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Das lächelnde Sophiechen
Schon sieben Tage keine Sonne mehr gesehen. Kein Glaube daran, dass nicht immer so ein Pisswetter war. Sophiechen greift in ihre Hosentasche, holt einen von den Kieseln raus und legt ihn sich vor die Füße, um ihn rumzukicken. Er spritzt durch einige Pfützen und hinterlässt dunkle Spuren. Wie Frittenfett. Sie grinst.
Im Elektronikladen neben der öligen Nachbarin läuft ein Nachrichtenreport. Hat sich ein Jugendlicher umgebracht. Sophiechen bleibt stehen und schaut zu. »Selbstmord«, sagt einer auf dem Bildschirm, es flackert und dann sieht man einen Krankenwagen und einen dieser hohen Türme, die scheinbar eine echte Empfehlung für dramatische Suizide sind. Es wird was von Tragik erzählt und von der Familie und wie schlecht sich denn alle fühlen, dann geht es weiter mit der Börse und dem Wetter. Sophiechen läuft weiter. Ihre Mutter würde jetzt rumheulen. Macht die immer bei so 'nem Zeug.
»Fehlt die Liebe«, wird sie sagen und Sophiechen wird bloß antworten, dass es doch überall fehlt. Montags fehlt es an Brötchen mit Käse, manchmal fehlt es am Regenwald, guten Noten und Michael Jacksons Nase.
Wenn es wieder an guten Noten fehlt und alle dumm gucken, meldet sich Sophiechen und sagt, dass sie kotzen muss. Sie kotzt dann sogar manchmal echt. Das liegt aber daran, dass die Schulköchin einfach einen verdammt beschissenen Kartoffelbrei macht und Jule schon wieder dünner ist als sie. Meistens geht Sophiechen einfach aufs Schuldach und spuckt in die Tiefe oder schmeißt mit den Kieseln aus ihrer Tasche.
Als sie an diesem Tag hochgeht, sieht sie da einen Mann sitzen, dem sie noch nie vorher begegnet ist. Sein Bart ist verfilzt und er hat einen Kopf wie ein Medizinball. In seiner Hand hat er zwei karierte Papierchen und einen Kuli.
Weil Frau Marichowsky fast so grässlich Deutsch unterrichtet, wie die Schulköchin Kartoffelbrei kocht, entschließt sich Sophiechen dazu, dass sie ruhig mal fehlen darf. Sie setzt sich neben den Mann.
»Brauchste auch Ruhe?«, fragt er und guckt dabei direkt in das Fenster mit den Elektronikartikeln und den Fernsehern. Nummern flimmern durch die Röhre, in der Telefonwerbung, im Nachmittagsprogramm oder bei den Lottozahlen. Überall immer wieder Nummern. Und jedesmal, wenn eine kommt, die er hingekritzelt hat, streicht er sie auf seinem Papier durch. Wie bei Bingo.
Sophiechen sieht ihm zu und schlenkert mit den Beinen. Die Luft schmeckt nach Regen.
»Wenn ich fertig bin, dann spring' ich«, sagt der Mann neben ihr und lässt ein volles Papier aus seiner Hand segeln. Er wendet sich ihr grinsend zu und seine Augen sind jung. »Ein Blättchen noch, dann spring' ich.«
Jetzt sieht Sophiechen auch die vielen Papiere auf der Erde liegen. Blass vom Regen liegen sie in der Tiefe. Sie denkt an ihre Oma, mit der sie im Altenheim immer Bingo gespielt hat. Haben sich die Leute danach auch von Gebäuden runtergestürzt? Manche bestimmt, entscheidet sie.
»Hast du gar keinen Schiss?«, fragt Sophiechen nach einer Weile.
»Klar«, meint der Medizinballkopf. »Ist mehr so 'ne Mutprobe.«
»Du kannst ja stattdessen Heroin nehmen«, schlägt Sophiechen vor, die Drogendokus im Fernsehen immer total interessant findet.
»Hab ich schon. Ist ganz cool, aber die Schlägereien machen keinen Spaß. Gibt ein paar ganz heftige Typen, mit denen man sich hier um Revier und Stoff prügeln kann.«
Sophiechen wird neugierig. »Bist du in so einer Bande?«
»Ja«, sagt der Mann. »Schon lange.« Und er murmelt was von »wollte schon immer mal aussteigen … nie hingekriegt … erst gestern der Freund im Gefängnis«.
»Ah«, macht Sophiechen und sie spuckt drei Mal runter, weil sie so gern der Spucke beim Fliegen lernen zusieht. Wenn sie sich verformt, sieht sie aus, wie eine Ameise mit einem Speichelfallschirm. »Wenn du springst, dann kannst du ja richtig aussteigen.«
»Deswegen mach ich's auch.« Der Mann kritzelt auf seinem Blatt herum und Sophiechen sieht, dass er eins voll hat. Er rappelt sich auf, seine lange Jacke hängt träge an ihm herunter. »Willst du mitspringen?«, bietet er ihr an.
Sophiechen überlegt nur kurz – sie steht auf und grinst ihn an.
»Ich zähl' bis drei«, sagt der Medizinballkopf. Er greift nach ihrer Hand, kalt wie Asphalt, und beginnt zu zählen.
Sophiechen beobachtet das Leben auf der Straße, lauscht dem Hupen und spürt den Wind. Bei drei springen beide.
Wirbel im Gesicht, riecht sie den Regen, schließt die Augen und landet. »War gar nicht so schlimm«, sagt sie schließlich und grinst den Mann an. Das Knie blutet ein bisschen, aber Sophiechen mag die Farbe.
»Sind ja auch nur drei Meter«, erwidert der Mann, zupft Papierschnipsel aus seinem verfilzten Bart und grinst ebenfalls. Zahnlos ist das Grinsen, zahnlos und jung und hässlich und nett.
Sie gehen beide um das Schulgebäude herum, Sophiechen geht hinein. Sie winkt dem Mann noch zu, bevor der in sein frisches Leben aufbricht, und beschließt, dass sie heute nicht kotzen muss. Es riecht immer noch nach Regen und irgendwie nach Leben und das Papier auf dem Asphalt bleibt wie ein Grabstein liegen.
Am nächsten Morgen betritt Sophiechen die Straße, holt einen von den Kieseln raus und legt ihn sich vor die Füße, um ihn rumzukicken. Er spritzt durch einige Pfützen und hinterlässt dunkle Spuren. Wie Frittenfett. Sie grinst.
Im Elektronikladen neben der öligen Nachbarin läuft ein Nachrichtenreport. Hat ein Jugendlicher den Löffel abgegeben. Sophiechen bleibt stehen und schaut zu. »Bandenkrieg«, sagt einer auf dem Bildschirm, es flackert und dann sieht man einen Krankenwagen und eine Trage, das weiße Tuch erhoben, als würde ein Medizinball darunter liegen. Es wird was von Tragik erzählt und von der Familie und wie schlecht sich denn alle fühlen, dann geht es weiter mit der Börse und dem Wetter. Sophiechen läuft weiter. Ihre Mutter würde jetzt rumheulen. Macht die immer bei so 'nem Zeug.