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Das Läuten der Glockenblumen - Teil 1 - Blindgänger
Das Läuten der Glockenblumen
Teil 1
Blindgänger
Elfriede Reichmann, die Besitzerin des romantischen kleinen Landhotels „Eichenhof“, war Mitte fünfzig, rundlich und sichtlich einem Nervenzusammenbruch nahe, als der dunkelblaue Skoda unter Kiesknirschen auf dem Gelände vor den Gebäuden ins Stehen kam. Ihre Finger knitterten ein Papiertaschentuch wieder und wieder, während die faltenumsäumten braunen Augen dem Öffnen der Wagentüren folgten, dem Aussteigen erst des Größeren, dann des Kleineren der beiden Männer und schließlich deren Näherkommen, gradewegs auf sie und das Gemäuer zu.
Im Herbst wirkte der Hof und die angrenzenden Wiesen mitunter trostlos. Die Gerippe der Birken hinter dem Haus wie der alten Eiche davor charismatisierten stabile Hoffnungslosigkeit. Fahrig strich Frau Reichmann eine graue Strähne aus der Sicht und richtete sich in eine noch immer leicht gebeugte Haltung auf. Der größere der beiden Männer schloss im Gehen seinen Mantel, der Jüngere beeilte sich, aufzuschließen und als endlich beide knapp vor dem Treppenaufgang zum Haupthaus stehen blieben, flog der Blick des Älteren über das Gebäude, während er nebensächlich feststellte:
„Mein Name ist Gregor Wallzeck. Sie haben um einen Ortstermin gebeten. Worum genau handelt es sich?“
Von der unmotivierten Sachlichkeit des Gesagten verwirrt, zuckte der Blick der Frau nach dem jüngeren Mann bei Wallzeck und veranlasste diesen so just dazu, sich mit einem angedeuteten Zunicken ebenfalls vorzustellen:
„Michael Gerber. Ich assistiere Herrn Wallzeck.“
„Nun,“ fand Elfriede zäh zu ihrer Verzweiflung zurück, „ich bin ja nicht gebildet in so was. So was gibt es eigentlich gar nicht bei uns! Wir sind ja katholisch!“
„Frau Reichmann, ihre Konfession ist mir egal und ihm, wenn es denn da ist, vermutlich auch“, fuhr Wallzeck der Frau ins Wort und nun fand tatsächlich auch ihre Erscheinung kurz sein Augenmerk. „Was genau ist ihr Problem und wie, wann und wie oft ist es aufgetreten?“
Die schmalen Lippen der Frau schlossen sich. Sie schluckte den Rest ihrer Ausführungen sichtlich und wörtlich und fasste sich:
„Die Treppe. Jede Nacht höre ich Schritte auf der Treppe! Erst gehen sie hinauf, dann hinunter. Manchmal zwei oder auch drei Mal. Und einmal habe ich es auch auf der Kellertreppe gehört!“
Der junge Mann, der sich als Assistent vorgestellt hatte, zückte einen kleinen Notizblock und begann damit, sich eifrig das Gesagte zu vermerken. Wallzecks Blick derweil festigte sich auf der Kundin und seine Augen wurden schmal.
„Also haben Sie nichts gesehen und, außer diesen Schritten, wie Sie es nennen, auch nichts gehört? Keine Klopfgeräusche, keine sich öffnenden Türen oder Schränke, keine schwebenden Gegenstände und keine sonstigen, gleichwie gearteten Absonderlichkeiten?“, hakte er nach.
„Nein. So was alles nicht“, erwiderte die Befragte stutzend.
Aus dem Hintergrund wisperte Gerber seinem Chef zu: „Materialbedingte akustische Deformationsreaktion nach atmosphärischen Schwankungen?“
Wallzeck nickte. „Vermutlich.“
Frau Reichmanns Blick pendelte ahnungslos zwischen den beiden Männern hin und her, bis Michael Gerber sich erbarmte zu erläutern: „Das bedeutet, dass vermutlich das Holz arbeitet.“
„Was?!“, gab Elfriede Reichmann halb empört halb verdutzt zurück.
„Die Atmosphäre in Wohnräumen ist nie konstant“, setzte Wallzeck nun an. „Temperatur und Luftfeuchtigkeit verändern sich. Und Holz reagiert auf diese Veränderungen, indem es sich ausdehnt oder zusammenzieht. Das verursacht Geräusche. Und diese Geräusche werden von entsprechend konstituierten Personen mitunter als Schrittgeräusche missdeutet.“
Reichmann schnappte nach Luft und stemmte die Hände in die Hüften. „Missdeutet? Soll das heißen, ich bilde mir das alles ein?“
„Nicht doch, Frau Reichmann!“, brachte Gerber sich ein und hob schlichtend den Notizblock. „Natürlich hören Sie etwas. Die Geräusche sind ja da. Aber es ist eben nur das Holz und nichts, na ja, Beunruhigendes.“
Während der junge Mann noch sprach, drehte Wallzeck mit knirschenden Schritten ab, den Blick am Gemäuer empor und ging gemächlich an der Außenmauer entlang. Seine Aufmerksamkeit galt den Fenstern. Der Art, wie sie den trüben Himmel spiegelten und den teils erahnbaren Vorhänge und Gardinen dahinter. Das kleine, halbrunde Fenster des Dachbodens ganz zu oberst, hinter dem weder weiße Spitze, noch unmodisch grüne Stoffe zu erkennen waren. Nur Schwarz. Leeres, mattes Schwarz.
„Michael, wir fahren“, wies er den anderen an, ohne den Blick von dem kleinen schwarzen Loch zu nehmen.
Die Frau öffnete den Mund und starrte fassungslos Wallecks Rücken an. Gerber seinerseits nickte und der Notizblock verschwand in der Innentasche seines Lodenmantels.
„Für Sie fallen lediglich die Wegekosten an. Eine entsprechende Rechnung bekommen Sie in ein paar Tagen von uns“, erklärte er der Fassungslosen lächelnd.
„Aber!“, stieß jene hervor.
„Frau Reichmann, da ist kein Gespenst in diesem Haus“, erklärte Wallzeck genervt und drehte bereits in Richtung Wagen ab. „Wenn die Geräusche Sie derart stören, lassen Sie eine Steintreppe einbauen.“
„Aber?“, stammelte Frau Reichmann abermals und sah den Jüngeren der beiden wie hilfesuchend an.
„Frau Reichmann, es ist alles in Ordnung mit Ihrem Hotel. Wirklich. Wir können hier nichts tun. Alles Gute“, sagte Gerber, schenkte der Frau noch ein Lächeln und beeilte sich dann, zum Wagen zu kommen, während Wallzeck schon aufschloss, einstieg und den Motor startete. Elfriede Reichmann blieb auf dem Treppenabsatz vor dem kleinen Hotel zurück, starrte wie vom Donner gerührt dem Wagen nach, bis er um die kleine Biege hinter dem Hügel verschwand. Dann erst riss sich der Blick los, fiel auf die beiden Taschentuchhälften, die sie je in einer Hand hielt, die Brauen zogen sich zusammen und schließlich drehte sie kopfschüttelnd ein und verschwand in der Türe.
„Woher weißt du, dass da nichts ist? Nur weil da auch eine Holztreppe ist, muss das doch nicht heißen, dass nichts anderes da ist, oder?“, murmelte Michael halb zu sich selbst, halb seinen Notizen zu, die er durchblätterte. Kuhweiden und kahle Bäume zogen draußen vorbei, ab und zu ein Wagen auf der Gegenfahrbahn.
„Erfahrung“, erwiderte Gregor schlicht und atmete durch. „Leute bilden sich gerne Dinge ein, wenn sie erst mal davon überzeugt sind, dass irgendetwas Unheimliches vor sich geht.“
„Versteh mich nicht falsch, Gregor, ich bin mir ziemlich sicher, dass du Recht hast, weil du immer Recht hast mit solchen Dingen. Aber wenn du es ein kleines Bisschen freundlicher formulieren könntest, dann würden die Kunden auch nicht so uneinsichtig reagieren.“
Der andere brummte ungehalten, sah sich über die Schulter zur Seite hin um, betätigte den Blinker und bog auf den Autobahnzubringer ein.
„Wenn du das mal so lange machst wie ich, vergeht dir die Freundlichkeit auch irgendwann. Ich hatte siebenundneunzig in Schwerin eine Familie mit zwei Kindern, die alle beschworen haben, es würde in Ihrer Küche spuken. Die ließen nicht locker! Drei volle Wochen habe ich das Haus observiert. Nichts, aber auch wirklich gar nichts.“
Michael runzelte die Stirn. „Ja und dann?“
„Dann stellte ein Kinderarzt zufällig fest, dass die Kleinen unter Drogen standen. Riesen Tamtam mit Jugendamt und Polizei – kannst du dir vorstellen, denke ich.“
Die Brauen des Jüngeren hoben sich.
„Am Ende war es so banal wie bescheuert: Die Familie hatte eine Freigängerkatze. Das Haus lag nicht weit von einem alten Industriegebäude in dem irgendwelche Drogendealer scheinbar ihr Lager eingerichtet hatte. Die Katze ist durch irgendein Schlupfloch rein, fröhlich durch das LSD gelatscht und dann zurück nach Hause. Die komplette Familie war dauerhigh. Wahrscheinlich kann man es noch als glimpflich bezeichnen, dass sie nur Gespenster gesehen haben.“
„Du verarschst mich?!“, platzte es aus Michael heraus.
„Sehe ich aus als würde ich Witze machen?“, entgegnete Wallzeck und warf seinem Mitarbeiter einen kritischen Seitenblick zu.
„Wahnsinn. Eine Katze voller LSD. Auf so was muss man erst mal kommen.“ Gerber schüttelte den Kopf.
„Mir ist schon klar, dass du auf glühenden Kohlen sitzt, weil wir nur Blindgänger hatten, seitdem du dabei bist“, setzte Gregor erneut an. „Aber glaub mir eins, wenn du wirklich irgendwann einen Poltergeist vor dir hast, ziehst du die Blindgänger vor.“