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- 04.08.2001
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Das Labyrinth der Gedanken
Meine erste Begegnung mit Ole Hansson hatte ich in der Lobby unseres Hotels. Ich kannte ihn, jeder kannte ihn von den Plakaten, die schreiend bunt an allen Häusern der Stadt hingen.
Ich besprach mich mit einem Mitarbeiter in einer ruhigen Ecke, als ein Schrei von der Rezeption uns unterbrach.
Mein Kollege stoppte einen vorbeieilenden Kellner mit einer Handbewegung und der antwortete auf die Frage, indem er zur Aufnahme wies: “Hansson. Irgendwer vom Personal war in seinem Zimmer, ohne Genehmigung. Er hat Angst um sein Gepäck.”
Er lief weiter und im Nu war er hinter einer Tür verschwunden, die wer weiß wohin führte.
“Ah, Hansson”, sagte mein Gegenüber und lächelte. Ich sah das Funkeln in seinen Augen. Und so wandte ich mich um und beobachtete den Ursprung des Durcheinanders.
Die Plakate zeigten Hansson stets im Profil, so dass sich die markante Nase abhob. Als er sich dort am Tresen aber umdrehte, sein Gesicht in meine Richtung wandte, erkannte ich den furchtbaren Makel in seinem Antlitz. Auch wenn man sich immer wieder erzählte, dass Ole Hansson einen Augenfehler hatte, war ich nicht darauf gefasst, wie sehr ihn dieser entstellte.
Ich schaute ihn an, und sein gesundes Auge starrte zurück. Er kam auf mich zu, eine stattliche Person mit Reptilienausdruck, und ich war nicht in der Lage, den Blick abzuwenden. Schließlich blieb er vor mir stehen und musterte mich. Ich erkannte, dass sein zweites Auge, das in groteskem Winkel stand, ein Eigenleben zu führen schien.
Obwohl er hätte jammervoll wirken müssen, umgab ihn eine eiskalte Aura, als er sagte: “Sie finden mich hässlich, ja?”
Natürlich war er hässlich, mit dem schielenden Blick. Doch ich hatte versucht, mir dies nicht anmerken zu lassen.
“Sie brauchen nicht den falschen Anschein zu geben.” Er musterte mich. “Man sieht Ihrem Gesicht an, wie Sie über mich denken.”
Jedes Gemurmel war erstorben, die Flügel der Ventilatoren drehten sich schwerfällig.
Ich schwieg, denn ich hätte nur Unsinn herausgebracht. Hansson drehte sich um und ging davon.
“Das war dann also der große Gedankenleser”, sagte mein Kollege. “Der Herr, der alles weiß.”
Er lachte, während ich dem Mann hinterher sah, der so gar nicht den Eindruck des umjubelten Künstlers machte.
Als wir uns ein paar Tage später auf dem Hotelflur wiedertrafen, wollte ich wortlos an ihm vorbeieilen. Ich hatte nicht vor, wieder den Schuljungen für ihn zu machen, doch er war besserer Laune als Tage zuvor.
“Ich fürchte, ich habe mich ekelhaft benommen”, sagte er und brachte ein Lächeln zustande. “Ich möchte mich entschuldigen.”
Ich blieb stehen.
“So schlimm war es nun auch wieder nicht.”
Lachend breitete er die Arme aus. Er trug Smoking und Schal und war sicher auf dem Weg zu seinem Auftritt.
Er sprach weiter, dabei packte er meinen Ellenbogen und zog mich sanft mit sich.
“Aber ja doch. Es war abscheulich, Sie so bloßzustellen. Kommen Sie, Sie haben eine Wiedergutmachung verdient.”
Er ließ nicht zu, dass ich ablehnte. So spendierte er mir einen Bacardi und wir unterhielten uns in der fast leeren Hotelbar.
“Alle Welt schaut auf das schielende Auge.” Es hörte sich an, als spreche er übers Wetter. “Sie starren auf das Ding und gruseln sich. Dabei sind sie froh, dass sie nicht selbst so aussehen.”
Ich trank einen Schluck.
“Doch es entgeht ihnen, dass die eigentliche Besonderheit in meinem gesunden Blick liegt.”
Er lächelte, als hätte er eine tiefere Wahrheit geäußert.
“Trinken Sie noch etwas!” Und bestellte einen weiteren Bacardi für mich und für sich selbst ein Schweppes.
“Was ist mit Ihrem gesunden Auge?”, fragte ich. “Wo liegt das Geheimnis?”
Sein Lächeln erstarb. “Ich sehe Dinge. Dinge, die andere nicht sehen.”
Dabei hatte ich den Gedanken, dass Ole Hansson an mir soeben seine neueste Show ausprobierte, doch plötzlich lachte er wieder und sagte: “Niemand bemerkt es, weil sie alle auf das kranke Auge starren.”
Mir hätte schon damals bewusst sein müssen, dass er mir seinen einzigen und besten Trick verraten hatte.
“Sie sind Autor, was?”
Ich nickte, überrascht vom Themenwechsel.
“Wissenschaftlicher Kram, und so?”
Er sagte es, als würde ich Toilettenpapier verkaufen.
“Ich arbeite an einer Abhandlung über die Rolle der hiesigen Stadtchronik in der Geschichte des Deutschen Reiches”, sagte ich kühler als gewollt.
“So, so.” Er nahm einen Schluck Wasser und beobachtete mich über das Glas hinweg. “Die Stadtchronik, ja. Wie lange noch?”
“Ich stehe kurz vor dem Abschluss.” Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich für meine Arbeit interessierte. “Einige Studien noch, ein paar Wochen Arbeit am Manuskript und dann ...” Ich machte eine Handbewegung. “Ab dafür.”
“Ah ja.” Er hatte jemanden auf der anderen Seite der Bar entdeckt und nickte ihm zu.
Ich fand, seiner Entschuldigung war mit diesem Drink genüge getan und wollte aufstehen und mich verabschieden.
“Wissen Sie was”, sagte er. “Wieso schauen Sie sich nicht einfach meine Vorstellung an? Es wird Ihnen gefallen, glauben Sie mir.”
Damit lotste er mich mit demselben Elan, mit dem er mich hierher gebracht hatte, ins Odeon, in dem er eine halbe Stunde später auftrat.
Als die Vorstellung zu Ende war, herrschte hoffnungsloser Trubel in dem Theater. Alles strebte zu Ole Hansson, die Stimmung war euphorisch.
Für mich war das nichts, ich kämpfte mich gegen den Strom aus dem Theater hinaus, und weil es zu spät war zum Arbeiten, aber noch zu früh zum Schlafengehen, schaute ich noch auf einen einsamen Schluck in der Hotelbar vorbei.
Der zweite oder dritte Brandy sah dann, wie der Hocker neben mir zurückgezogen wurde und Ole Hansson sich lächelnd setzte.
“Wie fanden Sie es?”
“Ganz nett”, antwortete ich. Ich hatte noch nie den Hang zur Gaukelei verspürt.
“Ganz nett?”, schnaubte er. “Es war grandios! Einzigartig, die Leute haben mir zugejubelt. Kommen Sie, geben Sie zu, dass es Ihnen gefallen hat!”
Ich musste lächeln, er bestellte sich einen Brandy.
“Sie halten nicht viel von so etwas?”, fragte er mich.
“Nein.” Warum sollte ich lügen? “Wie Sie so treffend sagten: Ich schreibe Wissenschaftskram, da gibt es keinen Platz für Hokus-Pokus.”
“Keine Geheimnisse, was?” Er trank. “Ist das nicht ein trauriges Leben?”
“Es geht nicht darum, dass es keine Geheimnisse geben darf. Man muss nur versuchen, sie zu lösen. Wie haben Sie das gemacht, das mit dem Schlüssel unter Wasser?”
Er lachte. Von der Seite betrachtet, ohne seinen Smoking, sah er aus wie der Arbeitskollege, der auf ein Bier mitgekommen ist. Doch als er sich mir zuwandte und mich mit dem einen Auge anstarrte, ahnte ich etwas von der Traurigkeit, die in ihm wohnte.
“Ich kann Gedanken lesen”, sagte er trocken. Daraufhin winkte er dem Barkeeper und bestellte eine neue Runde.
“Ja, schon”, erwiderte ich. “Aber wie haben Sie herausgefunden, wo die Person den Schlüssel versteckt hat? Ich gehe davon aus, dass Sie den Mann nicht kannten, dass nichts abgesprochen war. Üblicherweise lesen Sie aus kleinen Gesten, was die Menschen verbergen wollen. Aber Sie hatten überhaupt keinen Kontakt zu dem Mann. Also, wie haben Sie das geschafft?”
Das Lächeln, mit dem er antwortete, war nicht mehr vergnügt. “Ich sagte doch, ich lese die Gedanken meiner Mitmenschen. Ich konnte sehen, was er dachte, als er sich den Schlüssel vorstellte. Ich sah in seinen Kopf.”
“Okay, das war‘s. Netter Abend. Ich danke dafür, auf Wiedersehen.”
Ich trank mein Glas leer, erhob mich und verließ die Bar, ohne mich umzudrehen.
Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich für dumm verkauft und Applaus dafür erwartet..
Einige Tage darauf trafen wir uns auf dem Flur. Er entschuldigte sich nochmals, obwohl er, wie er sagte, keine Ahnung hatte, wofür.
Er bat mich zu sich ins Zimmer. “Nur kurz, sprechen wir uns noch einmal aus.” Und so saßen wir dann zwischen Koffern und Taschen und sahen uns an.
“Ich reise ab”, sagte er. Er sah übernächtigt und gar nicht mehr so fröhlich aus. “Deshalb möchte ich reinen Tisch machen.”
Zwei Hotelpagen betraten schüchtern das Zimmer und begannen, Gepäck hinunter zu tragen.
“Was also hat Sie neulich gestört?”, fragte Hansson, als wir allein waren.
Ich stand auf und ging zum Fenster. Mit dem Rücken zu ihm sagte ich: “Ich mag es nicht, wenn man mich zum Narren hält.”
Jetzt lachte er auf. “Ah, daher weht der Wind, ich hätte es wissen sollen. Sie glauben mir nicht.”
Ich drehte mich um und sah ihn an. “Natürlich nicht. Was denken Sie.”
Er hielt meinem Blick stand.
Die beiden Angestellten betraten wieder das Zimmer und blickten Hansson fragend an. Unwirsch wies er auf zwei große Schrankkoffer, die vor der Tür zum Nachbarzimmer warteten.
“Warum stehen Sie nicht im Guinness-Buch der Rekorde?”, fragte ich, als die Beiden wieder hinaus waren. “Wenn Sie so ein Wunderkind sind, wenn Sie die Gedanken anderer Leute lesen, wenn Sie etwas können, was niemand kann, warum ziehen Sie dann als fahrender Gaukler durchs Land? Sie könnten Ihr Geld viel leichter verdienen. Warum melden Sie sich nicht bei Randy?” Ich setzte mich,
er beugte sich vor. Sein Alter war schwer zu bestimmen, aber er hätte mein Vater sein können. Behutsam legte er eine Hand in meinen Nacken und zog mich sanft zu sich heran.
“Bursche”, sagte er leise. “Meinst du, das ist eine Gabe? Denkst du, ich bin gesegnet damit, dass ich in anderer Leute Kopf schauen kann?”
Ich hörte ihn atmen, direkt an meinem Ohr. Unwillkürlich versuchte ich mich loszumachen, doch er zog mich nur noch fester zu sich.
“Meinst du, es ist ein Spaß, Tag für Tag die Gedanken all dieser Trottel hören zu müssen?”
Er sprach so leise, dass ich meinte, seine Stimme sei in meinem Kopf.
“All dies Zeug zu hören, diese dummen Gedanken ... Glaub mir, das ist nicht leicht.”
Er ließ mich los, ich bemerkte, dass die beiden Pagen wieder im Zimmer waren.
“Im Übrigen wäre ich für alle Welt der Freak”, sagte Hansson lauter. “Ich würde rumgereicht, begafft und untersucht. Denken Sie nicht, dass man Ehrfurcht hätte! Ich wäre die Dame mit dem Vollbart oder der Negersmann, ausgestellt auf dem Jahrmarkt.”
Ich räusperte mich, es fiel mir schwer zu sprechen. “Aber warum erzählen Sie mir das? Weshalb ich?”
Die beiden Angestellten waren diensteifrig ins Nachbarzimmer gegangen, um das dort stehende Gepäck zu verladen.
Hansson sprang auf. Mit einem Satz war er bei ihnen, herrschte sie an und trieb sie aus dem Raum. Mit hängenden Schultern schlichen die Beiden an mir vorbei.
Ich schloss mich ihnen an, nachdem ich mich hastig verabschiedet hatte.
Hansson rief noch etwas hinter mir her, doch ich konnte nicht verstehen, was es war.
Keine zwei Monate später erhielt ich einen Brief von ihm; weiß der Himmel, woher er meine Adresse hatte. Er teilte mir mit, dass er nicht mehr lange zu leben habe und dass er mich vor seinem Tod gern noch einmal sehen würde.
Ich fragte mich, wo der Grund dafür lag und kam zwangsläufig zu seinem Motiv, sich zu offenbaren. Warum hatte er mir erzählt, er könne wirklich und wahrhaftig die Gedanken anderer Menschen lesen?
Ich zog den beunruhigenden Schluss, dass er entweder ein großer Spinner war oder aber die Wahrheit sagte. Und wenn er die Wahrheit gesagt hatte – hypothetisch! – dass der Brief an mich die logische Folge war.
Wenn er wusste, was ich dachte, dann wusste er auch, dass ich ihn nicht verraten würde, dass ich, im Zwiespalt mit mir selbst, nicht entscheiden konnte, ob ich ihm glauben sollte. Und ihm musste klar sein, dass ich schließlich zusagen würde, ihn zu besuchen. Nur um herauszufinden, was stimmte und was nicht.
Beängstigend genug, diese Überlegung. Warum aber gab er sich solche Mühe, mich zu sehen? Warum sollte ich ihn besuchen?
Sämtliche Fenster der Villa waren zugehängt, als ich bei ihm klingelte. Das Haus hätte in seiner Größe mindestens zwei Kinderheimen Platz bieten können, so war ich überrascht, dass Hansson selbst mir öffnete.
Es war Mittagszeit, trotzdem erschien er im Morgenmantel in der Haustür und machte einen übernächtigten Eindruck. Als er mich sah, erhellte sich seine Miene ein wenig.
“Da sind Sie ja”, sagte er und trat beiseite.
Drinnen war es dunkel, ein Großteil des Hauses schien unbewohnt. Er führte mich durch die kalte Halle eine Treppe hinauf, deutete den Flur entlang auf ein Zimmer und meinte, er müsse sich noch einmal hinlegen.
So schlich er davon und als ich allein in dem Zimmer war, setzte ich mich auf das schwere Bett, um über seinen Zustand nachzudenken.
Sein Gesicht war eingefallen und faltig. Der Blick seines gesunden Auges war trüb und die Aura der Arroganz in seinem Wesen war verflogen.
Ich wollte einen oder zwei Tage bleiben, deshalb packte ich meine Reisetasche gar nicht erst aus. Ich stellte sie in den schweren Eichenschrank, zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Wenn Sonnenlicht eindrang, wirkte der Raum nicht halb so muffig.
Ich machte mich auf den Weg, das Domizil zu erkunden. Der Hausherr hatte sich zurückgezogen, sonst schien niemand hier zu wohnen. Ein vom Leben verlassenes Heim.
Hanssons Frau, das wusste ich, war im letzten Jahr verstorben. Ich hatte mich gewundert, dass dem Künstler, als wir uns getroffen hatten, kaum etwas anzumerken gewesen war. Es war bekannt, dass seine Frau und er eine sehr enge Beziehung geführt hatten.
Es war totenstill im Gemäuer, ich wagte kaum Luft zu holen. Hier schienen die Wände zu lauschen und jedes Geräusch tönte doppelt so laut wie ursprünglich.
Als Hansson erschien, saß ich draußen im ungepflegten Garten auf einer Bank.
“Kommen Sie rein”, sagte er mürrisch. “Wir wollen essen.”
Wer sollte hier etwas zubereiten, fragte ich mich, als eine zierliche, asiatisch aussehende Person aufgetaucht war und sich im Haus nützlich machte.
“Shi Lann”, sagte Hansson, während wir an der Tafel in einem phänomenalen Esszimmer Platz nahmen. “Sie kommt dreimal die Woche und wenn ich Besuch habe, hilft sie aus. Eine ausgezeichnete Köchin.”
Zumindest in diesem Punkt hatte Hansson Recht: Die Grönland-Garnelen auf Avocadocreme, die Poulardenbrust am Spinat und die Birnencreme mit Eisnocke zeugten davon. Wie hatte die Frau in kurzer Zeit soviel fertig kriegen können?
Allein, Hansson aß kaum etwas.
“Sie wissen, warum ich Sie eingeladen habe?” Der Tisch war abgeräumt, ich fühlte mich satt.
Er saß am anderen Ende des Tisches, sah mich an und lächelte versonnen. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Versuchte der Mann gerade meine Gedanken zu lesen?
Er lächelte weiter, schaute mich unverwandt an und sagte: “Glauben Sie mir jetzt, was ich Ihnen damals erzählt habe?”
Ich wollte den Kopf schütteln, stattdessen hielt ich nur seinem Blick stand.
Die Asiatin trat an seine Seite und zischelte ihm etwas ins Ohr. Er schaute auf und nickte dann leicht.
Daraufhin verließ die Kleine den Raum und kurze Zeit später hörten wir, wie die Haustür ins Schloss fiel. Wir waren allein.
“Wie ist Ihre Antwort?”, fragte Hansson in die Stille hinein. “Wollen Sie meine Geschichte aufschreiben?”
Ich wusste es nicht; mir war klar, dass ich soviel Egozentrik selten erlebt hatte. Andererseits hatte es natürlich seinen Reiz, in die Geheimnisse dieses Mannes einzutauchen.
“Weshalb stellen Sie Fragen, wenn Sie Gedanken lesen können?”, antwortete ich stattdessen.
Was, wenn er überzeugt war, in anderer Leute Hirn schauen zu können und sich dabei irrte? Wie konnte ich den Unterschied feststellen?
“Gehen wir ins Rauchzimmer.”
Er stand auf und während wir den Raum wechselten, sagte er: “Gut möglich, dass ich mir das alles nur einbilde.” Er lächelte immer noch. “Aber unwahrscheinlich.”
Ich blieb stehen und er holte zwei Cognacgläser aus einer Vitrine hervor, dazu eine Flasche. Er wies auf zwei Sessel vor dem Kamin und hielt mir eine Zigarrenschachtel hin. Doch ich konnte mich nicht setzen.
Verblüfft stand ich vor der einen Wand, an der unzählige Fotografien hingen, die nur eine Frau in verschiedenen Versionen zeigten.
“Morena”, sagte Hansson und prostete mir leicht zu. “Meine Frau.”
Die Abbildungen umfassten einen kleinen Zeitraum, keine zehn Jahre. Die Frau war jung und schön, doch trotz der Jugend bargen ihre Augen die Erfahrung eines reifen Menschen.
“Sie war sechzehn, als wir uns kennenlernten. Mit achtzehn hat sie mich geheiratet.”
Sein gesundes Auge erlangte Strahlkraft zurück.
“Mit vierundzwanzig starb sie. Der moderne Teufel Krebs.”
Was sollte ich sagen, es hätte sich alles falsch angehört.
“Die acht Jahre, die ich Morena kennen durfte, waren die entspanntesten meines Lebens. Ohne Frage war und ist Morena mein Lebensmittelpunkt.”
Ich hoffte, er würde nicht weinerlich werden, dass ich zu hören bekäme, er würde seiner Frau bald nachfolgen. Etwas in der Art.
“Ich werde Ihnen nicht erzählen, dass ich bald mit ihr vereint sein werde. Einfach deshalb, weil ich nie von ihr getrennt war.”
Das Feuer im Kamin knisterte, als würde es leise lachen. Die Nächte konnten jetzt wieder empfindlich kalt sein.
Ich nahm den Cognac vom Tisch und setzte mich ihm gegenüber.
“Wie haben Sie sie kennengelernt?”
“Sie war die Stieftochter meines Bruders. Wir standen uns nie besonders nahe, mein Bruder und ich. Er war immer der Bodenständige von uns, meinem Vater ähnlich. Zu seiner Hochzeit dann hatte er mich eingeladen, und dort traf ich Morena.”
“Ungewöhnlich, ein so junges Mädchen und Sie als ... reifer Mann.”
Er lachte.
“Morena war nie Kind, zumindest hatte ich den Eindruck. Sie war immer erfahrener als wir alle zusammen. In diesem Sinne war sie genauso Außenseiter wie ich selbst.”
Er sog an seiner Zigarre und hüllte sich in Qualm ein.
“Was meinen Sie, gibt es die ewige Liebe?”, fragte er schließlich. “Die immerwährende, über den Tod hinausgehende Liebe?”
Ich war wieder aufgestanden und besah mir noch einmal die Fotografien von Morena Hansson. Dabei hatte ich den Eindruck, sie wären in chronologischer Reihe aufgehängt, der Zeit folgend.
“Weiß nicht”, erwiderte ich, ohne mich umzuwenden. “Ich denke, da ist viel Folklore dabei. Ist das hier Morena, als Sie sich kennenlernten?”
Ich deutete auf ein ovales Bild, das links oben hing, und drehte mich um.
Er nickte.
“Dann dokumentieren die Reihen der Fotos hier all die Jahre ihrer Bekanntschaft und Ehe?”
“Das ist richtig”, meinte er abwartend.
Die Abbildungen gegen Ende der Reihen zeigten eine Morena, die krank wirkte, abgezehrt. Nicht so die letzte.
“Und das hier am Schluss, das Bild auf dem sie die Augen geschlossen hat ...”
“Ja?”
“Da ist sie ...?”
“Tot, ja.” Er schien zu lächeln. “Sind Sie schockiert?”
Morena sah auf diesem Bild erstaunlich frisch und gesund aus. Wenn man nicht wusste, dass sie tot war, hätte man meinen können, sie sei erleichtert über irgendetwas.
“Sie war der einzige Mensch, den ich je ins Vertrauen zog”, sagte Hansson.
“Sie meinen, sie wusste von Ihrer Fähigkeit?”
“Natürlich. Ich hätte es nicht vor ihr geheim halten können. Wissen Sie, zwei Menschen, die sich wirklich zugetan sind, verschweißt eine besondere Bande. Das kommt dem Gedankenlesen sehr nahe. Die Mutter spürt, wenn es dem Kind schlecht geht, Zwillingsgeschwister stehen ein Leben lang in besonderer Verbindung. Ich meine, Sie können das als naiven Glauben abtun, aber Sie können die Tatsache selbst nicht leugnen. Es gibt da etwas, das zwischen Wesen vorgeht, einen Strang.”
“Wie erklären Sie sich Ihr Können?”
Ich glaubte ihm immer noch nicht.
“Sie glauben mir immer noch nicht.”
Er stand auf. Nachdem er seinen Morgenmantel enger geschlungen hatte, legte er einige Holzscheite auf das Feuer, dann schenkte er jedem von uns nach. Schließlich setzte er sich mit leisem Stöhnen wieder in seinen Sessel.
“Wie erklären Sie sich Ihre Gedanken?”, fragte er mich. “Haben Sie jemals eine gute Theorie dafür gefunden, woher eine blendende Idee kommt oder wie diese zustande kam?”
“Nun, man nennt es Inspiration.”
“Ganz genau. Und die ist als solches nicht erforscht. Ich meine, wer weiß schon, was in unserem Gehirn vorgeht, wenn es arbeitet, wenn wir schlafen. Diese weiß-graue Masse, Ansammlung von Nerven- und Gliazellen, die da miteinander kommunizieren, Verschaltungen aufbauen und abreißen lassen.”
Er dozierte und ich hatte den Verdacht, dass er lange keinen Besuch gehabt hatte. Außerdem war ich müde. Der Tag war lang gewesen und ich fühlte mich wie erschlagen.
“Also gut”, sagte er. “Wir haben morgen mehr Zeit, es ist spät geworden. Ich werde noch etwas wach bleiben, Sie wissen ja, wo Ihr Zimmer ist. Gute Nacht.”
Ich sollte also für Ole Hansson den Biografen spielen; er hatte mich ausgewählt, und zwar damals schon, als wir uns das erste Mal begegnet waren. Vielleicht war ich ihm wegen meiner Gedanken aufgefallen.
Ich schlief schlecht. Nicht ungewöhnlich, immerhin war ich in der Fremde. Als ich Durst bekam – einen wirklich schlimmen Durst – stand ich auf und tapste hilflos durchs Haus. Amüsiert dachte ich bei mir, dass der Hausherr eigentlich zu Diensten sein und etwas zu trinken bringen sollte. Immerhin müsste er von meinem Verlangen wissen.
Ich fand die Küche, trank ein Glas Wasser und nahm mir eines mit aufs Zimmer.
Auf meinem Weg zurück fiel mir die perfekte Stille in diesem Hause auf; es war rein gar nichts zu hören. Eine unheimliche Ruhe. Dafür meinte ich einen feinen, absonderlichen Geruch wahrzunehmen, den ich nicht lokalisieren konnte. Auch war nicht sagen, worauf er schließen ließ.
Trotzdem mich dies beschäftigte, fiel ich in einen ruhigen Schlaf, der bis zum Morgen anhielt.
Ich war nicht erfrischt, als ich aufstand, aber dies war ein jungfräulicher Tag und das Sonnenlicht war Ansporn für neue Projekte.
Also legte ich meine Utensilien zusammen und wartete auf Hansson. Ich wollte mit den Aufzeichnungen beginnen, um möglichst schnell fertig zu werden, doch Hansson tauchte nicht auf. Er schien Langschläfer zu sein, vielleicht hatte dies auch mit seiner Krankheit zu tun. Denn ich ging davon aus, dass er krank war, hatte er doch geschrieben, bald sterben zu müssen.
So striff ich durchs Haus, bewunderte die schweren Möbel in der Halle und die Gemälde im oberen Flur.
Dann ging ich hinaus, das Wetter war schön, so dass ich den riesigen Garten erkunden konnte.
Zum Nachmittag dann erschien Hansson, er sah übernächtigt aus und machte den Eindruck, als hätte er geweint.
“Wir wollen beginnen”, sagte er ohne Begrüßung und ging ins Haus zurück. Er strebte hinauf in sein Arbeitszimmer, und ich war gezwungen, ihm zu folgen.
“Setzen Sie sich!” Ein Schreibtisch, an dem schon Bismarck seine Dekrete unterschrieben haben mochte. Er hockte sich mir gegenüber, Papier und Stift lagen bereit. Er hatte alles vorbereitet.
Also fingen wir an. Zwar plagte mich Hunger – ich hatte an diesem Tag noch nichts zu mir genommen – aber ich sagte nichts, vertröstete mich aufs Abendbrot.
Hansson begann zu erzählen, zunächst stockend, die Arme um den Körper geschlungen. Doch immer mehr öffnete er sich und es sprudelte aus ihm heraus, so dass ich kaum folgen konnte, mir Notizen zu machen.
Irgendwann nach zehn machten wir Schluss. Es war längst dunkel, mir tat die Schreibhand weh und auch Hansson wirkte erschöpft. Wir waren gut vorangekommen, er hatte mir von seiner Kindheit erzählt, von seiner Schwester, die früh starb und von den ersten Sätzen, die er hörte, obwohl niemand sprach.
“Sie müssen sich hier wie zu Hause fühlen”, sagte er, als wir ein improvisiertes Abendessen einnahmen. "Es geht mir oft nicht gut, so dass Sie sich hin und wieder selbst versorgen müssen. Sie wissen ja, wo die Küche ist, und haben auch sonst überall Zugang.”
Er verabschiedete sich, nachdem er zu Ende gegessen hatte und zog sich zurück. Mir blieb nichts, als dasselbe zu tun und zu versuchen, die Aufzeichnungen zu ordnen und einen ersten roten Faden zu finden.
Mitten in der Nacht wachte ich auf und meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Es war still, alle Töne schienen weggesaugt. Wie in der letzten Nacht.
Ich legte mich wieder hi, als ich hochfuhr und zu zittern begann: Ein Schrei, zweifellos. Ein menschlicher Schrei.
Ich sprang auf, schlüpfte in die Schuhe und knipste die Lampe an. Ganz deutlich hatte ich vernommen, dass der Schrei “Morena!” lautete. Als ich zur Tür war und sie leise geöffnet hatte, atmete der Flur dahinter nur mehr Stille. Kein Laut, keine Bewegung.
Aber ich war mir sicher!
Morgens dann, erschien es mir wie ein Traum.
Hansson war nirgends zu sehen, also nahm ich ihn beim Wort und suchte mir in der Küche etwas zu essen.
Die kleine Asiatin erschien im Laufe des Vormittags und füllte die Vorräte nach. Sie lächelte und schwieg, so dass ich annahm, sie würde mich nur schlecht verstehen.
Doch als ich meinen Kaffee getrunken hatte, fragte sie mich, ob sie die Tasse abwaschen könne – ohne jeden Akzent. Ich wurde mir meiner Vorurteile bewusst und schämte mich.
Ich fragte, wie lange sie schon für Hansson arbeite. Ein knappes Jahr, meinte sie.
Als ich mich nach Hanssons Krankheit erkundigte, antwortete sie, sie wisse davon nichts. Aber hatte sie nicht gehört, dass der Hausherr nicht mehr lange zu leben habe? Nein, davon sei ihr nichts bekannt.
Da kam ich mir dumm vor und als ich ihren fragenden Blick sah, hatte ich das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.
Hansson war schlecht gelaunt, als er auftauchte, Shi Lann war verschwunden und hatte Ordnung hinterlassen.
“Sie haben schlecht geschlafen”, sagte Hanssson mürrisch. “Ich spüre es.”
“Mir war, als hätte ich Stimmen gehört.”
“Das kann nicht sein.” Er sah mich nicht an. “Wir sind allein hier.”
Er wirkte abgespannt und genervt, aber nicht unbedingt krank.
Er blickte mich lange an, mit diesem einen, durchdringenden Auge. Dann seufzte er und sagte: “Wenn ich Ihnen schrieb, dass ich bald sterben würde, dann war das ernst gemeint.”
Eine gespannte Stille baute sich auf.
“Wollen wir arbeiten?”
“Ich brauchte lange, bis ich mit der Fähigkeit umgehen konnte.” Hansson lief auf und ab, während ich an seinem Schreibtisch saß.
“Wie muss ich mir das vorstellen – Gedankenlesen? Ist das Gehirn anderer Leute für Sie ein offenes Buch?”
“Ich habe mich nie damit abfinden können. Es war schwer, herauszufinden, was da so schlimm in meinem Kopf palavert.”
Er stoppte seinen Gang und zündete sich umständlich eine Zigarre an.
“Wissen Sie, alle Welt ist der Meinung, es wäre wichtig, neue Informationen aufzunehmen und zu speichern. Dabei ist es evident, unwichtige Informationen herauszufiltern. Und überlebenswichtig ist es, diese nutzlosen Nachrichten loszuwerden, aus dem Speicher zu löschen. Die wirklich relevanten Nachrichten zu trennen vom Wust unwichtiger Daten.”
Ich begann zu ahnen, worauf er hinauswollte.
“All der Faktenmüll, nutzlose Bits in Unzahlen. Jeder Gedanke, jede noch so winzige Idee, das Aufflackern des geringsten Impulses der Synapsen. Nichts ging an mir vorbei: Die Fragezeichen des Kindes an der Hand der Mutter, das Luftanhalten der Frau, wenn der fremde Mann sie anspricht. Ich bekam das leise Zucken der Nervenbahnen mit, wenn den Mann die Mücke stach; die unwillkürlichen Befehle an seine Muskeln, das Tier wegzuwischen. Alles, die kleinste Nuance in den Aktivitäten der Neuronen der Menschen bekam ich mit. Es war grausam.”
Er beugte sich über den Kamin und strich vorsichtig die Asche von der Zigarre.
“Zumal mir schnell klar wurde, dass ich diese Fähigkeit für mich behalten musste.”
“Niemand weiß davon?”
“Niemand, bis jetzt außer Ihnen.”
Er lächelte.
“Und Morena”, sagte ich.
“Ich hatte versucht, meiner Mutter davon zu erzählen. Die Eindrücke waren frisch, die Wahrnehmungen regneten auf mich herab, ohne dass ich mich wehren konnte. Ich weinte, als ich ihr davon schilderte. Sie drehte ihr Gesicht weg und sagte in eine andere Richtung: ‚Unsinn, was du da erzählst. Ole, sei nicht verrückt!‘ Sie gab mir einen Kuss, ohne mich anzusehen und verließ das Zimmer.”
Ich unterbrach das Schreiben.
“Hatte sie womöglich dieselbe Gabe?”
“Ich weiß es nicht. Ich habe nie wieder versucht, ihr davon zu erzählen.”
“Aber Morena haben Sie davon erzählt.?”
“Es war wieder einmal schlimm. Es kommt schubweise, Phasen, in denen ich weniger in der Lage bin, das nutzlose Gewäsch abzuhalten. Ich komme mir vor wie eine Mauer, die immer mehr nachgibt unter dem Anrennen der Horden. Ich fühlte mich krank und hilflos und habe Morena alles erzählt.”
Er stand mitten im Raum und starrte aus dem Fenster.
“Und wie hat sie reagiert?”
Er lächelte wieder. “Sie nahm meinen Kopf in ihre Hände und streichelte mich. Kein Geschrei, kein Staunen.”
“Morena.”
“Ja, Morena.”
Er setzte sich und ich beugte mich über die Notizen.
Weit nach Mitternacht zog ich mich schließlich zurück. Regen hatte eingesetzt, ums Haus strich Wind wie ein räudiger Hund.
Als ich endlich im Bett lag, schwirrte mir der Kopf von den Gesprächen mit Hansson. Nach und nach begann ich ihn zu verstehen, es gelang mir, eine Schicht auf die andere von ihm zu lösen. Allein, das Innere hatte er mir noch nicht dargeboten.
Die Lampe brannte, als ich erwachte, meine Notizen waren auf den Boden gerutscht. Es war halb drei und mein Mund war trocken wie ein Staublappen.
Das musste an der Luft liegen. Oder an diesem seltsamen Geruch.
Als ich den Gang entlang schlich, fiel mir auf, dass die Tür zum Schlafzimmer meines Gastgebers nur angelehnt war.
Im Erdgeschoss auf dem Weg in die Küche nahm ich hinter einer Tür eine Bewegung wahr. Ich ging darauf zu – sie lag am äußersten Ende des Flures – und schaltete die Taschenlampe aus.
Dort lauschte ich, die Stille schien mit einem Mal aus tausenderlei unterschwelligen Geräuschen zu bestehen, doch sie waren nicht fassbar.
So stand ich im Dunkeln mit dem Ohr am Holz und versuchte, nicht zu atmen. Kein Ton, trotzdem war ich sicher, etwas gehört zu haben. Außerdem leuchtete ein schwacher Lichtschein unter der Tür hervor. Jemand befand sich auf der anderen Seite.
Vorsichtig griff ich zur Klinke und presste sie hinunter. Mit sanftem Druck ließ sie sich bewegen, doch bevor ich die Tür öffnen konnte, ertönte ein Stöhnen von drinnen. Ich zuckte zurück.
“Gehen Sie!”, rief jemand.
Ich hastete davon.
Als ich im Bett lag – an Schlaf war nicht zu denken – fiel mir ein, dass ich noch immer nichts getrunken hatte. Doch ich stand nicht mehr auf, ich warf mich unruhig und voller Fragen von einer Seite auf die andere.
Am Morgen dann dasselbe Bild wie schon vorher, der Hausherr war nicht zu sehen, seine Schlafzimmertür fest verschlossen. Die Frage, was er des Nachts in diesem bestimmten Zimmer tat, ließ mir keine Ruhe.
Ich ging schließlich in die Stadt und kaufte Lebensmittel, um mich zu revanchieren für Kost und Logis. Hansson schien es nicht zu bemerken.
Wir arbeiteten abends, bis spät in die Nacht. Dann saßen wir meist auf ein Glas Cognac, eine Zigarre und ein paar Gedanken beisammen, bis ich mich zurückzog in mein Zimmer. Für Hansson schien dann erst der Tag zu beginnen; ich bemerkte, wie er auflebte, er bekam wirklich Farbe.
Doch ich wusste nicht, was er trieb, während ich schlief. Ich wagte nicht zu fragen und ich scheute mich davor, ihm hinterher zu spionieren. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich versuchte, meine Gedanken vor ihm zu verbergen. Doch ich wusste, die meiste Zeit hielt er sich abgeschottet.
“Millionen kleine Vögel, die an einem Körnerkolben picken, so fühlt es sich an.”
Er erzählte viel von Morena und noch mehr von seinem Leiden.
“Wissen Sie, schlimm ist es in der Nähe von Krankenhäusern.”
Ich konnte die Feder übers Papier kratzen hören, und auch, wie sie abrupt stillstand.
“Hospitäler, Altenheime, Sanatorien – der Schmerz ist universal. Dagegen kann ich mich nicht schützen. Die Gedanken sind so rein, so klar und nur auf eines konzentriert. Morena wurde schwächer und es ließ sich nicht vermeiden, sie in eine Klinik zu bringen. Medizinische Geräte waren vonnöten. Als wir hinfuhren ... ich war nicht darauf gefasst. Als würden sich tausend Hände zu mir recken und um Hilfe betteln.”
Er setzte sich, stützte seine Hände auf die Knie und hing für einen Augenblick seinen Gedanken nach.
“Dabei ist es sonst anders. Wissen Sie, was das vorherrschende Wort ist in dem Gedankenmeer, das mich umtost?”
Ein wenig vom alten Trotz erschien in seinem Blick. “,Ich‘!”, sagte er. “Es geht nur um das ,Ich‘, ,meins‘, mir. ,Ich‘, ,mich‘!”
Mir war nicht klar, ob ich mitschreiben sollte.
“Ganz selten hört man “,Wir‘, schon gar nicht ,Ihr‘ oder ,Euer‘. Außer, es geht um Schuldzuweisungen. Wir alle auf dieser Welt, Sie und ich, alle, wir sind jeder für sich ein abgeschlossenes Universum, abgeschottet und einsam dahintreibend. Eine Welt voll unzähliger kleiner Welten. Nur manchmal, sehr sehr selten, gelingt es zwei dieser Blasen, sich zu vereinen, zu einer zu werden und gemeinsam durch dies Jammertal zu treiben.”
Ich schrieb nicht mit, wenn ich diese Worte nutzen wollte, konnte ich sie später aus dem Gedächtnis notieren.
“Wenn man dann wieder getrennt wird ...” Hanssons Stimme kippte. “Ist es um so schlimmer.”
Ich interessierte mich mehr und mehr für das Zimmer, in dem Hansson die Nächte verbrachte. Es fiel auf, dass der seltsame Geruch dort herstammen musste; obwohl ich ihn immer noch nicht deuten konnte, ahnte ich doch eine Richtung. Es war ein chemisches Aroma, das aus dem Zimmer drang, ein künstlich erzeugter, strenger Hauch.
Ich wagte nicht, Hansson nach dem Zimmer zu fragen, also wartete ich bis Shi Lann wieder Dienst tat und sprach sie darauf an.
Sie sah mich mit glänzenden Augen an und gab mir zu verstehen, dass dieser Raum Morenas gewesen und niemandem der Zutritt erlaubt war.
Ich durchstriff das Gebäude, die Dunkelheit war Leere, kein Mensch im Haus, außer – das fühlte ich – in Morenas Zimmer. Ich fragte mich, ob man Finsternis spüren kann.
Mein Kopf war ein Bollwerk, die Gedanken Gefangene. Niemand konnte helfen, außer Hansson selbst.
In jedem Gespräch, mit jedem Thema schien er mich darauf deuten zu wollen: Morenas Zimmer. Das Geheimnis von Ole Hansson, sein Innerstes, das Elixier befand sich im ehemaligen Domizil seiner Frau.
Der Raum war Zentrum und Mittelpunkt dieses Hauses, und in der Folge schien ich mich wie ein Tropfen im Becken mit Macht immer näher an den Abgrund zu bewegen. Der Mahlstrom.
Das gesamte Gemäuer war schwarz, nur aus einem Raum drang Licht, ein schmaler Spalt. Es war wie eine Einladung.
Mit der Sicherheit des Träumenden strebte ich darauf zu; koste es, was es wolle, ich musste wissen, was dahinter war.
Das Licht hatte einen behaglichen Schein, es war warm und einladend.
Ich sah, wie sich meine Hand auf die Klinke legte und der Tür einen sanften Stoß gab. Der Eingang öffnete sich, das Holz zerteilte die Luft, der Blick wurde frei auf das Innere des Zimmers.
Das Inventar – liebevoll ausgesucht und drapiert, die Atmosphäre – behaglich. Es schien, als wäre das Zimmer bewohnt.
Hansson war anwesend, er saß in einem Sessel, den Morgenmantel nachlässig übergeworfen und schien zu schlafen.
Vor ihm stand ein großes Bett, und als ich sah, was darauf lag, musste ich mich umdrehen. Ich blickte noch einmal hinein, es war kein Zweifel möglich.
Er hält ihre Hand, dachte ich erschüttert. Er streichelt sie. Oder was davon übrig ist.
Ich lief davon, durch den Gang und dann die Treppe hinauf in mein Zimmer. Es war unmöglich, dass er mich nicht gehört hatte
Am Morgen war er zeitig wach und wir frühstückten gemeinsam, was noch nicht vorgekommen war. Ich war aufgewühlt und sicher war es mir anzusehen. Hansson hingegen sah so müde aus, als käme die Erschöpfung von innen.
Nervös kaute ich an meinem Toast und vermochte nicht, ihn aus den Augen zu lassen, als er sagte: “Was werden Sie über mich schreiben?”
“Wie bitte?”
Eine Frage, die ich nun gar nicht erwartet hatte. Der Mann wusste, dass ich sein Geheimnis gelüftet hatte, dass ich in sein innerstes Refugium eingedrungen war. Streng genommen hatte er es für mich geöffnet.
Was sollte ich sagen, ich hatte immer wieder das Bild vor Augen: Die Familie – glücklich vereint, Hansson, der alles zusammenhielt.
Und dieser furchtbare, schrecklich egozentrische Mensch war nur daran interessiert, wie ich ihn für die Nachwelt darstellte.
“Sie haben nichts begriffen!” Ich hatte nicht bemerkt, dass er mich anstarrte. Traurig und in sich versunken ruhte sein Blick auf mir.
Ich hörte auf zu kauen, eine Idee durchzuckte mein Hirn. Ich konnte sie nicht fassen, aber die Spur davon blieb zurück.
Hansson hatte seine tote Frau bei sich behalten, er hatte sie aufgebahrt und Nacht um Nacht an ihrem Bett gesessen. Er hatte sie sogar auf Reisen mitgenommen.
“Keine Geheimnisse”, sagte er lächelnd.
Er hatte neben ihr gesessen.
“Nur mit ihr bin ich Mensch.”
Ihre Hand gehalten und die Augen geschlossen.
“Ich hätte nicht überleben können ohne Morena.”
Morena Hansson war auf gewisse Weise immer noch schön. Trotz des Verfalls und der Schwäche des Fleisches, der Auflösung, die auch mit chemischen Mitteln nicht aufzuhalten war.
“Es war jedes Mal die Hölle, von ihr getrennt zu sein.”
Hansson saß und hielt die Hand seiner Frau. Er hatte die Augen geschlossen.
“Es brauchte eine Zeit, bis Sie verstanden. Ein wenig Überzeugung.”
Der Gedanke – die Idee!
Hansson sah mich erwartungsvoll an.
Die Augen geschlossen, ebenso sie. Volle Konzentration.
“Sie stehen in Kontakt mit ihr”, sagte ich entsetzt.
Er nickte.
“Sie können noch immer ihre Gedanken lesen. Ihre Frau ...” Ich musste aufstehen, dabei riss ich einen Teil des Geschirrs zu Boden. “Ihre Frau hat noch immer Gedanken!”
Ich stolperte aus der Küche, Hanssons Miene war Bestätigung. Keuchend erreichte ich mein Zimmer. Ich zitterte am ganzen Körper und die Lungen zogen sich mir zusammen.
Hastig knallte ich meinen Koffer aufs Bett und warf die wenigen Sachen hinein, die fehlten. Das Gefühl der Bedrängung verstärkte sich, ich rannte zum Fenster, riss die Vorhänge auseinander. Das Licht strömte herein und breitete sich aus wie eine Armee. In diesem Moment ertönte ein Schuss.
Nicht laut, aber ich hörte ihn so deutlich, als wäre er neben mir abgefeuert worden.
Ich stürzte zur Tür und eine Etage hinab. Es war noch immer dunkel im Haus, nur aus ihrem Zimmer drang Licht.
Stille drinnen, wie auf einem Friedhof.
Ich betrat Hanssons Refugium, Morena war da, Hansson.
Morenas Mund – eine Öffnung in zerfallendem Fleisch.
Hansson lag neben ihr, das Loch in seinem Schädel kaum zu erkennen, die Pistole war auf den Boden gerutscht.
Auf dem Sessel neben dem Bett lag ein Zettel mit einem kurzen Satz, dessen Inhalt mich bis heute verfolgt:
“Es ist vorbei, ihre Gedanken sind versiegt!”