Als meine Mutter bei einer Freundin zum Abendessen war und es noch etwa eine halbe Stunde dauern sollte, bis Papa von der Arbeit zurückkäme, lud Josef wieder eine Gruppe zu uns ein. Er dachte nicht daran, dass an diesem Wochenende meine Schwester Laura zu Besuch kommen sollte, die dann auch plötzlich in der Wohnung stand und entsetzt das von Josef arrangierte Schauspiel betrachtete. Sie wurde so wütend, dass sie feuerrot angelaufen auf Josef zuraste und ihm eine Ohrfeige verpasste, die man wahrscheinlich bis zum gegenüberliegenden Gebäude knallen hörte.
Die Kinder scheuchte sie dann mit lauten, fauchenden Geräuschen fort.
Als meine Eltern davon erfuhren, wurde Josef noch zu allem an von meinem Vater grün und blau geprügelt. Und ich sass da vor dem Fenster und sah wieder hinaus. Mir, der das ganze insgeheim so genoss und im innersten Josefs Plan mitspielte, wurde keine Beachtung geschenkt. Ich bekam keine Prügel, noch nicht mal eine Standpauke. Statt dessen war alles wieder wie vorher und dabei hatte ich die Besuche der Kinder doch so genossen.