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Das Lamm Gottes
Der Wald ist tief. So tief, dass es dort nie wirklich warm wird. Menschenseelen gehören hier nicht her. Zu dicht drängen sich hier die Bäume. Bäume, so alt wie die Zeit selbst. Gewachsen auf Felsen, die bis in den Himmel ragen.
Der Wald gehört ihm allein. Dem Wolf. Und der Wolf ist hungrig. Und stärker als sein Hunger ist nur noch seine Gier. Die Gier nach mehr. Schnaubend pflügt er sich durch das Dickicht des Waldes. Rastlos und tonnenschwer. Die Augen gelb wie Flammen. Das Fell pechschwarz und gleichzeitig rot vom Blut seiner Opfer. Die Zähne lang wie Messer. Glatt wie Porzellan. Der Dämon des Waldes. Der Teufel.
Die Sonne steht bereits tief, doch der Wolf geht noch immer umher. Der Hunger lässt ihn nicht schlafen. Niemals.
Beute in Gestalt eines Hirsches. Das Geweih gleicht einer Krone. Der Wolf pirscht sich an. Langsam bewegt er seine Masse durchs Geäst. Holz zerbirst. Der Hirsch blickt auf. Stille. Beunruhigende Stille. Etwas Dunkles lauert im Wald. Etwas, das nicht gesehen werden kann, wenn dies sein Wille ist. Die finsteren Tannen wiegen sich ächzend im eisigen Wind. Und der Hirsch grast wieder.
Mit infernalischer Präzision spannt sich der Körper des Wolfes an. Regungslos wie ein Felsen. In ihm ein Sturm. Blitze rasen durch seine Muskeln. Ein Donner rast seine Kehle hinauf. Der König des Waldes ist wahnsinnig. Dann hetzt er los. Seine Hinterläufe zerfetzten den Untergrund. Ein Blutrausch bricht durch das Unterholz und zwingt den Hirsch in die Knie. Der Moment, in dem die Beute dem Jäger vergibt?
Die Kiefer des Schlächters öffnen sich so weit, dass sie jeden Moment aus den Gelenken zu springen drohen. Dass gesamte Fell ist aufgestellt. Kreischend schlagen sich seine Zähne in das warme Fleisch des Hirsches. Die umliegenden Bäume färben sich rot. Das Gras wird rot. Der ganze Wald. Rot.
Hungrig gräbt sich die Schnauze des Wolfes in das Innere seiner Beute. Er wütet und tobt noch lange nach dem sein Hunger gestillt wurde. Die Gier macht ihn krank. Keuchend triumphiert er über dem zerfetzten Körper und stößt dann sein markerschütterndes Geheul in die weite Flur hinein.
Die Sonne geht langsam unter, und die Nacht legt sich über die Tannen und Felsen und versteckten Seen des Waldes. Doch etwas bleibt wach dort in der Dunkelheit. Die ganze Nacht. Auf der Suche nach mehr.
Ein neuer Tag bricht an. Nasser Nebel schleicht sich zwischen den Bäumen hindurch. Es wird hell. Der Tau bedeckt das Moos und auch die Gräser. Die knorrigen Tannen ragen durch den Nebel in den grauen Morgenhimmel empor. Der Wolf geht geifernd umher. Der Hunger nagt sich durch seine Eingeweide. Rüttelt an seinen Knochen. Lässt ihn mit den Zähnen klappern. Das Verlangen wächst. Grunzend verlässt er den tieferen Wald und tritt auf eine weite Wiese, durchzogen von einem schmalen Gewässer. Das hohe Gras wischt das Blut von seinem nassen Fell.
Der Wolf bringt seinen massigen Körper zum Stehen. Da. Ein Lämmchen. Direkt vor ihm. Es stillt seinen Durst an dem klaren Wasser. Die Zähne des Wolfes klappern nun noch heftiger. Es ist nicht nur ein Lamm. Es ist das Lamm. Jung. Perfekt. Das Lamm Gottes. Der Wolf pirscht sich diesmal nicht an. Langsam aber beständig setzt er sich in Bewegung. Und er wird schneller.
Wie ein Schleier liegt der Nebel über die Wiese. Das Lamm hebt den Kopf. Es sieht den Wolf, doch es versteht nichts von dem Zorn, der ihm da entgegen kommt. Der Dämon sprintet los. Zu groß ist das Verlangen. Und ja, der Wolf ist riesig. Er wächst mit jedem Sprung.
Das Lamm bewegt sich nicht. Stampfend pflügt sich der Wolf durch die hohen Gräser. Doch das Lämmchen weicht nicht vor der geifernden Walze. Es ist soweit. Wie eine schwarze Wand erhebt sich der Wolf vor dem Lamm. Er klappt die Kiefer auseinander. Die Augen weiten sich. Mit einem einzigen Biss verschlingt er das Lämmchen. Das Gras bleibt grün.
Die Gier verschont die Beute vor den Zähnen des Wolfes. Keine Zeit zu zerfetzen oder zu zermalmen. Blökend verschwindet das Lamm im ewigen Schlund der Bestie. Der Tyrann richtet sich zu seiner gesamten Größe auf und brüllt seinen Fluch in die eisige Morgenluft hinaus. Ein Schwarm Krähen entsteigt erschrocken den umliegenden Tannen. Der König hat gefressen.
Die Sonne findet hier und da einen Weg durch die Tannen und malt groteske Schatten auf den Boden des Waldes. Schnaubend schleppt sich der Wolf durch das Unterholz. Lüstern rollen seine Augen in ihren Höhlen umher. Auf der Suche nach mehr. Doch da ist noch etwas anderes.
Etwas ganz und gar Fremdes. Etwas in ihm. Und es bewegt sich. Die Augen des Wolfes weiten sich. Er kann es fühlen. Und er erkennt: Es ist das Lämmchen, welches er in unkontrollierbarem Verlangen verschlungen hat. Es lebt. Es atmet. Gefangen von seinem gewaltigen Körper.
Hunger treibt den Dämon tiefer in die Wälder hinein. Hier sind die Tannen noch älter und die Flüsse mächtig. Stille regiert. Und nun kann er ihn hören. Den zweiten Herzschlag. Tief in seinem Inneren pulsiert es. Das Herz des Lammes. Der Wolf grunzt und zittert. Denn er erträgt es nicht.
Ihn dürstet. Röchelnd tritt der Wolf an den Fluss. Gierig schiebt sich seine Zunge in das kristallklare Wasser. Wieder und wieder und immer wieder. Doch sein Durst wird nicht gestillt. Denn auch das Lamm in ihm trinkt und trinkt. Dankbar nimmt es zu sich, was ihm der Wolf hinab in die Dunkelheit wirft. Der Wolf wendet sich ab. Denn er erträgt es nicht.
Verzweiflung ergänzt Gier und Hunger. Sein Trieb beschleunigt ihn. Noch tiefer treibt er ihn hinein in die finsteren Tannen.
Zähne und Klauen klappern. Speichel rinnt an seinem Hals hinab und tropft auf den feuchten Boden. Die Jagd beginnt. Vor ihm ein Reh. Rasend stürzt er sich darauf. Er zerreißt es. Seine Kiefer öffnen und schließen sich. Stück für Stück verschluckt er die Beute. Doch Fleisch und Blut füllen ihn nicht. Weder das eine noch das andere.
Hass liegt nun im Gebrüll des Wolfes. Er sprintet los. Er jagt. Und mordet. Und frisst. Chaos. Ein Opfer nach dem anderen. Bis ans Ende seiner Kräfte.
Blut fließt nun anstelle von Wasser in den Flüssen des Waldes. Doch der Hunger des Wolfes bleibt ungestillt. Denn das Lamm frisst mit ihm. Alles, was der Wolf ihm so dankbar hinabwirft.
Er wird schwächer. Er keucht und ächzt. Denn das Lämmchen wächst und wächst und sein Herzschlag wird lauter und lauter. Es zehrt von ihm. Beraubt ihn seiner Kräfte. Es verwehrt ihm Wasser und Nahrung. Und der Wolf fürchtet sich. Oh ja er fürchtet sich so sehr vor dem, was in ihm heranwächst. Er will es nicht sehen. Niemals.
Müde schleppt sich der dämonische Wolf durch den Wald. Panik hält ihn auf den Beinen. Seine blanken Zähne klappern, doch diesmal ist der Grund ein anderer. Er kann fühlen, wie es sich bewegt. Wie es versucht zu entkommen. Dieses andere Leben. Dieses andere Herz. Aber der Wolf tröstet sich. Denn es kann nicht hinaus.
Doch das Lamm ist nicht mehr das, was es einmal war. Sein Wesen ist nun ein anderes. Seine Natur wurde geändert. Es hat getrunken, was der Wolf trank. Hat gefressen, was der Wolf fraß. Das Lämmchen ist nun kein solches mehr. Den Geschmack von Gras hat es vergessen. Der Wunsch nach klarem Wasser ist verschwunden. Es weiß jetzt, wie Fleisch schmeckt und wie auch Blut den Durst zu stillen vermag. Und es ist zu groß geworden. Zu groß für sein Gefängnis. Zu groß für diese Feste aus Fleisch und Blut.
Mit weit aufgerissenen Augen und brüllend vor Schmerz bleibt der Wolf stehen, als sich das Lämmchen seinen Weg aus der Dunkelheit nagt. Der heiße Atem des Wolfes flimmert in der kühlen Waldesluft. Seine Klauen graben sich tief in den bewachsenen Untergrund. Der Wald ist ein Labyrinth. Ein Labyrinth, das sich dreht. Unaufhaltsam bahnt sich seine Zucht einen Weg hinaus. Ein klagendes Heulen zerschneidet die Stille des umliegenden Dickichts. Dann bricht der Wolf zusammen. Seine Beine splittern wie Zweige. Hart schlägt er auf dem Boden auf. Seine Kiefer klappen zusammen. Die Augen erfrieren.
Der ewige Schlächter ist tot. Dann öffnet er sich. Denn das, was herangewachsen ist, entsteigt jetzt dampfend dem Kadaver des Dämons. Noch leicht zittrig auf den Beinen und rot vor Blut.
Noch verträgt es das Licht nicht. Voll Wonne saugt es die klare Luft ein. Einst in die Dunkelheit verbannt durch die Gier des Wolfes. Wiedergeboren im Herzen des Waldes. Satt und kraftstrotzend. Das Lamm Gottes.