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Das Kreidemonster (überarbeitet)
Iiiiiiiiiiieek … tack-tack … iiiiiiiiiiiiiieek … tack-tack …
Es war der zweite Abend in Folge, an dem Tobias das Geräusch hörte.
Er lag in seinem Bett, die leisen Stimmen einer Fernsehsendung, welche die Eltern im Wohnzimmer sahen, drangen in sein Kinderzimmer.
Und dazwischen immer wieder dieses gruselige Geräusch von draußen: Iiiiiiiieek … tack-tack … iiiiiiiiieek … tack-tack
Tobias zog die Bettdecke bis über das Kinn. Als er merkte, dass dadurch seine Füße frei lagen, winkelte er die Beine blitzschnell bis zum Bauch an.
Das Kinderzimmer war dämmrig, und seine Möbel sahen aus, wie dunkle Wesen, die an der Wand hockten. Unbeweglich und lauernd, und jederzeit bereit, sich auf ihn zu stürzen, falls er das schützende Bett verließ.
Der lange Vorhang vor dem Fenster wehte leicht hin und her. Dahinter konnte Tobias schemenhaft das Licht der Straßenlaterne sehen, das sein Zimmer noch unheimlicher erscheinen ließ.
Iiiiieeek … tack-tack …
Tobias fing an zu zittern. Was war das nur?
Gestern, als er das Geräusch zum ersten Mal gehört hatte, war er sofort aus seinem Bett gesprungen und ins Wohnzimmer der Eltern gerannt. „Da draußen ist irgendwas!“, hatte er geschrieen und sich in die Arme seiner Mutter geworfen.
Papa und Mama hatten ihn beruhigt, und Papa war hinterher noch einmal mit ins Kinderzimmer gekommen. Natürlich war nichts mehr zu hören, nur noch das leise Rascheln des Vorhangs. Sehr viel später war Tobias dann auch zitternd eingeschlafen. Vermutlich hatte er sich tatsächlich alles nur eingebildet.
Und heute Abend war es wieder da. Immer die gleiche Reihenfolge:
Zuerst ein Kreischen: Iiiiiiiiiieeek, dann ein Klopfen: tack-tack. Und das Ganze wieder von vorn.
Vorsichtig griff Tobias nach seinem Schlafteddy. Wo war er nur? Auf keinen Fall wollte Tobias seine Hand zu weit unter der Bettdecke hervorstrecken. Wer weiß, was da nach ihm greifen würde ...
Das Kreischen wurde lauter. Jeder Mensch in der Umgebung musste es doch hören. Warum kamen Mama und Papa nicht zu ihm?
Sollte er wieder ins Wohnzimmer laufen? Aber seine Eltern würden ihm sowieso nicht glauben. Und bestimmt wäre das Geräusch wieder verschwunden, wenn sie ihn zurück ins Bett brachten. Vielleicht war es ein Geräusch, das nur Kinder hören konnten?
Tobias zog die Decke übers Gesicht und überlegte. Sollte er die Eltern vielleicht rufen? Nein, dann konnte der Verursacher dieser Töne ihn auch hören. Und das wollte Tobias auf keinen Fall.
Dann hatte er eine Idee. Er musste doch nur aufstehen, zum Fenster gehen und vorsichtig den Vorhang ein wenig zur Seite schieben. Und dann würde er ja sehen, woher das Geräusch kam.
Tobias schob die Decke beiseite, setzte sich auf die Bettkante und stellte die Füße auf den Boden.
Etwas Eiskaltes lag vor seinem Bett, und Tobias riss erschrocken die Beine hoch. Er wollte vor Schreck aufschreien, als ihm einfiel, dass es nur der neue Laminatboden war, den Papa verlegt hatte. Tobias hatte sich noch immer nicht an den kalten Fußboden gewöhnt.
Iiiiieek … tack-tack … iiiiiieek … tack-tack …
Es wurde etwas leiser. Tobias hüpfte aus dem Bett und schlich vorsichtig zum Fenster, immer darauf bedacht, den lauernden Schattenwesen nicht zu nahe zu kommen. Als er den Vorhang beiseite geschoben hatte, konnte er den kleinen Garten seiner Eltern sehen. Am Ende befand sich die hohe Hecke, die spärlich von der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Dunkle Wolken hatten sich vor den Himmel geschoben, die Hecke sah gespenstisch aus. Und dann sah er es!
Genau über der Hecke bewegte sich etwas Graues, Haariges. Tobias schluckte, und eine eiskalte Gänsehaut breitete sich über seinen Rücken aus. Irgendetwas schlich auf der anderen Seite der Hecke entlang.
Iiiiieek … tack-tack … iiiiiieek … tack-tack …
Tobias konnte nicht viel erkennen, die Hecke war zu hoch, nur dieses graue, haarige Etwas, das über den Blättern auftauchte.
Sein Herz raste. Ein Monster! Da draußen war eindeutig ein Monster!
Es schlich über den Bürgersteig an der Hecke vorbei, immer wieder begleitet von diesem grässlichen Geräusch.
Tobias wollte nach seinen Eltern rufen, doch er hatte das Gefühl, irgendetwas hätte sich um seinen Hals gelegt, und drückte ihm langsam die Luft ab.
Allmählich wurde das Geräusch leiser, und kurz darauf war es, genau wie das Monster, verschwunden.
Noch eine Weile stand Tobias zitternd am Fenster und blickte in die dunkle Nacht hinaus. Er hatte einen Entschluss gefasst. Rüdiger, der mit ihm zusammen in die erste Klasse ging, musste ihm helfen.
Ja, genau. Morgen war Wochenende, und Tobias würde seine Eltern fragen, ob Rüdiger bei ihm übernachten durfte. Gemeinsam kämen sie dem Monster schon auf die Schliche.
Gesagt, getan. Am nächsten Abend schlief Rüdiger bei Tobias. Er hatte sich eine Luftmatratze und seinen Schlafsack mitgebracht. Alles war vorbereitet.
Tobias´ Eltern wunderten sich zwar, warum die Kinder heute so früh zu Bett gehen wollten, aber Tobias hatte eine glaubwürdige Erklärung parat: „Wir wollen uns noch ein paar Gruselgeschichten erzählen.“
Mama und Papa hatten gelächelt: „Aber nicht, dass ihr heute Nacht nicht schlafen könnt.“
Wenn sie wüssten ...
Als die Eltern wieder im Wohnzimmer waren, fragte Rüdiger: „Meinst du wirklich, das ist eine gute Idee?“
„Hast du Angst?“, fragte ihn Tobias, der seinen Schlafteddy fest im Arm hielt. Natürlich so, dass Rüdiger es nicht sehen konnte; er war ja schließlich kein Baby mehr.
„Ich hab keine Angst!“, sagte Rüdiger entschlossen.
„Auch nicht, wenn ich dir sage, dass die Geräusche von einem Kreidemonster kommen?“
Rüdiger schluckte. „Ein K... Kreidemonster? Wie kommst du denn darauf?“
Tobias setzte sich aufrecht ins Bett und knipste seine Taschenlampe an. „Ich habe es heute früh gesehen.“
„Was, das Monster?“ Rüdiger blickte ängstlich zu Tobias hinüber.
„Nein, nicht das Monster“, sagte dieser geheimnisvoll. „Die Kreidestriche auf dem Bürgersteig, die es gemacht hat. Direkt hinter unserer Hecke waren sie. Zwei ganz lange Striche, direkt nebeneinander.“
Jetzt wurde es Rüdiger richtig unheimlich. Worauf hatte er sich da eingelassen? „Aber vielleicht waren es nur Kinder, die die Striche gemalt haben“, sagte er vorsichtig.
Tobias rückte etwas weiter vor. „Das Monster habe ich gestern Abend gesehen. Es war grau und haarig.“ Er sah richtig gruselig aus, so im Taschenlampenlicht, fand Rüdiger. Ihm war ganz und gar nicht wohl in seiner Haut. Und noch ehe er sich richtig Gedanken über seine Angst machen konnte, ertönte von weit her ein leiser Ton:
Iiiiiiieek … tack-tack …
Rüdiger zuckte erschrocken zusammen, und auch Tobias ließ beinahe die Taschenlampe fallen.
„Das hört sich ja schrecklich an“, wimmerte Rüdiger.
„Los“, sagte Tobias, so tapfer es ging, und schwang sich aus dem Bett. „Ich habe alles vorbereitet. Wir schleichen uns zur Küchentür raus. Die führt direkt in den Garten.“
Rüdiger stand langsam auf und zog sich seine Turnschuhe über. Er hatte ja versprochen, Tobias zu helfen. Aber ein mulmiges Gefühl hatte er trotzdem.
Gemeinsam schlichen sie aus dem Kinderzimmer, hinein in die Küche. In der Tür steckte ein Schlüssel und Tobias schloss leise auf. Sie hofften, dass die Eltern sie nicht erwischen würden, denn das gebe mit Sicherheit eine Menge Ärger.
Doch nichts passierte, und so hockten Tobias und der zitternde Rüdiger kurz darauf in dem Garten hinter der Hecke. Sie machten sich ganz klein und lauschten.
Tobias knipste die Taschenlampe aus, und die dunklen Schatten hüllten sie ein. Er konnte Rüdigers Gesicht nur noch schemenhaft erkennen.
Iiiiiiiiiiieek … tack-tack … iiiiiiiiiiiieek … tack-tack …
Langsam wurde das Geräusch lauter. Das Monster kam näher.
„Oh Gott, Tobias“, flüsterte Rüdiger ganz leise. „Lass uns von hier verschwinden. Ich hab´s mir anders überlegt. Ich will das doch nicht machen.“
Auch Tobias merkte, wie ihm immer heißer wurde. Und obwohl ihm so heiß war, zitterte er am ganzen Körper.
Iiiiiiiiiiiiiiieeek …
Das Kreischen war jetzt ganz nahe, und Tobias stellte mit Entsetzen fest, dass es zu spät war, noch wegzulaufen.
tack-tack …
Rüdiger fing an zu weinen, ganz leise nur, aber Tobias konnte es hören. Er legte seinem Freund die Hand auf den Rücken. „Wir werden uns nicht bewegen“, flüsterte er so ruhig es ging. Rüdiger nickte heftig.
Kurz darauf befand sich das Monster direkt neben ihnen auf der anderen Seite der Hecke. Tobias hielt die Luft an, und im selben Moment war es still.
Nichts rührte sich, nur noch ein sanftes Rascheln der Heckenblätter war zu hören. Tobias fing ganz leise wieder an zu atmen. Er sah auf Rüdiger, der ihn aus ängstlichen Augen anschaute. Keiner traute sich, auch nur einen Finger zu bewegen. Es war auf einmal so leise, dass Tobias hörte, wie sein Herz heftig gegen die Brust schlug.
Das Kreidemonster befand sich direkt neben ihnen, nur getrennt durch ein paar dünne Äste. Es war stehen geblieben, vielleicht weil es sie gewittert hatte? Tobias hörte ein leises Schnüffeln. Oh, mein Gott! Er hatte Recht, das Monster suchte sie!
Ihm wurde auf einmal ganz schlecht. Er schwor sich, nie wieder etwas Böses zu tun und immer zu machen, was Mama und Papa sagten, wenn ihn das Monster nur nicht auffraß.
Plötzlich hörten sie eine alte, krächzende Stimme: „Komm her, Waldi!“ Und im selben Moment setzte das Geräusch wieder ein.
Iiiiiiiiiieek … tack-tack …
Tobias und Rüdiger sahen sich an. War das nicht die Stimme von der alten Frau Rütterswörden? Aber das konnte doch gar nicht sein. Frau Rütterswörden war doch kein Monster.
Leise schlichen die beiden Jungs zum Gartentor. Sie öffneten es und traten vorsichtig hinaus auf den Gehweg. Und tatsächlich! Neben der Hecke stand die alte Frau, gestützt auf ihre Gehhilfe, und mit ihrem Dackel an der Leine.
Als sie die beiden entdeckte, sagte sie: „Was macht ihr denn hier, Kinder? Ist es nicht schon viel zu spät, um draußen zu sein?“
Rüdiger und Tobias blickten sich verdutzt an. Wo war das Kreidemonster?
Frau Rütterswörden rief kurz: „Komm, Waldi!“, dann drehte sie ihre Gehhilfe und kam langsam auf die beiden Freunde zu.
Iiiiiiiiiieek … tack-tack … iiiiiiiiiiieek … tack-tack …
Und jetzt erkannte Tobias, woher das Geräusch kam. An Frau Rütterswördens Gehhilfe fehlten zwei Räder, und die Metallstützen der Achse schleiften über den Boden, wenn die alte Frau das Gerät nach vorne schob: Iiiiiiiiieek.
Dabei hinterließ es zwei nebeneinander laufende, weiße Striche auf dem Bürgersteig.
Frau Rütterswörden machte zwei Schritte: Tack-tack machten ihre Schuhe. Iiiiiiiieek machte die Gehhilfe. Iiiiiiiieek ... tack-tack.
„Was schaut ihr denn so seltsam drein, Kinder?“, fragte die alte Frau, als sie die beiden erreicht hatte. Ihr graues Haar war zu einem Knoten gebunden. Das hatte Tobias also über der Hecke gesehen, als er gestern aus dem Fenster geschaut hatte: Frau Rütterwördens Haarschopf!
Tobias und Rüdiger konnten gar nicht sprechen, so erleichtert waren sie auf einmal. Tobias fing an zu lachen, und kurz darauf lachte auch Rüdiger.
Frau Rütterswörden schaute noch einen Moment verdutzt, dann lächelte auch sie.
Nach einer Weile deutete sie auf ihre Gehhilfe. „Sind mir doch vorgestern die vermaledeiten Räder abgefallen.“ Sie zog den Dackel zu sich heran und fuhr fort: „Aber mein Sohn kommt morgen aus dem Urlaub zurück, und dann muss er sie mir wieder dran bauen. Das Quietschen ist ja nicht zum Aushalten.“
„Und wir dachten schon ...“, sagte Rüdiger lachend.
Tobias stieß ihm in die Seite. Bloß nichts von einem Kreidemonster erzählen; die ganze Klasse würde über sie lachen.
„Tobias?“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Garten. Es war Tobias Vater. „Seid ihr etwa da draußen?“
„Oh je“, sagte Tobias. „Das gibt Ärger.“
Aber das wird halb so schlimm sein, dachte er. Schließlich hatten sie ja heute Abend schon den Kampf gegen das furchterregende Kreidemonster überlebt ...