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Das Labyrinth

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04.05.2016
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Das Labyrinth

Das Labyrinth
Eine Straße versperrte mir den Weg. Eine rote Ampel zeigte mir einen Ausweg. Alles stand still. Ich schloss langsam die Augen. Eine Begegnung mit ozeanblauen Augen hatte mich aus der Fassung gebracht. Ich war gefangen in einem Labyrinth aus Stein und Stahl. Meine Augen öffneten sich wie von selbst. Rote und blaue Lichter flackerten in der Nacht. Graue Monumente aus Beton formten albtraumhafte Visionen im Licht des Vollmondes. Eine Menschenmenge begann, sich einheitlich zu bewegen, wandelte sich zur treibenden Kraft im endlosen Wirrwarr des Labyrinths. Meine Bewegungen erschienen mir plötzlich unnatürlich, wie die einer Marionette. Im tiefen Ozean menschlicher Nähe ließ ich mich treiben, verlor mich selbst in Gedankenlosigkeit. Himmel und Hölle, sie alle verschwanden in Wärme. Dann ließ mich die Menge fallen. Einsam lag ich mitten auf der Straße. Der Anblick des Labyrinths eröffnete sich mir wieder. Die lange, gerade Straße verformte, windete sich und brach aus ihren gewohnten Bahnen aus. Ein Puzzle entstand, ein unlösbares Rätsel. Mein Weg war unklar geworden, die Menge hatte sich aufgelöst. Kein Mensch, kein lebendes Wesen war mehr zu erkennen. Die Gebäude um mich herum warfen schlangenhafte Schatten. Ich bahnte mir meinen Weg durch das Labyrinth, doch drehte ich mich nur im Kreis, fand mich ausschließlich in Sackgassen wieder. Die Hoffnung schwand, wurde verdrängt von Verzweiflung. Der Vollmond setzte ein lächerliches Grinsen auf, spottete über mich und die Sterne lachten. Der Himmel hatte mich verlassen. Ewig sah ich hinauf. Die Schatten umarmten mich zärtlich. Ich fiel auf die Knie, bettelte um Vergebung. Alles wurde schwarz. Das Ende war gekommen...

So dachte ich jedenfalls bis ein bärtiger Mann mit einer alten Öllampe in der Hand und einem Lied auf den Lippen erschien. Die verstörende Melodie rettete mich vor dem Wahnsinn. Er packte mich an meinem Arm, zog mich hinter sich her. Ich erblickte langsam den Wald. Der Bärtige brachte mich in eine alte Holzfällerhütte. Ein Feuer brannte freundlich im Kamin. Er setzte mich auf eine Bank, drückte mir ein Glas Wasser und eine Schüssel Suppe in die Hand. Die Suppe war ein Fest für Gaumen und Seele. Er blickte mir lange in die Augen. Seine Augen waren blau wie der Ozean. Sie erinnerten mich an die kurze Begegnung, die doch so viel in mir verändert hatte. Schmerzhafte Gedanken hämmerten sich in meinen Kopf. Die Stimme des Bärtigen war wie Samt. Sie riss mich aus meiner Gedankenwelt.
„Sie hatten großes Glück. Normalerweise betrete ich das Labyrinth nicht.“
„Warum waren Sie heute dort?“
„Etwas trieb mich dorthin. Etwas undeutliches, schattenhaftes.“
„Eine Vision?“
„Wie gesagt, ich kann es nicht erklären.“
Ich schlürfte die warme Suppe hinunter. Einige Momente der Stille vergingen.
„Bleiben Sie hier. Sie sind nicht geschaffen für die anderen.“, riet mir der Bärtige fast schon flüsternd.
„Was wollen Sie mir damit sagen?“
„Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie hier draußen glücklicher werden als dort drinnen im Labyrinth.“
„Ich soll mit Ihnen zusammen im Wald leben? Das ist doch absurd. Ich bin ja sehr dankbar für die Suppe, für die Rettung aus dem Labyrinth natürlich auch, aber ich kann nicht ewig hier bleiben. Es warten doch Leute auf mich!“
Als ich dies so aussprach, wurde mir klar, dass ich gelogen hatte. Mir fiel niemand ein, der noch auf mich wartete. Ich wandte meinen Blick dem Boden unter mir zu. Die letzten, flüchtigen Tropfen meines Glücks verschwanden, befruchteten die feuchte Erde des Waldes. Der Bärtige erkannte meinen Gedankengang. Seine Augen waren wie Schwerter. Sie durchbohrten Herz und Seele. Eine Kälte überkam mich, ein Gefühl der endlosen Einsamkeit.
„Früher war ich an Ihrer Stelle. Bleiben Sie hier.“, sagte er in einem beruhigenden Ton. So blieb ich bei ihm im Wald. Ich legte meine städtische Kleidung ab und nahm mir ein paar Kleidungsstücke des Bärtigen. In schwarz-rotem Flanellhemd, ausgewaschenen Jeans und Arbeiterstiefeln fällte ich Baum um Baum. Ich ließ mir einen Vollbart wachsen, kämmte meine Haare nicht mehr. Solch einen Lebenswandel hatte ich mir früher nicht vorstellen können. Abends spielten wir Schach, manchmal auch einfach nur Mau Mau. Das Schachbrett und die Figuren hatte der Bärtige selbst geschnitzt. Er war handwerklich äußerst begabt. Mir fehlte dazu das Geschick. Jeden Sonntag kam ein Mann vorbei, der uns das Holz abkaufte. Den Montag darauf fuhr der Bärtige in das nächstgelegene Dorf, um Lebensmittel und anderes zu kaufen. Das Leben war simpel. Aufstehen, arbeiten, schlafen. Hin und wieder ein paar Runden Schach. Aus mehr bestand es nicht. Dennoch war ich glücklich. Mit jedem Axthieb, den ich in einem Baumstamm versenkte, spürte ich eine seltsame Lebensfreude, so als ob ich meine Erfüllung im Bäume fällen gefunden hatte. Die Jahre kamen und gingen. Der simple Lebensstil und die fast auschließlich auf Obst und Gemüse basierende Ernährung reinigten meinen Körper und meine Seele.

Der Bärtige wurde bettlägerig. Seine Augen waren blutunterlaufen und er stöhnte mit jedem einzelnen Atemzug. Eines Nachts sagte er mit gebrochener Stimme: „ Es ist Zeit geworden, mein Freund. Dieses Leben hält nichts mehr für mich bereit. Ich danke dir, mein Freund, dafür, dass ich meinen Zweck erfüllen konnte.“
„Deinen Zweck? Was redest du da?“
„Das wirst du schon bald verstehen, mein Freund.“
Ich sagte nichts. Der Bärtige schlief langsam ein. Selbst jetzt sprach er noch in Rätseln. Am nächsten Morgen war sein Bett leer. Als ich in den Spiegel sah, erkannte ich, dass ich er geworden war. Mein Gesicht hatte sich komplett dem seinen angepasst. Es überraschte mich nicht. Seit ich ihn das erste Mal erblickt hatte, ging eine flammende Aura von ihm aus, ein gleißendes Licht, das sämtliche Dunkelheit verbannte. Ich wusste, dass mir jetzt diese Aufgabe zugefallen war, mir, der sich die ersten Jahre seines Lebens immer diesem Licht entzogen hatte. Doch nun sollte es anders sein. Ich lebte einfach weiter: aufstehen, arbeiten, schlafen. Simpel und strukturiert. Abends rekonstruierte ich die Schachspiele, die wir ausgefochten hatten. Des Bärtigen Stil war äußerst edelmütig gewesen. Fallen und simple Tricks waren nicht seine Art. Wie ein edler Ritter kämpfte er barmherzig auf dem Schlachtfeld. Als sonntags der Käufer kam, fragte er mich: „Ist ihr Freund verschwunden?“
„Ja, er ist leider verstorben.“
„Verstorben? Aber er war doch noch so jung!“
Da wurde mir klar, dass er in mir nicht mich, sondern den Bärtigen sah. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, nicht ich zu sein. Der Verlust meines alten Äußeren schmerzte mich jedoch nicht allzu sehr. Die Jahre im Wald hatte mir klar gemacht, dass der Körper nur eine Hülle war, ein Gefäß für die wirklich wichtigen Teile eines Menschen. Ich begann, meine Aufgaben anders wahrzunehmen. Eine neue Zuversicht war geboren.

Jedoch verlangte eines Tages ein Schatten nach mir, eine fürchterlich kreischende Gestalt. Sie rief meinen Namen mit schmerzhafter Stimme. Aus meinen Augen und Ohren tropfte schwarz gewordenes Blut, während mein Mund zugenäht wurde von einer mysteriösen, körperlosen Hand. Am Morgen erkannte ich dies jedoch als Traum. Eine Eingebung zeigte mir, dass die Zeit bald gekommen war. Am nächsten Tag hatte ich denselben Traum. Wieder und wieder verfolgte er mich und wurde mit jedem Mal ein wenig wirklicher. Eines Tages trieb es mich dann ins Labyrinth.

Die schattenhafte Gestalt erschien vor meinem inneren Auge. Ich spürte ihre Nähe. Mit der alten Öllampe des Bärtigen in der Hand wagte ich mich in die alles verschlingende Finsternis. Ein Mann lag da, fast ohnmächtig, sichtlich nicht in der Lage, den Ausgang zu finden. Ich packte ihn am Arm, zog ihn hinter mir her. Er flüsterte: „Bitte lass mich sterben.“, doch ich sah hinab und sagte: „Nein. Niemand wird mehr sterben, wenn ich es verhindern kann.“
Ich packte den Mann auf meinen Rücken. Das viele Bäume fällen hatte mich stark gemacht. In der Hütte ließ ich ihn in das Bett des Bärtigen sinken, gab ihm eine Decke, die Schüssel Suppe und das Glas Wasser. Ich wusste genau, was jetzt passieren würde.
„Schon besser?“, fragte ich.
„Die Umstände tun mir leid. Ich will Sie nicht belästigen.“
Sein Gesicht kam mir seltsam bekannt vor, wie das eines entfernten Verwandten. Ich kannte es, doch zuordnen konnte ich es nicht mehr.
„Bleiben Sie hier, ruhen Sie sich aus. Essen Sie und dann schlafen Sie ein wenig“
„Ich kann nicht. Es gibt Leute, die...“
„Auf Sie warten? Ich weiß, ich war auch einmal an ihrer Stelle. Denken Sie genau darüber nach.“
Am nächsten Tag kam der Mann zu mir vor die Hütte. Der Duft des Waldes reinigte seine und meine Lungen. Mit fragender, aber hoffnungsvoller Stimme sagte er: „Ich bleibe.“

 

Hallo,

sprachlich sehr angenehm. Da rutscht man durch, als ob man eine gebutterte Rutsche hinabsaust.

Aber inhaltlich. Hm. Was genau ist besser an diesem zweisamen Waldgehucke? Ist das besonders erfüllend? Dann konnte ich das nicht wirklich rauslesen.

Allegorisch also etwas schwierig, für meinen Geschmack. Als rabaukiges Märchen funktioniert das aber vielleicht ganz gut. So für die Moderne.

LG

 

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