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Das Klischee
Sie tanzen. Sie trinken. Sie lachen. Und wie jedesmal, wenn ich mich auf einer langweilen Party befinde – was eher die Regel ist – frage ich mich: Was feiern sie eigentlich? Die Tatsache, dass sie geistig und körperlich dazu in der Lage sind, Bier durch Schläuche zu saufen und sich Mutters Putzschwämme in die Turnschuhe zu quetschen, ohne dabei einen Muskelkrampf zu erleiden, weil das „echt fett“ aussieht und „echt fett“, dass sind ja zwei so tolle Wörter und jeder will „echt fett“ aussehen. Ich verzichte auf „echt fett“, denn eigentlich ist es nur „echt dumm“ oder „echt beschränkt“.
Ich entdecke ein Mädchen, das eingequetscht zwischen zwei Pärchen sitzt. Die Pärchen haben definitiv zuviel getrunken, kichern und albern ständig herum und gestehen sich gegenseitig ihre unendliche Liebe. Das Mädchen hingegen hockt teilnahmslos da, zusammengekauert, als ob sie sich verstecken wolle. Sie spricht kein Wort, schweigt lieber, schaut dabei starr gerade aus, vielleicht, um so den Blicken der anderen zu entgehen, und streicht sich manchmal aus Langeweile eine Strähne aus dem Gesicht. Nur wenn sie an ihrem Glas nippt, erwachen ihre Augen aus der Winterstarre und fixieren für einen kurzen Augenblick das halbvolle Glas. Fast scheint es, als schreite das Leben um sie herum mit Riesenschritten voran, während es auf ihrem kleinen Flecken stehen geblieben ist. Und da es mir so vorkommt, als verlaufe mein Leben momentan auch nicht gerade im Eiltempo, beschließe ich, mich zu ihre zu setzen, nachdem eines der Pärchen grinsend nach oben verschwunden ist.
„Ist hier noch frei?“ frage ich vorsichtig und deute mit einem Finger auf den leeren Platz neben ihr. Sie blickt kurz auf und mustert mich beiläufig.
„Denke schon“, meint sie schließlich und ihr leicht überraschter Gesichtsausdruck vermittelt den Eindruck, als habe sie gar nicht gemerkt, dass ein Pärchen verschwunden ist.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
„Von mir aus“, entgegnet sie gleichgültig und rückt ein Stück zur Seite, gerade so, als fürchte sie, dass wir uns zu nahe kommen.
„Ich heiße Sebastian“, meine ich nach einer Weile, als das gähnende Schweigen allzu unangenehm wird, „und du?“
„Claire“, erwidert sie gelangweilt, ohne mich dabei anzuschauen.
„Und, wie gefällt dir die Party?“
„Geht so.“ Und wie sie das sagt, klingt das fast resigniert, aber ich denke mir nichts dabei.
„Ich finde es auch nicht besonders spannend. Woher kennst du den Gastgeber?“
„Ein Freund von mir.“
„Schule?“
„Nein. Wir sind im selben Sportverein.“
„Welche Sportart?“
„Volleyball.“ Sie scheint kein Freund langer Sätze zu sein.
„Was gefällt dir an Volleyball?“
Auf ihrer Stirn bildet sich ein Falte.
„Weiß nicht so genau. Meine Eltern meinen, ein bisschen Sport könne mir nicht schaden. Und da Bekannte von uns Volleyball spielen, habe ich mich eben dafür entschieden.“
Noch immer verharrt sie in ihrem Tunnelblick und ich frage mich, ob die Fortführung des Gesprächs überhaupt noch einen Sinn macht.
„Ich wollte mir gerade etwas zu trinken holen, soll ich dir was mitbringen?“ frage ich, obwohl ich um ihr halbvolles Glas weiß. Irgendwas muss ich schließlich fragen.
„Nein, ich habe noch.“
„Okay, bin gleich wieder zurück.“
Am liebsten würde ich jetzt geradewegs diesen Raum verlassen und den Weg nach Hause einschlagen, aber irgendwas sagt mir, dass ich das Mädchen nicht einfach zurücklassen könne. Außerdem ist sie ja eigentlich ganz nett. Nur etwas schüchtern.
Als ich mich wieder zu ihr setze, wirft sie mir lediglich einen müden Blick zu, als interessiere sie gar nicht, was um sie herum geschieht, und blickt wieder starr geradeaus. Ich weiß absolut nicht, was ich jetzt noch sagen soll und außerdem beschleicht mich allmählich das Gefühl, dass sie sich immer mehr in eine imaginäre Höhle zurückzieht, in der sie sicher ist vor den Blicken der anderen. Also sitze ich einfach nur da und lasse meine Blicke unauffällig über sie streifen. Sie ist recht zierlich, winzige Nase und dünne Beine, bei denen man befürchtet, dass sie jeden Moment durchbrechen. Sie trägt einen dicken, pinkfarbenen Strickpullover mit Rollkragen und eine lange, schwarze Hose.
„Sind deine Haare gefärbt“, will ich wissen und denke noch im selben Moment: „Was für eine blöde Frage.“ Zu meiner Überraschung dreht sie sich nach kurzem Zögern zu mir um, schaut mich resigniert an und meint: „Das würden meine Eltern nicht erlauben.“
In ihren Worten schwingt Vorwurf mit. „Die erlauben mir so was nie.“ Plötzlich bin ich hellwach. Die Worte Eltern und nicht erlauben in einem Satz haben seit jeher Signalwirkung auf mich und reißen mich aus dem größten Tiefschlaf.
„Deine Eltern würden dir das nicht erlauben?“
Sie nickt hilflos, ohne dabei weg zu schauen. Ich habe das Gefühl, sie ein Stück aus ihrer Höhle hervorgeholt zu haben.
„Sollen wir vielleicht ein wenig nach draußen gehen“, frage ich vorsichtig, „ich meine, nur wenn du willst natürlich.“
„Ja, das wäre nicht schlecht. Ich könnte ein wenig frische Luft vertragen.“
Zum ersten Mal meine ich, sie erleichtert seufzen zu hören, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
Die Abendluft ist mild, ein leichter Wind treibt das zusammengefegte Laub auseinander und jagt es den Weg entlang. Wir laufen zunächst schweigend die Straße hinunter, vorbei an den letzten Häusern, hinaus in die Freiheit.
„Mein Vater hat eine ziemlich angesehen Position in der Firma, in der er arbeitet“, beginnt sie nach einer Weile, als die letzten Lichter der Zivilisation nur noch in der Ferne glimmen. Sie hält kurz inne. „eine sehr hohe sogar. Deshalb hat auch unsere Familie ein sehr hohes Ansehen.“
Sie sagt es ohne Stolz.
„Und das stört dich?“
„Eigentlich nicht. Es stört mich nur, wie meine Familie ständig bemüht ist, dieses Ansehen aufrecht zu erhalten.“ Kurze Pause. Sie bleibt stehen und blickt mich mit Augen an, die zugleich traurig und wütend sind. „Mit allen Mitteln.“
Wir gehen weiter.
„Eigentlich dürfte ich das eigentlich alles gar nicht erzählen. Ständig muss ich mich anständig benehmen, bei Besuchen die wohlerzogene Tochter spielen, die ihren Vater bewundert, gute Noten nach Hause bringt und deren sehnlichster Wunsch es doch nur ist, später einen erfolgreichen Anwalt oder Börsenmakler zu heiraten und dessen Kinder zu hüten. Ich hasse das. Hier grinsen, da lächeln. Hier mit dem Sohn eines Geschäftspartners flirten, um Beziehungen aufrecht zu erhalten und da auf einer Gartenparty meine Schokoladenseite präsentieren. Seit 17 Jahren werde ich nun als illusorisches Symbol für den Familienfrieden herumgereicht.“
„Gibt es ihn nicht?“
Sie lacht hämisch.
„Es hat ihn nie gegeben.“
„Meine Mutter trinkt ständig, weil mein Vater dauernd unterwegs ist. Und wenn er mal da ist, brüllen sie sich nur an.“
Sie muss eine Träne unterdrücken. Ihre Stimme zittert.
„Ständig muss ich mir das anhören. Und dann immer wieder diese Schauspielerei. Sie bestimmen meinen Tagesablauf, meine Kleidung, meine Frisur, meine Freunde, sie bestimmen sogar, wann ich aufstehe und wann ich schlafe. Und ich mache das brav mit.“
„Und du hast dich nie dagegen gewehrt?“
„Nicht viel. Früher, ja da habe ich mal ein paar Teller zerschmissen oder Salz in die Bowle gekippt, wenn meine Eltern mal wieder eine Party gegeben haben. Kinderstreiche, die wirkungslos blieben. Sie haben meine Hilfeschreie nicht gehört und nicht hören wollen. Meine Schlafstörungen nicht, meine Bulimie nicht. Ignoranz war ihr Allheilmittel.“
„Und heute? Wehrst du dich heute noch?“
Sie muss kurz überlegen.
„Mir ist die Kraft ausgegangen. Er hat doch keinen Sinn mehr. Manchmal fühle ich mich wie diese griechische Sagengestalt, die für irgendein Verbrechen einen Stein immer wieder den Berg hoch rollen musst und kaum hatte sie es geschafft, rollte er auch schon wieder hinab. Verstehst du?“
Ich nicke.
„Ich habe einfach das Gefühl, dass ich, so sehr ich mich auch bemühe, nichts bewege. Und außerdem...“ Sie stockt.
„Und außerdem?“
„Nun ja, eigentlich geht es mir ja gar nicht schlecht. Materiell meine ich. Ich muss mir um nichts Sorgen machen, keine Angst davor haben, dass mir etwas passiert, dass ich eines Tages auf der Straße sitze. Die Geschäfte laufen gut. Na ja, und deswegen...also dafür sollte ich meinen Eltern schon dankbar sein. Irgendwie. Oder etwa nicht? Ich hätte ein furchtbar schlechtes Gewissen, wenn ich mich gegenüber meinen Eltern irgendwie unfair verhalten würde. Irgendwie lieben sie mich doch.“
Im Laufe des Gespräches hat sich in mir viel Wut angestaut, die ich jetzt nicht mehr zurückhalten kann.
„Sag mir, dass das ein verdammter Witz ist! Sag es mir! Los! Sag, dass es nur ein verdammter Witz ist!“
Ich schreie.
Sie hält die Hände vor ihren Oberkörper, fast abwehrend, und ich bin selbst erschreckt über mein Verhalten. Langsam reiße ich mich wieder zusammen und versuche ruhig zu atmen.
„Tut mir leid“, entschuldige ich mich und suche ihren Blick. Allmählich lässt sie ihre Hände wieder sinken.
„Ist schon in Ordnung. Außerdem hast du ja recht. Es hört sich wirklich an, wie ein verdammter Witz, aber was soll ich denn machen?“
In ihren Augen spiegelt sich Verzweiflung wider.
„Höre auf, dir ein schlechtes Gewissen einzureden. Höre auf, deinen Eltern dankbar für etwas zu sein, wenn sie dir im gleichen Moment die Freiheit nehmen. Wenn sie dich wirklich lieben würden, dann gäben sie dir deine Freiheit.“
Ich rede wie ein Kirchenpfarrer oder irgendein gottverdammter anderer Moralist, doch das ist mir in diesem Moment egal. Sie muss verstehen, was ich ihr sagen will und nur das zählt.
„Ohne Freiheit bist du nichts. Du musst dein Leben selbst bestimmen können. Irgendein verdammt kluger Mensch hat mal gesagt: Viele von uns leben nicht, sie existieren nur. Verstehst du? Du willst doch leben, oder?“
Sie nickt nur stumm und erwartet, dass ich weiter rede. Mittlerweile hocken wir im Gras. Gegenüber. Im Schneidersitz.
„Ich glaube dir ja, dass das verdammt schwer ist. Sich von den Eltern zu lösen, seinen eigenen Willen durchzusetzen, gegenüber anderen zu bestehen. Und es gibt keine Garantie, ob du es schaffst. Du kannst auf dem Fluss der Freiheit kentern oder dich von der Strömung vorantreiben lassen. Und beides ist besser, als am Ufer stehen zu bleiben. Bitte, versuche es! Bitte, bleibe nicht am Ufer stehen!“
Ein Gefühl von Feierlichkeit schießt in mir empor und lässt mich einen Moment innehalten. Ich denke, dass ich mich gut geschlagen habe. Ich meine, ein Glänzen in ihren Augen zu erkennen. Wir schweigen eine lange Zeit. Sie denkt nach, hat ihren Kopf gesenkt. Und auf einmal hebt sie ihn wieder und sagt:
„Du hast recht. Ich sollte nicht am Ufer stehen bleiben.“
Als sie das gesagt hat, meine ich sie zum ersten Mal so zu sehen wie sie ist, nicht im Schatten ihrer Höhle und nicht zusammengekauert auf dem Sofa. Und mit einem Male wissen wir beide, dass dieser Moment etwas ganz besonderes ist. Ein Moment, den wir in der Erinnerung für immer festhalten sollten.
„Sebastian“, sie hält inne und ich hoffe, dass sie nun nicht... „ich liebe dich.“ Sie beugt sich zu mir herüber und versucht mich auf den Mund küssen. Ich schiebe sie weg und als ich ihren irritierten Blick sehe und sie die Enttäuschung in meinem Gesicht sieht, weicht unser gemeinsames Hochgefühl. Wir wissen es beide.
Sie liebt mich nicht aus Liebe.
Und ich hoffe, dass sie trotzdem irgendwann reif genug sein wird, um frei zu sein.