Das Land am Ende der Mauer
Die Sonne versank im scheinbar unendlichen Meer. Ihre Strahlen färbten das Wasser unnatürlich rot; Licht brach sich an den schwachen Wellen und Reflexe glitzerten wie kleine Sterne. Die Wellen schwappten leicht ein Stückchen an der metallenen Barriere empor, konnten Aich jedoch nicht erreichen. Er hockte auf dem blanken schmalen Weg, der oben entlang lief. Aich lehnte mit den Rücken gegen eine dunkle Metallmauer. Die Mauer verlief anderthalb Meter hoch, auf der Deichkrone entlang. Der Deich mit der Mauer verschwand links und rechts am Horizont und zerteilte die See in zwei Hälften.
Aich war müde. Seine Füße schmerzten. Zwei Tage war er schon auf dem schmalen Pfad zwischen der Mauer und dem Meer unterwegs. Aich hoffte, dass er tatsächlich morgen wieder Land erreichte. Das Volk der Uitopi, in deren Dorf er die letzten Wochen gelebt hatte, sagten, drei Tagesmärsche durch das Meer beginne wieder Festland. Die Große Mutter der Uitopi warnte ihn auch: Jenseits des Meeres würden böse Geister nur darauf warten, ihn zu fressen. Doch vor Geistern hatte Aich keine Angst. Er glaubte nur an eine einzige Legende. An das Land am Ende der Mauer, dort wo jeder glücklich wird.
Der Mann, der sich Aich nannte, packte seine letzten Vorräte aus dem Beutel. Heißhungrig verzerrte er sie. Wenn er nicht bald das Geisterland erreichte, würde er versuchen, mit seinem Speer Fische zu fangen. Aber Aich kannte sich mit den Meerestieren nicht aus. Die Uitopi sagten, einige der Wasserbewohner seien giftig. So wollte er lieber vorerst hungern.
Der Wind wurde kühler, als die rote Sonne am Horizont verschwand. Aich wickelte die wollene Decke um seinen Körper. Sein alter grauer Rock hielt die nasse Kälte nicht mehr zurück. Aich war jetzt ungefähr 32 Sommer alt. Genau konnte er es nicht sagen. Aich zählte wohl um die fünf Sommer, als sein Großvater, damals Häuptling der Kalama, ihm zum ersten Mal vom Land am Ende der Mauer erzählte.
Die schwarze Metallmauer, etwa zehn Fuß hoch, durchschnitt das Stammesgebiet der Karlama. Niemand wusste, wo die Mauer begann und wo sie endete. Sie kam aus Richtung der untergehenden Monde und verschwand dort am Horizont, wo die beiden Monde der Welt ihren Aufstieg ins Zenit begannen. Sein Großvater war ein weiser alter Mann, doch auch er konnte nicht sagen, wer diese Mauer einst gebaut hatte. In alten Geschichten, die an den Feuern des Stammes erzählt wurden, heißt es, die Anlage habe es schon gegeben, bevor die Menschen mit fliegenden Schiffen auf diese Welt kamen und das Land besiedelten. Auf der anderen Seite des Walles gab es keinen Unterschied zu dem Land diesseits. In regelmäßigen Abständen standen hölzerne Leitern und ermöglichten so den Verkehr zwischen den beiden Gebieten links und rechts der Mauer. Aich hätte gern ein Schwert aus dem anscheinend unzerstörbaren Metall besessen, aus dem die Mauer wohl geschmiedet war. Denn das dunkle Material war weitaus besser als das Eisen, welches die Kalama in ihren kleinen Steinöfen aus dem Eisenstein heraus schmolzen.
Aich glaubte nicht an die Legende mit den fliegenden Schiffen, die den Himmel befahren konnten. Noch nie hatte er eines dieser Fahrzeuge gesehen. Die Kalama und die Menschen der anderen Stämme bauten nur Ochsenkarren, und die konnten nicht fliegen. Daher schien eine andere Geschichte wahr zu sein, die ihm einst sein Großvater erzählte. Vor undenklichen Zeiten sollten auf der Welt zwei Könige geherrscht haben. Der eine, Matuma geheißen, war böse. Der andere, Kalama mit Namen, Stammvater seines Stammes, war hingegen gütig und großherzig. Kalama errichtete mit Hilfe der Götter, die hinter der Sonne wohnen, die Mauer, um sein Volk vor Matuma zu schützen. Die Barriere brauchte nur zehn Fuß hoch zu sein, den die Götter statteten das Werk mit einem Zauber aus. Jeder feindliche Krieger, der die Metallkrone �bestieg, wurde von einem Blitz getroffen und starb. Matuma und seine grausamen Krieger sind schon lange tot, doch die Mauer blieb als ewige Erinnerung an den Kampf gegen das Böse, wenn sie auch längst keine feurigen Blitze mehr spuckte. Aber am Ende der Mauer lag noch immer das von den Göttern geliebte Land, wo jeder glücklich wird.
Aich konnte das sagenumwobene Land am Ende der Mauer nicht vergessen. Dort, wo die beiden Mondgötter Primur und Sekund am Himmel erschienen. dort irgendwo konnte jeder glücklich werden. Aich wollte glücklich sein. Er wollte nicht nur Felder bestellen, das Vieh hüten oder auf die Jagd gehen.
Mit 18 Sommern nahm Aich eine Gefährtin. Sie schenkte ihm einen Sohn. Er nannte ihn Thorn. Mit 19 Sommer starb sein Großvater; die Versammlung des Stammes wählte seinen Vater zum Häuptling und seine Mutter zur ersten Mutter der Kalama. Mit 20 Sommer er Aich im Traum Kalama, der Stammvater. Er sagte: "Nimm Schwert und Bogen, einen Beutel mit Fleisch, einen Beutel mit Heilkräutern und geh in das Land, wo jeder glücklich wird."
Aich ging. Der Stamm lies Aich ziehen. "Wem Kalama ruft, darf man nicht aufhalten", sagten die Alten. Aich verließ Gefährtin und Sohn, nahm Schwert und Boten, warf sich einen Leinenbeutel mit getrocknetem, eingesalzenen Fleisch �über die kräftigen Schultern, band einen kleinen Lederbeutel mit Kräutern an seinen Gürtel und ging. Aich marschierte entlang der Mauer, dort hin, wo die beiden Monde am Himmel erschienen.
Die Sommer vergingen, die Winter kamen und vergingen auch. Der Wandel der Welt unter der roten Sonne und den zwei Monden ließ sich nicht aufhalten. Aich durchstreifte fremde Wälder, wohnte bei unbekannten Stämmen, diente für einen guten Sommer lang den König von Urs, bis er in der Schlacht bei Talman gefangen und nach Laris verkauft wurde. Doch Aich konnte seinem neuen Herrn entfliehen und kehrte zur Mauer zurück. Gute und schlechte Menschen, freundliche und böse Völker kreuzten seinen Weg entlang des schier unendlichen Metallbandes, dass die Welt zerteilte. In einem Dorf lernte Aich ein Mädchen kennen, das ihm gefiel. Sie gebahr eine Tochter und Aich blieb drei Sommer lang.
Dann nahm Aich Abschied. Das Land am Ende der Mauer lockte wieder. Er ging unentwegt, doch die Mauer schien kein Ende zu finden. Und dann kamen die Erinnerungen an das eigene Dorf, an seine Eltern, seine Gefährtin, an seinem Sohn Thorn, an die Freunde, an die Wiesen und Wälder, an den kleinen See nahe dem Hügel. Erst zuckten die Gedanken an zu Hause nur gelegentlich durch seinen Kopf, so als wollten sie auskundschaften, ob er für sie bereit ist. Dann kamen sie immer häufiger, nachts im Traum, am Tag beim Wandern, selbst bei der Jagd auf frisches Wild.
Aich kämpfte im Laufe seines Lebens mit fremden Kriegern, räuberischen Nomaden, mit Drachen und Raubtieren. Er bestellte die Felder und hütete das Vieh bei den Stämmen an der Mauer, die ihn für eine kurze Zeit aufnahmen. Oft kam ihn jetzt der Gedanke an eine Rückkehr. Doch Aich fand nicht die Kraft, aufzugeben. Und: Kalama hatte ihn schließlich gerufen.
Nun war er mitten im Meer und noch immer lag das Land, wo jeder glücklich wird in weiter Ferne. Der neue Tag graute. Ein steifer eisiger Wind kam auf. Regen prasselte aus den tiefen Wolken und weckte Aich. Unausgeschlafen begann er seine steifen Glieder zu recken. Die Decke und die Kleidung waren nass. Wassertropfen rannen aus seinem Haar und Bart um die Wette. Aich rollte die Decke zusammen, verrichtete seine Notdurft und begann die Wanderschaft aufs Neue. Das Meer quirlte und schäumte, tobte fast einige Fuß tief unter ihm, wo der Deich das Meer erreichte. Aich ahnte, dass er noch lange gehen musste, bis er das Ziel erreichen würde.
Aich gelangte sicher �über das Meer zum Geisterland. Geister fand er nicht. Die Sommer und Winter wechselten sich ab. Seine Haare wurden erst grau, dann weiß. Nur sein Bart blieb schwarz. Das Gehen wurde immer beschwerlicher. Aich kam nur noch langsam voran. Er lehnte sich gegen die Mauer und atmete schwer. Im nächsten Dorf würde er länger rasten, falls man ihm Gastfreundschaft gewährte.
Drei anstrengende Schritte, dann fiel er erschöpft zu Boden. Aich war zu müde, um aufzustehen. Im Gras liegend, halb bewußtlos, so fanden ihn einige Stammeskrieger. Man hob ihn auf eine aus zwei Hölzern und einem Tuch zusammengebundenen Trage und brachte Aich in das Dorf. In einer Hütte wurde ihm ein Lager bereitet, Frauen flößten ihm heißen Kräutertee ein.
Der Häuptling des Stammes trat an Aich heran, als Zeichen seiner Würde trug er ein buntgewebtes Wolltuch über den Leib geschlungen. "Sei willkommen, alter Mann", sagte er und kniete neben Aich nieder. "Wie geht es Dir?"
"Ich danke Dir", antwortete Aich. "Ich bin unterwegs zum Land am Ende der Mauer. Dorthin, wo die Monde aufgehen."
Ein weiter Weg, alter Mann", sagte der Häuptling. "Mein Vater ging denselben Weg vor vielen Sommern. Niemand hörte mehr etwa von ihm. Vielleicht ist er inzwischen bei Kalama und sitzt zu seiner Linken an der Tafel der Helden."
"Kalama, wer bist Du, dass Du Kalama kennst?", fragte Aich erstaunt.
"Ich bin Thorn, Häuptling der Kalama, Sprecher der Menschen vom See Talung-Na und der Menschen von den Weiden entlang des großen braunen Flusses, Ehemann der Großen Mutter unseres Stammes."
"Wie ist das möglich? Ich ging doch immer in Richtung der aufgehenden Monde und habe mich nie zurück gewandt."
"Du kamest aus Richtung der untergehenden Monde, dort wo Primur und Sekund am Horizont verschwinden", bestätigte Thorn.
Aich richtete sich auf, tastete mit seiner Hand nach der Hand des Häuptlings. "Die Mauer hat mich zurückgeführt", flüsterte er. "Ich bin in dem Land, wo ich hingehöre. Ich bin glücklich, Thorn, hörst Du, ich habe das Land gefunden, in dem man glücklich wird. Ich bin wieder zu Hause."