- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Das Kraftwerk
Petra fotografierte den ausgebrannten Hochspannungstransformator von allen Seiten. Rauch kräuselte sich über der Maschine, es roch nach Chlor und verbranntem Kunststoff. Die Keramikreste der ehemals schräg nach oben führenden Stromleitungen baumelten von der isolierten Sammelschiene. Der haushohe Kühlkörper des Transformators war senkrecht geborsten und zwischen den Rissen im Stahl quollen, zu seltsamen Windungen verschmolzen, erkaltete Kupferwicklungen wie Gedärme ins Freie. Schwarz vom Brand lag der Koloss, einst weiß gestrichen, inmitten dutzender Großtransformatoren.
Brand wegen Kurzschluss, dachte Petra. Wegen Kurzschluss durch einen gewaltigen subtransienten Stromstoß, der in dieser Stärke weder erklärt noch von den Schutzsystemen des Kraftwerks unterbrochen werden kann.
Es war still im Kontrollraum des Kernkraftwerks, als Petra zurückkam. Leise surrte die Klimaanlage. Die vier anderen Reaktoroperateure und der neue Einsatzleiter saßen vor ihren Monitoren. Johannes, der neben ihrem leeren Arbeitsplatz saß, warf ihr einen kurzen Blick zu. Petra überflog wie gewohnt die Angaben auf dem halbkreisförmigen Bildschirm, der die halbe Wand des ovalen Raumes einnahm. Als sich ihre Augen an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten, ging sie zu ihrem Arbeitsplatz, lud die Fotos von der Kamera auf den Rechner und öffnete die Bilder. Der neue Einsatzleiter erhob sich, kam schlurfend durch den Raum und blieb neben ihr stehen. Er kniff seine unnatürlich vorstehenden Augen zusammen, beugte sich näher zum Bildschirm und betrachtete die Fotos des ausgebrannten Transformators.
„Nicht gut“, nuschelte er, „gar nicht gut“, und, lauter, zu Petra gewandt: „Sind Sie wieder mit dem Motorrad durch die Halle gefahren?“
Petra stand auf, schälte sich umständlich aus dem Schutzanzug, kramte in den Taschen, als ob sie etwas suchte und nicht fände, vergriff sich beim Kleiderbügel - mit Filzstift hatten sie sie beschriften müssen - und hängte den Overall in den Schrank. Seit das schwer umweltschädliche Isoliergas in den Stromleitungen ausgetauscht worden war gegen ungefährlichen, für Menschen allerdings giftigen Flüssigstoff, musste man im Kraftwerk Schutzanzüge tragen.
„Sind Sie wieder mit dem Motorrad durch die Halle gefahren?“, wiederholte der neue Einsatzleiter.
Ob er nicht gerade die Fotos gesehen habe, knurrte Petra, da draußen sei alles schwarz vom Ruß, Motorradfahren spiele jetzt auch keine Rolle mehr.
Zwei Operateure kicherten.
Über zweitausend Jahre waren nötig, um zur Kernkraft zu gelangen, dachte Petra. Zwanzig Jahre hatten gereicht, den Weg zurückzugehen. Sie erinnerte sich an staatliche Nuklearsicherheitsinspektorate, öffentliche Stellenausschreibungen und daran, dass man Dinge tat, weil sie richtig waren. Die damalige Technik war noch da, doch die Menschen – die Menschen waren verrückt geworden.
Gleich beim Amtsantritt des neuen Einsatzleiters hatten die Reaktoroperateure bemerkt, dass der junge Mann inkompetent war. Inkompetent, aber Neffe des Kraftwerkdirektors, wie sich später herausstellte, was seine Position erklärte. In den ersten Wochen hatten sie sich nach Vorschrift verhalten, Beschwerden und Rapporte geschrieben, doch der nächsthöhere Abteilungsleiter wollte seinen Ruf beim Direktor nicht gefährden und weigerte sich, diese weiterzuleiten. An Umgehung des Abteilungsleiters war nicht zu denken, Dienstweg ist Dienstweg. Kurzum, jede Beschwerde war vergeblich. Also hatten die Operateure beschlossen, den neuen Einsatzleiter derart zu schikanieren, dass er von selbst gehen würde.
Leicht fiel es ihnen allerdings nicht. Gemeinheit erfordert ein Höchstmaß an sozialer Kompetenz. Es galt, über Jahre geübte Umgangsformen zu vergessen und ins Gegenteil zu wenden, ohne dabei dem Einsatzleiter einen Kündigungsgrund zu geben oder, was weitaus schwieriger war, sich komplett lächerlich zu machen. Die Idee mit dem Motorrad stammte von Petra. Natürlich war es sinnlos, damit durch die Kraftwerkshalle zu fahren, obwohl die Halle groß war, sehr groß. Doch das Motorrad bot genau die gesuchte Art von Konfliktpotential. Es war wegen der ausgestoßenen Rußpartikeln zwar verboten, aber nicht schlimm genug, um eine Meldung beim Abteilungsleiter zu rechtfertigen, ohne dass sich der neue Einsatzleiter selbst lächerlich machen und darüber hinaus seinen Ruf als Führungsperson aufs Spiel setzen würde. Außerdem fuhr Petra gerne mit dem Motorrad durch die riesigen Hallen, in die selten ein Mensch seinen Fuß setzte. Sie spürte etwas Unbeschreibliches zwischen den schwer atmenden Turbinen und Generatoren, etwas wie - Leben. Doch das sagte sie ihren Kollegen nicht.
Überhaupt, Petra sagte nichts, wo es nichts zu sagen gab.
An diesem Abend, als die Schicht zu Ende war und die Reaktoroperateure im Pausenraum ihre Kaffeetassen in die Spülmaschine stapelten, sagte Johannes: „Sieht nicht gut aus, die Sache mit dem Transformator. Gar nicht gut. Hat einer von euch eine Ahnung, weshalb das Ding ausgebrannt ist?“
Die anderen Operateure schüttelten den Kopf.
Petra sagte: „Transformatoren haben etwas gemeinsam mit Menschen. Folgsam stehen sie in ihrer Reihe und treten in die Stufen des Rades, das endlos um sich selbst dreht. Krepiert dabei einer, gibt es Untersuchungen und neue Sicherheitsrichtlinien, welche die Gefahr höchstens verschieben, denn absolute Sicherheit ist illusorisch.“
Solche Dinge sagte Petra.
Die Physiker vom Untersuchungskomitee, welche am nächsten Tag den ausgebrannten Transformator umschwirrten wie Fliegen einen stinkenden Kadaver, kamen nachmittags zum Schluss, ein Kurzschluss habe den Brand verursacht.
Die Operateure im Kontrollraum lachten. „Das hätte jeder hier nach zehn Sekunden festgestellt“, sagten sie. Bemerkenswert sei einzig die Vermutung, ein bisher unbekanntes Zusammenspiel elektromagnetischer Wirkungen könnte einen hohen Ausschaltstromstoß und damit den Brand verursacht haben, als ein tausende Kilometer weit entferntes Umspannwerk von der neuen Höchstspannungsleitung getrennt wurde.
An diesem Nachmittag kam ein Sturm auf. Die Monitore im Kontrollraum zeigten Windgeschwindigkeiten von über hundert Stundenkilometern an verschiedenen Messpunkten auf dem Kraftwerksgelände. Die Übertragungsbilder der draußen montierten Überwachungskameras wackelten.
Kurz vor Schichtende trat der Pressesprecher des Kraftwerks in den Kontrollraum. Sein schmales Gesicht wirkte skelettartig im fahlen Licht der Kontrollbildschirme. Er sagte, er brauche eine Erklärung zur gestrigen Notabschaltung von Feld vier, für die Pressemitteilung.
Die Reaktoroperateure zeigten auf Petra.
Petra wandte den Blick nicht von den Monitoren. „Die technologische Komplexität unseres Kraftwerks ist unermesslich“, sagte sie, „ein Meisterwerk an Ingenieurskunst - gottgleich, sofern man den Vergleich wagen darf. Trotzdem versuche ich eine kurze Erklärung.“
Die Operateure lachten.
„Der zerstörte Transformator war Teil der elektrischen Maschinen, welche den Reaktor vier mit den neuen Höchstspannungsleitungen verbinden“, fuhr Petra fort. „Übrigens arbeiten diese Leitungen mit der höchsten Gleichspannung, die je zur Stromübertragung erzeugt wurde, was nahezu verlustlosen Transport sagenhafter Energiemengen erlaubt. Wir sprechen von Strom für Millionen von Menschen - doch ich schweife ab. Beim Ausschalten langer Leitungen können aufgrund der elektrischen Felder zwischen Kabeln und Erde enorme Überspannungen und Abschaltströme auftreten, und so ein subtransienter Abschaltstrom mit einer kurzzeitigen Leistung, welche dem Verbrauch einiger Millionenstädte entspricht, könnte – wobei die realen Vorgänge viel komplexer sind, als ich hier in Kürze zu erklären vermag – den Kurzschluss im Transformator und damit den Brand verursacht haben. Dies jedenfalls behaupten die Herren des Untersuchungskomitees.“
„Alles klar?“, rief einer der Operateure hämisch zum Pressesprecher.
„Energietechnik, erstes Semester“, schob ein anderer nach.
Der Pressesprecher klappte sein Notizbuch zu und hob den gestreckten Mittelfinger.
In dieser Nacht konnte Petra nicht schlafen. Sie lag im Bett und überlegte. Falls das Ausschalten eines relativ kleinen Strangs der neuen Höchstspannungsleitung ausreicht, um hier, tausende Kilometer entfernt, einen Großtransformator in Brand zu setzen, dachte sie – was geschieht dann, wenn jemand alle Leitungen ausschaltet?
Am Morgen stellte sie die Frage während der Kaffeepause ihren Kollegen.
„Ihr wisst genau, wie sich ein Generator bei maximaler Phasenverschiebung verhält“, versuchte sie zu erklären und blickte in die Runde. „Er explodiert wie eine Bombe. Was ist, wenn das Untersuchungskomitee recht hat und der subtransiente Abschaltstrom der neuen Leitungen die Generatoren erreicht? Halten die Reaktorhüllen dem Druck und den Splittern stand?“
Gleichgültige Gesichter blickten ihr im farbig aufblinkenden Licht der Kontrollbildschirme entgegen. Johannes zuckte mit den Schultern, wobei ihm etwas Kaffee aus der Tasse schwappte, zwei andere Operateure nickten bedächtig, weiter an ihrer dampfenden Brühe nippend, und der vierte sagte, es wäre ohnehin um diese Welt nicht allzu schade.
Petra hatte damit gerechnet, von ihren Kollegen keine Unterstützung zu erhalten. Dass auch der Dienstweg nicht helfen würde, war ihr ebenso klar. Der neue Einsatzleiter, der nicht mehr wagte, Kaffeepausen mit den Operateuren zu verbringen, gab sich beschäftigt vor seinen Bildschirmen. „Lecken Sie mich“ war alles, was er ihre Bedenken betreffend erwiderte.
Sie setzte sich zurück an ihren Arbeitsplatz. Draußen tobte noch immer der Sturm. Die durchschnittliche Windgeschwindigkeit war auf knapp sechzig Stundenkilometer gesunken, doch die Böen erreichten immer noch über hundert. Petra verfolgte die Messdaten auf ihrem Monitor.
Nach Schichtende zog sie Johannes beiseite, während die anderen ihre Kaffeetassen zur Spülmaschine im Pausenraum brachten.
„Du verstehst es doch, Johannes“, sagte sie. „Wir müssen melden, dass man diese Leitungen auf keinen Fall ausschalten darf, bis der Sachverhalt geklärt ist.“
„Warum sollten sie alle Leitungen ausschalten?“, erwiderte Johannes. „Das geschieht nie.“
„Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit ist gering. Dennoch gibt es denkbare…“
Da berührte sie Johannes sanft an der Schulter. „Petra, du weißt, keiner in diesem Kraftwerk versteht auch nur annähernd so viel von dieser Sache wie du. Etwas kann ich dir aber versichern: Erklär diesen Idioten, was sie auf keinen Fall tun dürfen, und irgendeiner wird genau das tun.“
Nachdem Petra ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine gelegt hatte, holte sie ihren Schutzanzug aus dem Schrank, fuhr mit dem Warenlift hinunter und trat durch die Schleuse in die riesige, hell erleuchtete Halle. Das Motorrad stand im Materialraum. Viermal musste sie in den Kickstarter treten, bis die alte Honda lief. Einzylinder-Viertaktmotor, achtundvierzig Newtonmeter Drehmoment. Petra strich liebevoll über den breiten Lenker. „Motocross-Maschinen sind leicht und wendig“, hatte Johannes gesagt. „Genau, was wir im Kraftwerk brauchen.“ Die Maschine hatte jahrelang unbenutzt in seiner Garage gestanden.
Mit gezogener Kupplung rollte Petra im Schritttempo an den Schaltfeldern entlang. Sie betrachtete die makellos gestrichenen, meterdicken und wie Gedärme gewundenen Rohre der Leiterisolationen. In der Mitte der Schaltanlage stieg sie ab, setzte sich auf den Boden und legte beide Hände auf eine der Zuleitungen. Fünfzehn Meter über ihr hing der gelbe Stahlhaken des Hallenkrans. Der Betonboden war angenehm kühl. Kein Laut verriet die fließenden Energiemassen. Leise hörte sie das Summen der wassergekühlten Stromrichter in der Ferne. Die Hallenbeleuchtung zeichnete ein Labyrinth verschlungener Schatten auf den Boden.
Petra blieb lange sitzen. Als sie sich erhob, wusste sie, was sie tun würde.
An diesem Abend schrieb sie einen ausführlichen Rapport, begründete ausführlich die Gefahr und schickte diesen ihrem Abteilungsleiter. Antwort erhielt sie keine, doch am nächsten Abend bat sie der zuständige Bereichsleiter, Vorgesetzter ihres Abteilungsleiters, in sein Büro. Er polterte, bei den Transformatoren der neuen Höchstspannungsleitung gebe es ein Sicherheitsrisiko, ob sie etwas davon wisse. Auf seinem Schreibtisch erkannte Petra eine Abwandlung ihres Rapports, der Text zerstückelt und auf eine Seite reduziert.
Sie erläuterte, kurz und knapp, die Gefahr für ihn und die Menschheit im Allgemeinen, und dass man auf keinen Fall diese Leitungen abschalten dürfe - was nicht einfach war, da sie wusste, dass der Bereichsleiter Untergebenen aus Prinzip nicht länger als zwei Minuten zuhört und auch von Physik nichts versteht.
Doch Petra wusste auch, dass sich Erfolg und Vorankommen im Labyrinth der Konzernstrukturen, wie überhaupt im Leben, in kürzer werdenden Irrwegen äußerte. Mathematisch betrachtet: die Distanz zum Startpunkt nahm, bei gleicher Geschwindigkeit, exponentiell zu.
Am nächsten Morgen, vor der Kantine, wurde Petra vom Vizedirektor des Kraftwerks, der sie normalerweise keineswegs kennen und erst recht nicht ansprechen würde, überraschenderweise gegrüßt. „Alles unter Kontrolle im Kontrollzentrum?“, gackerte er anerkennend und schwang seine Aktentasche. Außerdem erhielt Petra ein knappes Antwortschreiben des Abteilungsleiters, der Sachverhalt ihres Scheibens werde abgeklärt. Am Abend raunte ihr der Sekretär des Vizedirektors beim Warten auf den Lift zu, er verstehe zwar von diesem technischen Kram nichts, es interessiere ihn auch nicht, aber der Direktor persönlich habe sich nach ihrem Rapport erkundigt – Direktor Herder, der Geschäftsführer des Großkraftwerks – was ihm offensichtlich imponierte, und am folgenden Nachmittag landete ein Hubschrauber der Regierung vor dem Haupteingang des Kraftwerks. Es war der Energieminister. Das war knapp eine Stunde, bevor im Kontrollraum informiert wurde, die Regierung befehle aus Sicherheitsgründen die sofortige Abschaltung der neuen Höchstspannungsleitungen, um gravierende Sicherheitsmängel zu untersuchen.
Natürlich versuchten die Reaktoroperateure, die Katastrophe zu verhindern. Sobald Petras Schock über die Nachricht so weit verflogen war, dass sie sich nicht mehr vor Schwindel am Stuhl festhalten musste, stürzte sie zum Telefon und wählte die Nummer des Kraftwerksdirektors. Sie sah, wie Johannes neben ihr am Telefon die Operateure vom Netzleitzentrum anbrüllte und wie ein anderer Operateur den neuen Einsatzleiter an den Schultern packte und schüttelte. Sie vernahm das Abnehmen am anderen Ende der Telefonverbindung und schrie ihrerseits in den Hörer. Doch plötzlich begannen die jahrelang eingeübten Reflexe wie von selbst ihre Handlungen zu steuern. Sie achtete nicht mehr auf die Vorstandsassistentin, die das Telefon abgenommen hatte. Die Symbole der Höchstspannungs-Leistungsschalter auf dem meterlangen, halbrunden Bildschirm an der Wand wechselten von grün auf rot. Der erste Ruck riss sie fast von den Füssen. Fast alle Figuren auf dem Bildschirm blinkten jetzt rot. Sie spürte die gesamte Anlage wie ihre eigenen Glieder. Den zweiten Ruck, ausgelöst durch die Notabschaltung der Reaktoren, kannte sie. Eine Staubwolke peitschte von außen gegen die Überwachungskameras, doch Petra brauchte keine Kameras mehr um zu wissen, was soeben geschehen war.