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Serie Das Leben aus einem Blickwinkel - Episode 1-5

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10.09.2002
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Das Leben aus einem Blickwinkel - Episode 1-5

Aller Anfang ist schwer“ oder „Woher ich komme“
Der Regen plätschert auf den bereits schwarzgefärbten Boden. Es ist Nacht geworden. Die schwarzen Wolken bedecken den sonst so hellscheinenden Mond gänzlich und lassen einen nur erahnen, welche Schönheit diese Nacht in sich verborgen trägt.
Auch in dem kleinen Zimmer des einfachen Krankenhauses hört man die Regentropfen gegen die Fensterscheiben prasseln, auf welchen sie wie Tränen über ihr gläsernes Gesicht nach unten wischen.
Es ist ein einfaches Zimmer. In ihm befindet sich ein einfaches Bett, ein einfacher Tisch und zwei ebenso einfache Leute.
Zufrieden liegt Klara auf der weichen Matratze des einfachen Bettes, dessen Decke sie bis über ihren rundgeformten Bauch gedeckt hält. Glücklich sieht sie in die erwartungsvollen Augen ihres Mannes Richard. Schon seit langem wissen sie um den Namen ihres längst erwarteten neuen Besuches. In langen Nächten, in denen sie wach lagen, entschieden sie sich für Gabriel oder Gabriele, wenn es ein Mädchen würde.
Eine junge Hebamme tritt durch die Tür des einfachen Zimmers, welche Klara auf dem Bett aus dem Zimmer den Korridor entlang rollt. Die grossen, rauen, von Kratzern bedeckten Hände Richards umfassen ihre und so läuft er mit einem ruhigen Blick auf sie gerichtet neben ihr her. Die Schmerzen Klaras sind gross. Doch sie hält ihnen Stand. Nicht zum ersten Mal haben sich die Beiden dieser Prüfung gestellt. Bereits drei gesunde Kinder hat Klara geboren, die sie über alles lieben. Seit Kurzem leben zwei von ihnen in einem Internat, dieses nächste Kind soll an ihren Platz im Hause treten.
Die Räder des Bettes knirschen auf dem sauber polierten Fussboden des Krankenhauses. Jeder Moment erscheint den Beiden nun wie eine Ewigkeit. Als sie in das Entbindungszimmer kommen, ist Klaras Gesicht schweissbedeckt. Ihr Lachen, das sie in Richards Gesicht richtet, erhält sie nur noch krampfhaft aufrecht. Doch was sind diese Schmerzen schon im Vergleich zu denen, welche sie bei der Geburt ihrer ältesten beiden Kinder durchlitt. Mark und Laura sind Zwillinge und ihr ganzer Stolz neben dem vierjährigen Josef.
Klaras Gedanken kreisen sich nur mehr um ihre Bilder, welche sie noch von ihren drei früheren Geburten in Erinnerung bei sich trägt, als sie Mark, Laura und Josef das erste Mal erblickte. Schreiend, zappelnd und kerngesund, mit einer grossen Zukunft vor sich.
Das Bild Richards, der noch immer neben ihr steht, nimmt sie mehr und mehr nur noch verschwommen wahr. Sein Gesicht erscheint ihr nur noch umrisshaft und seine Stimme, die ihr leise zu zuflüstern scheint, mag sie nicht mehr zu erkennen. Alles um sie scheint ihr immer mehr tranceartiger abzulaufen, als wäre sie gar nicht mehr wirklich da. Auch als der Arzt mit dem Skalpell auf ihrem Bauch ansetzt, ist ihr Blick nur in das verschwommene, umrisshafte Gesicht Richards gerichtet, dessen Hand ihre nun noch fester gedrückt hält.
Aus ihrem Bauch hebt der Arzt ein von Blut beschmiertes, kleines Kind hoch. Welches ruhig in seinen Armen liegt, als ob es friedlich schlafen würde, unberührt von allem um sich herum.....

Ich
Und noch heute scheine ich immer noch ebenso unberührt von allem um mich herum zu sein, wie damals, als in meinem Leben das erste Mal das Licht der Welt oder vielmehr das flackernde Licht einer knatternden Glühbirne, die nahe dem Erlischen war, meine Augen berührte. Zumindest stelle ich mir die Szenerie meiner Geburt so vor. Sollte irgendwann jemand von meiner Geburt berichten, so wären jenes meine Worte, um dieses mir fiktive Erlebnis den Leuten zu schildern.
Hier erzähle ich ihnen meine Geschichte. Die Geschichte eines Mannes, der weder irgendwelche Heldentaten vollführte, noch sein Leben auf wilden Partys genoss oder der Hunderte von erotischen Abenteuern mit Frauen durchlebte.
Ich sitze einfach da seit 44 Jahren. Ich sitze da und höre und sehe, was um mich geschieht.
Ich lasse meine Gedanken den Tag hindurch kreisen, verfolgend meinen Blicken und meinem Erlauschten. Auch bin ich ein Dieb. Unsichtbar stehle ich den Menschen ihre Erlebnisse und mache sie ebenso zu den meinen, um mich von ihnen zu ernähren.

Es war das Jahr 1957 als ich als viertes Kind meiner Eltern geboren wurde. Bis heute kann ich mich so gut wie nicht bewegen und selbst zu reden ist mir bis zum jetzigen Tage ebenso verwehrt geblieben. Die Augenlider, Atmung und meine Gedanken waren einzig schon immer von mir allein kontrolliert.
Meine Mutter übernahm vom ersten Tage an, an dem ich zu Hause war, meine Pflege und liess mich von da an nicht mehr aus ihren schützenden Augen. Unser beider Leben war seit meiner Geburt nicht mehr selbstverständlich und vielleicht verband uns diese Tatsache auch ein wenig. Sowohl für meine Mutter als auch für mich verlief die Geburt nicht ungefährlich. Doch wir überlebten beide, ob es nun dem Können der Ärzte zu verdanken ist, ob es meine Mutter selbst war, die mit ihrer Stärke uns beide rettete oder ob Gott, gibt es ihn wirklich, in das Geschehen eingegriffen hatte.
In unserer Wohnung besass ich meinen eigenen, persönlichen Platz, der mir von niemandem streitig gemacht wurde. Ich sass seit jeher, wohlbehütet in meinem Rollstuhl am süd-östlichen Eckfenster. Es war etwa drei Meter hoch und zwei Meter breit. Es zeigte direkt auf die Kreuzung der Strasse, welche unter unserer Wohnung vorbeiführte und ich konnte von hier aus auch genau in die gegenüberliegende Wohnung durch deren noch grösseres Terrassenfenster hindurchsehen.
Früher als ich noch klein war, trug mich meine Mutter nebenbei sehr viel mit sich in der Wohnung umher. Alles was ausserhalb geschah blieb mir meistens verwehrt. Der Blick aus meinem Fenster war meine einzige Gelegenheit aus dieser Umgebung für kurze Zeit auszubrechen und Neues kennen zu lernen.


Meine Familie
Meine Familie spielte in meinem Leben wohl eine noch wichtigere Rolle als in dem von „normalen“ Kindern. Ich war völlig und bedingungslos von ihrer Unterstützung abhängig. Alleine, auf eigene Faust hätte ich nie überleben können.
In erster Linie war da natürlich meine Mutter. Sie war Woche für Woche, Tag für Tag um mich. Ihre Stimme und ihr Atmen waren für mich unverkennbare Geräusche, die zu mir gehörten wie die Wolken zum Himmel und die Sonne zum Tag. Mit ihren butterweichen Händen konnte sie mich, als ich klein war, in den Schlaf wiegen oder mir einfach nur die Zeit versüssen. Sie war da und sie würde um mich kämpfen, wenn es von Nöten wäre. Zwischen uns spürte ich eine Bindung, die ich so stark, mir sonst bei niemandem sicher sein konnte. Sie war meine Beschützerin, vor allem Unheil, das zumeist nur sie kommen sah. Im Familienkreis, verhielt sie sich in der Regel ruhig und still. Sie versuchte, wenn möglich jeglichen Missverständnissen und unnötigen Streitereien aus dem Weg zu gehen und sie behielt ihre Sorgen immer für sich. Niemanden anderen zu belasten war ihr Motto, sie fühlte sich von ganzem Herzen verantwortlich dafür den Zusammenhalt der Familie zu wahren. Vielleicht hatte sie deshalb auch eine solch gute Beziehung zu mir. Ich war noch stiller als sie, bei mir brauchte sie sich gegen nichts durch zu setzen –ich war einfach da. Wenn es ihr schlecht ging und sie mit niemandem reden konnte, erzählte sie manchmal mir von ihren Problemen oder was ihr gerade so durch den Kopf ging. Ich glaube nicht, dass sie davon ausging, ich würde es verstehen und vielleicht erzählte sie mir auch gerade deswegen von ihren Ängsten und Sorgen. So wurde mir mit zunehmendem Alter auch immer mehr bewusst, dass ich sie irgendwo hinterging, in dem ich ihr zu hörte.
Dass sie letztlich mein Innerstes ebenso wenig kannte, wie die Meisten wurde mir erst mit zunehmenden Alter bewusst. Wie sie mit mir sprach, was sie mir für Geschichten erzählte, das alles veränderte sich auch mit zunehmendem Alter nicht, ich war für sie nie ein erwachsener Mensch, sondern das hilflose, kleine Geschöpf, dem sie sich an einem regnerischen Abend auf Lebenszeit verpflichtet hatte.
Der süssliche Zigarrengeruch, die rauen, sandigen, verkratzten Hände, eine tiefe, bebende Stimme und sein riesiger Schatten, wenn er über die Türschwelle trat, dies alles war mein Vater. Ein starker Mann, der Tag für Tag auf dem Bau arbeitete. Er pflegte, wenn er in die Wohnung trat, meine Mutter von hinten mit einer kräftigen Umarmung zu überraschen und sie kreischte dann dauernd wie ein wildes Huhn auf dem Schlachthof. In Wahrheit, sah sie ihn bereits vom Fenster aus, wenn er heim kam und stellte sich dann immer brav hinter den Herd, um Papa nicht den Spass zu verderben. Er hob sie dann hoch und drehte sich mit ihr einmal im Kreis, bis er sie wieder von einem Beben gefolgt auf dem Boden landen liess. In diesem Moment sah er dann meist kurz zu mir hinüber, um dann, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden, wieder schnell seinen Blick von mir abzuwenden. Er redete nie ein Wort mit mir, ausser wenn Mama in gewisser Massen dazu zwang. Sie pflegte in solchen Situationen immer zu sagen: „Jetzt sprich schon mit Gabriel, er hat dich den ganzen Tag nicht gesehen, er hat dich so vermisst.“ Darauf trat er dann zu mir, klopfte mir mit seinen starken Händen, verdächtig leicht auf die Schultern und brummte „Abend Gabriel, schaust du aus dem Fenster?“ Sass ich einmal nicht am Fenster, wenn er von Mama dazu aufgefordert worden war, stotterte er mir irgendetwas, das ich nie verstand entgegen, um sich dann schnell ins Badezimmer zu verziehen. Komisch dass genau er es war, der auf die Idee kam meinen Stuhl vor dem Fensterplatz hinten etwas mit einer Holzplatte anzuheben, so dass mein Blick höher und von da leicht nach unten gerichtet war. So überschatteten meine Augen ein noch weiteres Feld. Und auch er war es, der meine Mutter das erste Mal aufforderte mich zum Fernseher zu drehen und ich ab dann die Sendungen jeden Abend mitverfolgen durfte.
Mark und Laura –meine zwei älteren Geschwister sind Zwillinge und so beide 9 Jahre älter als ich. Als ich geboren wurde lebten sie bereits beide in einem Internat. Deshalb, da nun wieder Platz in der Wohnung war, hatten sich wohl meine Eltern auch entschieden noch einmal ein Kind gross zu ziehen.
Laura war und ist die hübscheste Person unserer Familie. Sie besitzt einen geschmeidigen und athletischen Körper. Ihre Haare schimmern hellbraun und wirken leicht wie Luft. Die Lippen ihres Mundes tragen ein Rot, in welcher Stärke es keine Zweiten gibt und ihre Augen, oh ihre Augen..... Sie leuchten hellgrün und lassen ihre Gefühle zu jeder Zeit erkennen. Ob sie nun traurig oder glücklich ist, sieht man in ihre Augen, fühlt man sich ihr und ihren Gefühlen sofort verbunden. Leider sah ich sie nie besonders oft. Sie war ein begehrter Mensch. Sie wurde überall hin eingeladen und begann nach der Schule Jura zu studieren, wo sie kaum noch nebenbei Zeit fand nach Hause zu kommen.
Doch wenn sie einmal für mich da war, dann war sie wirklich nur für mich da. Bei ihr war es so, dass ich nicht das Gefühl hatte, reden können zu müssen um mich ihr verständlich zu machen. Im Gegensatz zu vielen Anderen schien sie nie das Gefühl zu haben, dass ich dumm oder ähnliches sei. Sie behandelte mich nach meinem Alter und nicht nach meinen körperlichen Fähigkeiten entsprechend.
Mark war ihr sehr ähnlich, es mag wohl daran liegen, dass sie Zwillinge sind. Im Gegensatz zu ihr, die alle liebten und mit Stolz auf sie blickten, war Mark das schwarze Schaf der Familie. Er fühlte sich ausgestossen, als unsere Eltern ihn und Laura ins Internat schickten und verzieh es ihnen nie. So kam es, dass er nach dem Internatsabschluss die Schule gegen den Willen unserer Eltern beendete und eine Kariere als Schauspieler anstrebte. Er hielt sich mit vielen kleinen Nebenjobs über Wasser und begann irgendwann tatsächlich die Schauspielschule, welche er dann auch mit Erfolg abschloss und einige Jahre mit einer Wanderbühne durchs Land reiste. Er trat im Zirkus auf, wirkte in kleinen Bühnenaufführungen mit und versuchte sich sogar eine Zeit lang als Komödiant und Musiker. Mark war ein Mensch, der in den Tag hinein lebte und seine Ideen immer verwirklichte, ob sie ihm nun Erfolg oder auch nur Blamage einbrachten.
Durch sein schlechtes Verhältnis zu unseren Eltern und seine Reisegier, sah ich auch ihn nur höchst selten. Es war nicht so, dass nur meine Eltern in ewigem Clinch mit ihm lagen, sondern auch Laura oder Josef sahen ihn eher als rebellischen Bruder, der die Familie auseinander bringen wollte und vertrauten ihm nie wirklich. Wenn er jedoch auf Besuch war, rissen sich alle zusammen, so dass sein Besuch nicht in einem riesigen Streit endete. Zumindest im Wohnzimmer, wo ich anwesend war, verschluckten sie jedes provozierende Wort. War ich jedoch im Bett, konnte ich ihre Streitereien bis in die Nacht hinein mitverfolgen.
Er war ganz einfach ein Träumer und eben kein Realist wie der Rest der Familie. Er bestand auf seine Träume und liess sie sich von niemandem nehmen, eben so wie er darauf bestand den Versuch zu unternehmen jeden einzelnen dieser Träume zu realisieren.
Immer wenn er zu Besuch war, versuchte er meine Mutter zu überzeugen, mit mir raus zu gehen und das Haus zu verlassen. „Er soll die Chance haben die Welt kennen zu lernen!“ rief er. Meine Mutter empfand diese Versuche immer als persönlichen Angriff gegen sich. Für sie schien es so selbstverständlich, dass dies für mich nicht möglich war, dass sie nicht glauben konnte, dass Mark wirklich meinte, was er sagte.
Doch er meinte es so, musste sich aber letztendlich immer von meiner Mutter geschlagen geben. Auch wenn er der Meinung war, dass ich zu viel mehr in der Lage gewesen wäre, als einfach Tag ein Tag aus dem Fenster zu starren, wusste er wie viel Mutter für mich tat und dass er trotz seiner eigenen Meinungen nicht das Recht hatte, ihre Entscheidungen bezüglich mir zu ignorieren. Trotz alledem genoss ich seine seltenen Besuche immer sehr. Damals war ich etwa zehn, als meine Mutter gerade einkaufen gegangen war und sie Mark eines der wenigen Male mit mir alleine gelassen hatte, räumte Mark, als sie das Haus verlassen hatte, alle Möbel im Wohnzimmer zur Seite, so dass eine breite Fläche nun völlig leer stand. Er kehrte meinen Rollstuhl, klemmte sich daran und schrie: „jetzt geht’s LOS!“ Und mit einem Affenzahn fuhr er mich im Wohnzimmer im Kreise herum, bis ich kaum noch irgendetwas wahrnehmen konnte, ich war wie einer dieser Autopiloten der Wagenrennen, die mein Pa manchmal am Wochenende im Radio mitverfolgte. „Schneller, schneller!“ hätte ich gerufen, wenn ich es gekonnt hätte, ich hätte meine Arme ausgestreckt und meinen Mund lachend geöffnet um den Windzug damit einzufangen.
Klar war meine Mutter nicht begeistert als sie zurückkam und von mir und Mark nur einen Luftstoss wahrnehmen konnte. Doch für mich waren solche Momente Höhepunkte eines ganzen Jahres und ich danke Mark noch heute dafür, dass er mir solche Momente ermöglichte.


Ich gebe zu, dieses Erlebnis war etwas zu viel des Guten. Ich bekam schwere Atemprobleme und musste zwei Tage danach noch erbrechen. Und trotz alle dem, es hatte sich gelohnt.
Ich habe zwei Brüder: Mark und Josef, der bei meiner Geburt vier Jahre alt war. Ich kann mir vorstellen, dass Josef nicht gerade begeistert gewesen war, als er mich am Tag nach meiner Geburt sah, wie ich still und bewegungslos in den Armen meiner Mutter in die Wohnung getragen wurde. Er wird sich wohl schon vor meiner Geburt Gedanken gemacht haben: Nun würde er einmal der grosse Bruder sein. Der grosse Bruder, der sein kleines Geschwisterchen beschützt, aber auch einmal zurechtweist, wenn es sein Revier übertritt. Und schon bald musste er wohl erkennen, dass ich nie etwas übertreten würde, sondern nur still dasitze.
Wenn er als Kind wütend war, pflegte er, mit einer guten Portion Kraft vor den Augen unserer Mutter gegen meinen Rollstuhl zu treten, in dem ich sass. Damit konnte er sie immer schwer treffen. Und alle wussten dann, dass er wütend war. Gegen mich selbst stellte er sich nie. Höchstens sprach er mal unschön über mich und liess mich so seine Abneigung gegen mich erkennen. Meine Mutter verletzten diese Ausbrüche immer besonders, mein Vater blickte ihn dann grimmig an, so dass Josef murrend aufstand und in sein Zimmer watschelte und die Tür für lange Zeit hinter sich zu schloss...


Alltag
Mein Tag begann meistens um etwa zehn Uhr, wenn in meinem Zimmer das Licht anging und meine Mutter zu mir trat um mir einen guten Morgen zu wünschen. Ich wurde dann geduscht und angezogen, so dass ich danach für das Frühstück bereit war. Ich war schon immer sehr schmächtig gebaut und die Pflege und das Heben von mir bereitete meiner Mutter selbst zu jener Zeit kaum Probleme, als ich die Grösse eines erwachsenen Mannes erreicht hatte. Doch noch sicherer als in den Armen meiner Mutter fühlte ich mich, wenn mich mein Vater hob oder trug. Er hatte breite, muskulöse Arme, die mich immer an seine Arbeit auf der Baustelle zu erinnern vermochten. Meist roch er nach Zigarre, was für mich immer mehr zu einem angenehm bekannten Duft wurde. Während mein Vater, wenn er einmal meine Pflege übernahm, sie meist wortlos ausführte, pflegte es meine Mutter unentwegt zu vor sich hin zu plappern. Sie redete in diesen Momenten von dem schönen Wetter, von ihren manchmal doch sehr merkwürdigen Träumen und von den Hausarbeiten, welche sie am selben Tage noch zu erledigen hatte.
War ich erst einmal frisch zurechtgemacht und sauber, wurde ich an den Küchentisch gebracht. Schon wenn ich aus dem Badezimmer hinausgefahren oder in früheren Tagen noch getragen wurde, konnte ich bereits die kochende Milch sprudeln hören, die auf der heissen Gasplatte stand. Es gab dann Kaffe und eine Art Brei, da ich keine feste Nahrung zu mir nehmen kann. Meine Mutter gab mir dann oft auch ein paar Löffel Honig oder Konfitüre zum Kosten, was für mich immer die Krönung war. Meine Mutter und ich liessen uns immer viel Zeit beim Frühstück und sie begann erfahrungsgemäss dann von dort an weiter zu erzählen, wo sie vorher unterbrochen hatte. Ich hörte ihr nicht immer wirklich zu, ab und zu schaltete ich wie „aus“ und liess meine „eigene Platte“ im Hintergrund laufen. Dabei stellte ich mir meist vor, es würde ein Musikstück laufen, dass ich vielleicht am Abend zuvor noch im Radio gehört hatte und oft verhielt sich die Bewegung ihres Mundes zufälligerweise virtuos im Takt passend zu der in meinem Kopf spielenden Musik.
Nach dem Morgenessen wurde ich an meinen Fensterplatz gebracht, von dem aus ich alles ausserhalb unserer Wohnung auf das genaueste beobachtete und mir Notiz davon nahm, um alles Geschehene im Nachhinein dann genau zu analysieren. Im Hintergrund lief oft das Radio, immer wieder machte ich mit Mam am Esstisch eine kleine Pause und hin und wieder sahen wir auch etwas Fern, meistens am Abend, da das rauschende Geräusch des Fernsehers entspannend auf meinen Vater wirkte, der nach dem Abendessen gerne auf dem Sofa ein kleines Nickerchen machte.
Zu gewissen Stosszeiten wurde ich etwa 5-6 mal im Verlauf des Tages auf die Schüssel gesetzt. Wobei mir auf Grund meines Stuhlgangs meine Mutter 2 Mal pro Woche einen Einlauf legte. All diese intimen Pflegemassnahmen wurden mir mit zunehmendem Alter immer unangenehmer und doch war keiner von uns in der Lage gegen das oder irgendetwas anderes, das meine Situation ausmachte, etwas zu unternehmen.


Mein erster „Freund“ Fred
Ich war damals 1969 ein sehr frühreifer zwölfjähriger. Ich sah mir jeden Abend mit meinen Eltern zusammen die Nachrichten an, lauschte kritisch jeder ihrer Diskussionen, ob über Politik, Philosophie, Sport oder auch nur den üblichen Tratsch. Und hätte ich sprechen können, hätte ich damals bestimmt zu jeder Gelegenheit mein Grossmaul zur Schau gestellt Doch ich konnte nicht reden, noch mich bewegen und so ahnten meine Eltern zu keinem Zeitpunkt, dass ich auch nur die Hälfte dessen verstand, was um mich geschah.
Und so kam es, dass sie für mich einen Freund suchten nämlich den damals 17jährigen Fred. Freds Vater arbeitete auf dem selben Bau wie meiner und so kamen sie wohl irgendwann ins Gespräch miteinander und zu ihrer beiden Verwunderung hatten sie tatsächlich etwas gemeinsam, sie hatten beide einen behinderten Sohn. Und so kamen sie auf die Idee, dass es gut für ihre Söhne wäre, wenn sie Freunde würden und so lernte ich den mongoloiden Fred kennen. Mit 17 Jahren war Fred geistig vielleicht gerade mal auf der Entwicklungsstufe eines 8jährigen und ich konnte ihn nicht ausstehen. Ich fasste es als regelrechte Beleidigung auf, dass man mich mit so jemandem wie Fred zusammen tat. Ich hatte bisher meinen Tagesablauf so überstanden, in dem ich andere Leute beobachtete und belauschte, von ihrem Leben etwas für mich mitnahm und versuchte mich in sie hinein zu versetzen. Doch bei Fred gab es nichts, dass er mir zu erzählen hatte, in das ich mich hätte hineinversetzen können. Nicht dass Fred nicht ein äusserst netter Typ gewesen wäre, aber sicher war er das. Er war gesellig, freundlich, lustig, immer aufgestellt, voller Energie, und ich hasste ihn. Manchmal hatte ich das Gefühl ein lebloses Spielzeug in seinen Händen zu sein. Er redete zu mir und antwortete an meiner Stelle und ich träumte davon ihn eines Tages mit meinem Rollstuhl zu überfahren
Und das Schlimmste war, dass meine Eltern (zumindest meine Mutter) das Gefühl hatten, dass es mir einen Riesenspass mache, mit Fred zusammen zu sein. Schon am Morgen eines jeden Tages, an dem uns Fred besuchen kommen sollte, kündigte sie es mir voller Vorfreude und Stolz an und zerstörte mir somit schon von Anfang an den ganzen Tag.
Mir läuft es heute noch kalt den Rücken hinunter, wenn ich an seine feuchten Umarmungen zurückdenke. Seine quietschende Stimme liess meinen Namen immer so doof klingen und unsere Mütter hatten die Angewohnheit uns immer zu beobachten und über alles, was Fred mit mir tat, permanent auf völlig doofe Art zu lachen. Ich kam mir vor wie im Zirkus, bei der Clownnummer.
Es kam so weit, dass ich mich wirklich entschloss etwas zu tun, so konnte es nicht weiter- gehen. Ich erinnere mich noch gut, Fred war an diesem Nachmittag gerade daran zu versuchen mich an meinen tauben Füssen zu kitzeln und unsere beiden Mütter amüsierten sich köstlichst darüber bis... bis ich aus Protest aufhörte zu atmen und für etwa 1 Minute die Luft anhielt. Ich glaube, das war ein Schock für meine Mutter, den sie so schnell nicht mehr vergessen würde. Als sie es bemerkte, wurde ihr Gesicht schneeweiss und sie rief meinen Hausarzt an. Sie war so nervös, alle um sie hatten das Gefühl, dass ich gleich sterben würde. Mit einer solchen Reaktion hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Und obwohl ich wieder zu atmen begann, konnte sich meine Mutter nicht mehr beruhigen und hielt mich nachher 2 Tage unter strengster Bewachung, obgleich sogar Dr. Fischer (mein Arzt),sie versuchte davon zu überzeugen, dass es mir gut ging. Nach diesen zwei Tagen begann jedoch alles wieder von vorne, mit dem kleinen Unterschied, dass es Fred strengstens untersagt wurde mich zu kitzeln. Noch einmal die Luft anzuhalten, kam für mich nicht in Frage und so versuchte ich es mit einer anderen Methode.
Mein Plan war simpel und wie ich dachte, eigentlich leicht zu durchschauen. Sobald Fred bei seinem nächsten Besuch durch die Tür in die Wohnung in meine Richtung trat, schloss ich meine Augen und öffnete sie nicht, bevor Fred wieder ginge. Nun so simpel es auch für mich schien, dass jeder dadurch erkennen sollte, wie sehr ich seine Anwesenheit ablehnte, interpretierte meine Mutter lediglich, dass ich für heute zu müde sei und zu Bett müsse. So verbrachte ich also den Rest des Tages im Bett angeödet und der völligen Trostlosigkeit ausgesetzt. Doch so schnell gab ich nicht auf und fuhr mit meinem stummen Protest Tag für Tag weiter. Wieder rief meine Mutter den Arzt und er beteuerte ihr hoch und heilig, dass ich kerngesund sei. So verbrachte ich ca. 2 Wochen beinahe jeden Tag im Bett in meinem Zimmer mit zwischenzeitlichen Besuchen meiner Mutter, die nach mir sah. Doch nach diesen für mich qualvollen 2 Wochen war Fred für immer aus meinem Leben verschwunden. Und bis heute bin ich überzeugt, dass es nicht meine Mutter oder Freds Mutter war, die meine Ablehnung verstanden. Ich bin sicher, dass es Fred war, der meine Zeichen zu deuten wusste.
Ich weiss, dass ich Fred damals damit sehr weh getan haben muss. Er war ein Mensch, der andere Menschen liebte und alles für sie getan hätte. Doch er war auch ein Mensch der anders war und inmitten von „Normalen“ lebte. Er wurde ausgenutzt, ausgelacht, verspottet, geprügelt und ausgegrenzt, bis er mich fand. In mir dachten sie wohl alle, würde er einen wahren Freund finden, einen Gleichgesinnten und auch ich tat nichts anderes als ihn abzuweisen. Und trotz dieses Wissens bereue ich diese Tat keine Minute. Ich konnte nicht die Verantwortung dafür übernehmen, wie hart Freds Schicksal war.
Heute, in einer anderen Zeit und anderen Situation würde ich ihm wohl anders begegnen und manchmal denke ich auch darüber nach, was aus Fred wurde.
Wenn es mir langweilig ist oder ich traurig bin, ertappe ich mich selbst manchmal sogar dabei, wie ich mich mit Erinnerungen an Erlebnisse mit Fred versuche aufzuheitern, denn trotz allem, er war ein witziger und ansteckend gutgelaunter Mensch.

 
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Hallo Jismail!

Eine verdammt gut erzählte Geschichte! :thumbsup: !

Das ist wirklich ein anderer - und vor allem auch auf Dauer nur ein - Blickwinkel, dem man nicht alle Tage begegnet.
Der Anfang läßt vielleicht manchen glauben, es handle sich um ein vielbeschriebenes Thema - doch das ist weit gefehlt und wer sie deshalb nicht liest, ist selber Schuld, daß ihm hier ein wirklich gutes Werk entgeht... ;)

Besonders die Szene, wo Dein Protagonist mit dem Bruder allein ist und die Möbel auf die Seite räumt, hat mir sehr gefallen, und ich glaub das war auch für den Protagonisten einer der schönsten Momente.

Bin beeindruckt. :)

Ein paar Fehler hab ich auf meinem Ausdruck angezeichnet, aber jetzt keine Zeit mehr, sie einzutippen. Komme wieder. ;)

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Jismail,
hier ist der Anhang zu meiner Kritik: ;)

Zuvor aber auch noch die für mich schönste Stelle, die ja genau das aussagt, was ich in meiner "Kritik" oben auch meinte:

Klar war meine Mutter nicht begeistert, als sie zurückkam und von mir und Mark nur einen Luftstoß wahrnehmen konnte. Doch für mich waren solche Momente Höhepunkte eines ganzen Jahres und ich danke Mark noch heute dafür, dass er mir solche Momente ermöglichte.

"und lassen einen nur erahnen welche Schönheit diese Nacht"
- erahnen, welche

"Die grossen, rauen, von Kratzern bedeckten Hände Richards umfassen ihre und so läuft er..."
- Hat sie denn auch große, raue, von Kratzern bedeckte Hände?

"neben dem 4jährigen Josef"
- dem vierjährigen Josef

"die ihr leise zu zuflüstern scheint,..."
- zuzuflüstern

Ach, das wollte ich eigentlich gestern schon dazuschreiben:
Im letzten Absatz des ersten Abschnittes ist Dir ein inhaltlicher Fehler unterlaufen. Zu der Zeit, wo die Geburt in Deiner Geschichte stattfindet, gab es noch keine Teilnarkose beim Kaiserschnitt - und es ist ja offensichtlich einer.
Selbst heute wird es kaum mit Kreuzstich (=Teilnarkose) gemacht, weil man den mindestens zwei Stunden vorher machen muß. Gerade Kaiserschnitte müssen meist schnell gehen, da bleibt die Zeit leider nicht, so schön es auch klingt, daß es diese Möglichkeit gibt.
Es ist tragisch aber wahr: Die Geburt kann die Mutter in Deiner Geschichte nicht so miterlebt haben, weil sie da mit Sicherheit eine Vollnarkose hatte - und da sieht man nicht verschwommen und umrißhaft, da ist man "weg", bzw. frau, und sieht das Kind frühestens, wenn man aus der Narkose aufwacht.
Außerdem ist es nicht erlaubt, daß der Vater beim Kaiserschnitt dabei ist, da es eine Operation ist und keine normale Geburt. Das Kind in Empfang nehmen kann er, sobald es ihm die Hebamme gibt.

"Sollte einst jemand von meiner Geburt berichten"
- "einst" betrifft die Vergangenheit, ist also hier falsch.

"noch sein Leben in wilden Partys genoss..."
- besser "auf wilden Partys"

"ebenso zu den Meinigen"
- zu den meinen

"Augenlieder"
- Augenlider

"liess mich von da an nicht mehr aus..."
- ließ

"Unser beides Leben"
- unser beider Leben

"Sie war meine Beschützerin, von allem Unheil,..."
- Beschützerin vor allem (und ohne Beistrich/Komma)

"Durch sein schlechtes Verhältnis zu unseren Eltern und seiner Reisegier, sah ich auch ihn nur höchst selten."
- Wenn Du ausdrücken willst, daß er zu seinen Eltern und seiner Reisegier ein schlechtes Verhältnis hatte, dann stimmt der Satz. Aber ich denke, Du meinst
"Durch sein schlechtes Verhältnis zu unseren Eltern und seine Reisegier sah ich..."
Also, das schlechte Verhältnis und die Reisegier waren Schuld, so meintest Du es doch, richtig? Den Beistrich kann man lassen, aber es ist schöner ohne, finde ich.

"Er bestand auf seine Träume und liess sie sich..."
- auf seinen Träumen und ließ sich

"Tag ein Tag aus"
- tagein, tagaus

"als sie das Hause verlassen hatte,..."
- das Haus (ohne e)

"Schneller, schneller" hätte ich gerufen"
Wenn Dein Protagonist ruft, dann gib ihm doch ein Rufzeichen nach schneller. ;) Und einen Beistrich nach der direkten Rede, also: "...schneller!", hätte ich...

"Mutter nicht begeistert als sie zurückkam und von mir und Mark nur einen Luftstoss wahrnehmen konnte."
- begeistert, als sie ... Luftstoß (langer Selbstlaut)

"Ich gebe zu dieses Erlebnis..."
- gebe zu, dieses

"grimmig an, so dass Josef murrend aufstand und in sein Zimmer watschelte und die Tür für lange Zeit hinter sich zu schloss..."
- sodass (zusammengeschrieben)
- ein Beistrich statt dem ersten "und" klingt besser (aufstand, in sein Zimmer watschelte und...)

"frühreifer 12jähriger"
- frühreifer Zwölfjähriger
- die restlichen Zahlen bitte auch ausschreiben, außer 1969

"Und obwohl, dass ich wieder zu atmen begann,"
- Und obwohl ich wieder zu atmen begann,

Alles liebe,
Susi :)

 

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