Das Läuten der Glockenblumen - Teil 3 - Geistesblitze
Das Läuten der Glockenblumen
Teil 3
Geistesblitze
Der Main war trüb vom Regen und der Regen trüb vom Schmutz, den er aus der Luft wusch. Gregor Wallzeck saß, wie stets einmal im Monat, bei Susanne im Sekretariat, durchblätterte Unterlagen, die ihm jedes Mal aufs Neue kalte Schauer über den Rücken laufen ließen.
„Also waren das nun Werbungskosten oder nicht, Gregor?“, fragte Susanne und blätterte ihrerseits in Unterlagen.
„Liebe Zeit, ich habe keine Ahnung! Wir waren eben auf dem Kongress!“, erwiderte er gequält und gestikulierte matt dabei.
„Du, es ist nicht mein Geld, dass wir nicht wiederkriegen.“ Susanne lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, als die Türe aufgestoßen wurde draußen, das Rauschen des Regens kurz lauter wurde und endlich abgelöst von einer ins Schloss schnappenden Türe und schließlich Michael. Er schlug direkten Weg zu den beiden anderen ein, klaubte dabei das tropfnasse Regencape von den Schultern und schüttelte sich.
„Ein Sauwetter da draußen, kann ich euch sagen. Sitzt ihr immer noch an der Steuererklärung?“
Susanne schnaubte und Gregor brummte missmutig.
„Was treibst du dich auch draußen rum?“, wandte Gregor sich zäh seinem Assistenten zu und musterte die Spur nasser Abdrücke, die von Michael aus bis zur Einganstüre führten.
„Ich war im Buchladen“, erwiderte der Jüngere, fasste in die Innentasche seines Mantels und förderte eine CD zu Tage.
„Wegen einer CD rennst du da raus?“, fragte Susanne.
„Das ist nicht irgendeine CD!“, ereiferte sich Michael. „Das sind-“
„Die Borley-Aufzeichnungen?“, fiel Gregor ihm ins Wort, als er das Cover identifiziert hatte, streckte die Hand nach der CD-Hülle aus und nahm sie von Michael entgegen.
„Hättest du was gesagt. Ich habe das Ding hinten.“
„Na ja, dachte ich mir schon, aber ich wollte eine eigene haben. Du verstehst schon“, antwortete Michael und grinste wie ein kleiner Junge an Weihnachten.
„Borwas? Ist das Techno?“, bemühte Susanne sich, innerhalb der Konversation zu bleiben.
„Was?“ Michael drehte sich zu Susanne und betrachtete die Frau einige Momente komplett befremdet. „Das sind die Aufzeichnungen aus Borley!“
„Angeblich“, kommentierte Gregor, den Blick auf die Beschreibungen auf der Rückseite der Hülle gerichtet.
„Hä?“, stieß die Sekretärin hervor und hob die Hände.
„Ach, komm, angeblich! Du weißt so gut wie ich, dass dort mindestens akustische Phänomene eindeutig vorhanden waren oder sind! Meinetwegen lasse ich über die personifizierte Erscheinung bei der Rectory mit mir reden, aber die Aufnahmen aus der Borley Church sind doch eindeutig echt!“, erklärte Michael im Brustton der Überzeugung und stemmte eine Hand in die Hüften.
Gregors Blick wanderte zu seinem Assistenten, von diesem weiter zu Susanne.
„Halloho?“, gab die soeben zu Gehör und brachte damit Michael dazu, sich wie aus Gedanken gerissen zu ihr umzusehen.
„Wärst du wohl so freundlich?“, forderte Gregor mit einer flachen Geste auf und deutete in Richtung Susanne.
Michael seufzte tief auf, wandte sich ganz der Sekretärin zu und setzte an:
„Also. Die Borley Rectory gilt schon seit den frühen siebziger Jahren als einer der vielversprechendsten lokalen Fokusse von telekinetischen, akustischen, insgesamt also grundsätzlich sogenannten nonphysical Phänomenen in Europa.“
Susannes Gesichtsausdruck wandelte sich allmählich von fragend zu vollkommen ratlos und irgendwann landete ihr Blick hilfesuchend auf Gregor, der daraufhin Atem holte und Michael unterbrach:
„Die Borley Rectory – also das Pfarrhaus von Borley – wurde, wenn man den Berichten glauben will, seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von Geistern heimgesucht. Sie ist abgebrannt in den Siebzigern. Angeblich soll es selbst in den Ruinen noch gespukt haben“, berichtete er und Susanne lehnte sich etwas vor, hörte aufmerksam zu.
„Heute steht nur noch die Kirche auf demselben Grundstück und inzwischen glauben einige, dort wäre mehr los als in dem Pfarrhaus je zu holen war. Es gibt diverse Tonbandaufnahmen, auch von Touristen, die angeblich aus der Kirche stammen sollen.“
„Und was ist da drauf?“, fragte Susanne. Michael hatte sich inzwischen halb beleidigt halb erleichtert an die Wand zurückgezogen und sich dagegen gelehnt.
„Klopfen, Schritte, Stimmen“, antwortete Gregor und betrachtete abermals die Hülle.
„Geht das Ding?“, mischte sich Michael ein, griff Gregor im Vorübergehen die CD aus den Händen und hielt damit auf den älteren CD-Player zu, der seitdem er mit Gregor zusammenarbeitete unbenutzt hinter Susanne auf einem Sideboard seinen Platz hatte. Susannes Blicke folgten dem Kollegen fragend und Gregor faltete die Hände im Schoß.
„Mein Gott ist das lange her. Bin ich wirklich schon so alt?“, murmelte Wallzeck und beobachtete, wie Michael die Knöpfe studierte, sich orientierte und schließlich einen davon betätigte, woraufhin ein kleines, grünes Lämpchen die Betriebsbereitschaft des Gerätes anzeigte. Leise surrend fuhr der Schlitten aus, fasste die CD und zog sie in den halb überholten Mechanismus zurück.
„Jetzt bleib auf dem Teppich, du bist siebenunddreißig!“, murrte Susanne.
„Meine Damen und Herren, die Borley Aufzeichnungen!“, unterbrach Michael halblaut, etwas zu gedeckt, zu ehrfürchtig vielleicht, drückte den Knopf mit der Aufschrift „Play“ und beeilte sich, zwei Schritte zurück zu weichen und sich dort dann einfach auf dem Boden nieder zu lassen.
Gregors Augen wurden schmal, der Blick blieb an der giftgrünen kleinen Anzeige hängen, die das sekündliche Fortschreiten der Vorstellung anzeigte. Susanne atmete hörbar in die entstandene Stille hinein.
Das Knistern einer Blindaufzeichnung wisperte aus den Boxen. Gregors Blick schwenkte hin zum schwarzen Bespann darauf, stach hinein, als wollte er den Klang herausdrücken, zwingen, jagen. Susannes Mimik verlor sich in angestrengter Entspannung. Ihr Blick verlor sich zunehmend. Am Boden saß Michael, die Beine im Schneidersitz übereinandergelegt und starrte vor sich durch das Laminat. Dann begann es. Ein leises Knacken. Im Grunde Nichts. Dann ein Schleifen von Holz auf Holz. Ein Schlag, als irgendetwas zu Boden fällt.
„Ich verstehe das nicht“, wisperte Susanne, leise genug um nichts zu versäumen. „Was sind das für Geräusche?“
Gregor reagierte nicht auf die Frau, verlor sich zunehmend in leisen Klopfgeräuschen, die in dumpfem Rauschen aus den Boxen dröhnten. Michael war es, der nach einigen Sekunden den Kopf zu Susanne drehte.
„Es war niemand da, als diese Geräusche aufgenommen wurden. Die Kirche war hermetisch abgeriegelt“, sagte er und die Sekretärin schlang spontan die Arme um sich, als würde ihr kalt. Eigenartige Stille begann in den Raum zu fließen, höher und höher zu steigen, Wellen zu schlagen vom Klopfen, Rauschen und Kratzen, das aus der Anlage drang. Irgendwann rhythmischer, gedämpfter. Schritte auf Teppich. Susannes Blick zog abermals zu Michael und der erwiderte ihn nicht, spürte ihn wohl, als er selbst die Augen schloss und die stumme Frage beantwortete:
„In der Kirche liegt kein Teppich. Kein einziger.“
Die blonde Frau begann sich die Oberarme zu reiben, hob den Blick zur Decke hinauf, gewissermaßen misstrauisch. Aus der Anlage klang kurze Stille, dann wieder ein Rumpeln, als fiele irgendetwas um.
„Wieso hat man nie Kameras mit aufgestellt?“, murmelte sie, beinahe mehr zu sich.
„Keine Kamera, die man in der Kirche aufgestellt hat, während solcher Aufnahmen, hat es überlebt“, erwiderte Michael, ohne die Augen zu öffnen.
„Aber wieso ist dann das Tonband da nicht kaputt gegangen?“ In Susannes Blick formierte sich Vernunftwiderstand gegen das Knacken und Knirschen im Rauschen der CD.
„Zwei von zehn Tonbändern bleiben im Schnitt heil“, bekam sie zur Antwort und Michael öffnete die Augen, sah zu ihr hin.
„Meins hat es damals auch zerlegt“, warf Wallzeck leise ein, ohne den Blick von den Boxen zu nehmen und spielte mit den Fingern der rechten an denen der linken Hand. Michaels Blick legte sich auf Gregor und schimmerte kurz in tiefer Ehrfurcht. „Ich wusste nicht, dass du in Borley warst“, sagte er.
Es knisterte, rauschte, knackte. Kurz blieb nur das Rauschen des Rekorders. Dann ein Schleifen, ein Entlangkratzen an Stein. Ein dumpfes Aufschlagen.
„Schalt es aus!“ Gregors Stimme war leise. Er richtete sich im Sitzen auf.
„Was?“, fragte Michael nach, als hätte er nicht richtig verstanden. Susannes Blick hatte zu Wallzeck gefunden und Beunruhigung stand darin. Ihre Finger tasteten im Affekt nach ihrem Kugelschreiber auf dem Schreibtisch.
„Schalt es aus. Und setzt dich wieder“, wiederholte der andere seine Aufforderung angespannt.
Michael zögerte, schüttelte mit krauser Stirn den Kopf, schaffte sich aber doch ins Stehen auf und schaltete kurzerhand die ganze Anlage aus. Die Lämpchen, die Anzeigen verloschen. Stille.
„Wenn´s dir langweilig ist, dann sag das doch!“ Michael war sichtlich verstimmt über den abrupten Abbruch, als er nun aber endlich dazu kam, Gregor anzusehen, stutzte er. „Alles in Ordnung?“
Susanne drehte den Kugelschreiber in den Fingern, wurde zunehmend unruhig auf ihrem Stuhl und sah zwischen den Männern hin und her.
„Hast du das nicht gehört?“, fragte Wallzeck seinen Assistenten.
„Was?“, erwiderte der ratlos.
„Der Schlag. Der Letzte.“
„Was war damit?“ Michael hob die Hände, gestikulierte seine Unverständigkeit.
„Das kam nicht von der CD, Micha“, antwortete Gregor halb ungeduldig.
Susanne weitete die Augen, schlang die Arme erneut um sich und ihr Blick begann von Gregor zur Zimmertüre, von dort zur Decke und schließlich zur zweiten Türe zu springen, die zu den anderen Büros führte. Der jüngere der beiden Männer sah sich verdutzt nach der Decke um, ein eigenartiger Reflex, den er sich selbst im gleichen Augenblick übel nahm und brachte sich räuspernd in eine Sitzhaltung, die er selbst als wissenschaftlich empfand.
„Willst du sagen, wir haben etwas im Haus?“, erkundigte er sich.
„Ich will sagen, irgendetwas ist im Obergeschoss grade umgefallen. Nicht mehr und nicht weniger. Susanne, nimm dir den Rest des Tages frei, wir machen die Erklärung morgen fertig.“
Die junge Frau nickte dankbar und machte sich in übereilter Sorgfalt daran, ihren Tisch aufzuräumen, ihre Sachen einzupacken und schließlich ihre Jacke über zu werfen.
„Dann bis Morgen“, verabschiedete sie sich unter hilflosem Auflachen. „Und lass mir diesen Blödsinn dann ja zu Hause!“
Die Tür fiel hörbar hinter ihr ins Schloss. Wallzeck betrachtete eine kleine Weile seine Hände, sah dann zu dem andren hinüber, der mit undurchsichtiger Miene noch immer am Boden saß.
„Haben wir was im Haus?“, wiederholte der seine Frage.
„Japp“, erwiderte Gregor schlicht und sah nun seinerseits zur Decke. Der Blick des andren folgte.