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Das kleine, rote Backsteinhäuschen
Das kleine, rote Backsteinhäuschen
Ein kleines, rotes Backsteinhäuschen war sehr traurig, denn es war es Leid immer nur an einem Fleck zu stehen. Immer musste es zusehen, wie die Menschen vorbei spazierten, die Autos dahin sausten und die lustigen Entchen den Weg an seiner Seite entlang watschelten. Jeden Morgen, wenn es aus seinen kleinen Fensteraugen blickte, sah es immer nur das gleiche Bild. Da waren die Bäckerei und die Schlachterei auf der anderen Straßenseite und daneben der kleine Park mit den hölzernen Bänken und dem bunten Spielplatz. Mit der Bäckerei und der Schlachterei auf der anderen Straßenseite sprach das kleine, rote Backsteinhäuschen schon lange nicht mehr, sie waren ihm zu hochnäsig.
„Uns ist es nie langweilig,“ hatten sie stets gesagt, „bei uns gehen die Leute ein und aus!“
„Bei mir riecht es immer so lecker,“ hörte es von der Bäckerei.
„Bei mir ist es immer angenehm kühl, selbst im heißen Sommer,“ prahlte die Schlachterei.
Im kleinen Backsteinhäuschen ging schon lange niemand mehr ein und aus. Ja, als Oma Lilli noch lebte, da war das etwas anderes gewesen. Da kamen die Frauen aus der Nachbarschaft zum Kaffeeklatsch und am Wochenende kamen Oma Lillis Enkelkinder zu Besuch. Das war immer sehr lustig und abwechslungsreich.
Damals, da strahlten seine kleinen Fensteraugen noch. Jeden Freitag hatte Oma Lilli sie geputzt und poliert. Einmal im Jahr hatte Nachbar Franz den Lattenzaun frisch angepinselt und Oma Lilli hatte sich um die Rosen, Nelken und Narzissen in dem kleinen Vorgarten gekümmert.
Vom Lattenzaun bröckelte heute die grau gewordene Farbe ab, von Nelken und Narzissen waren nicht einmal verwelkte Stiele oder Blätter übrig. Die Rosensträucher waren zu einem wilden Gestrüpp verwachsen. Das Schlimmste waren für das kleine, rote Backsteinhäuschen jedoch seine kleinen Fensteraugen. Schmutzig trübe waren sie geworden von Regen und Staub, und keiner war da sie zu säubern.
Während es so grübelte, hielt auf der anderen Straßenseite vor der Bäckerei ein eigenartiges Auto. Es war ein Auto, denn es hatte Räder. Andererseits hatte es Fenster mit rot karierten Gardinchen. Auch eine Fernsehantenne war oben auf seinem Dach befestigt. Das kleine, rote Backsteinhäuschen blinzelte durch seine kleinen Fensteraugen und rief: „He, du, du da drüben! Du bist doch ein Auto oder etwa nicht?“
„Ein Auto oder etwa nicht!“, kam die schnippische Antwort von der anderen Straßenseite. „Ein Wohnmobil bin ich, sieht man das nicht?“
„Ach, ja, ein Wohnmobil, - was ist ein Wohnmobil?“, fragte das kleine, rote Backsteinhäuschen.
„Oh je, oh je, wo bin ich nur hingeraten? Da kennt dieser kleine, graue Steinhaufen nicht mal ein Wohnmobil! Na, gut, ich will es dir erklären,“ sagte das Wohnmobil.
„Ich bin zwei Dinge zugleich. Ich bin ein Auto aber auch ein Haus. Einen Motor habe ich, Räder und ein Lenkrad. Mit meinen zwei Scheinwerferaugen kann ich weit nach vorne schauen. Auf meinem Rücken trage ich ein kleines Haus. Es hat ein Schlafzimmer, einen Wohnraum mit Küche und sogar eine Toilette.“
„Ja, das kenne ich!“ unterbrach das kleine, rote Backsteinhäuschen das Wohnmobil, „eine Schnecke trägt auch ihr Haus auf dem Rücken.“
„Du spinnst wohl!“ schimpfte das Wohnmobil, „ich bin doch keine Schnecke, weißt du eigentlich wie schnell ich sein kann?“
„Vielleicht so schnell wie der Wind?“ fragte das kleine, rote Backsteinhäuschen etwas eingeschüchtert.
„So schnell wie der Wind und noch viel schneller!“ kam es stolz von der anderen Straßenseite.
„Du musst sehr glücklich sein,“ sagte das kleine, rote Backsteinhäuschen bewundernd und stellte sich vor wie es wäre, wenn es selbst so schöne, runde, weiche Räder aus Gummi hätte. Die ganze Welt würde es kennen lernen. Von höchsten Bergen hinunter schauen, durch endlose Täler rollen, mit den tosenden Wellen des Meeres um die Wette brüllen und dem Zirpen der Grillen lauschen.
„Ach,“ seufzte es, „du hast es gut.“
Währenddessen waren ein Mann und eine Frau aus der Bäckerei gekommen und in das Wohnmobil eingestiegen. Verdutzt blinzelte das kleine, rote Backsteinhäuschen durch seine kleinen Fensteraugen. War das nicht ...?
Nein! – Doch, das war er, der Peter, der Enkel von Oma Lilli. Aber er war so groß, so erwachsen.
„Hallo,“ rief das kleine, rote Backsteinhäuschen, „hallo, Peter, ich bin es, das kleine, rote Backsteinhäuschen. Erkennst du mich denn nicht mehr?“
Das Wohnmobil brummte zufrieden und die schwarzen Räder mit ihren silbern glänzenden Radkappen begannen sich zu drehen.
Die Frau sah aus dem Wohnmobil zu ihm herüber. Schön war sie, mit langen schwarzen Haaren und großen dunklen Augen. Und noch jemand lugte aus dem Seitenfenster. Ein kleines Mädchen mit blonden Locken und lustigen, roten Wangen.
Doch bevor das kleine, rote Backsteinhäuschen genauer hinschauen konnte, war das Wohnmobil schon am Spielplatz vorbei und die Straße hinunter gefahren.
„Was schreist du so,“ rief die Schlachterei von der anderen Straßenseite, „wer glaubst du wohl will dich besuchen oder gar in dir wohnen? Schau dich doch einmal an.“
„Ja,“ dachte das kleine, rote Backsteinhäuschen, „du hast ja Recht.“ Es wusste selbst in welch einem jämmerlichen Zustand es war, denn immer wenn es nachmittags von der Sonne beschienen wurde, spiegelte es sich gegenüber in dem großen, sauberen Schaufenster der Bäckerei.
Bei Regen tropfte das Wasser aus der Dachrinne auf seine Fensterbänke und lief über seine jetzt schmutzig grau roten Ziegel und es sah aus, als ob das kleine, rote Backsteinhäuschen weinte.
Auch jetzt war ihm zum Heulen zu mute. Doch dann schöpfte es wieder Hoffnung. Da, nun von der anderen Seite, kam das Wohnmobil zurück, rollte langsam am Spielplatz vorbei und kam vor ihm zum Stehen. Und wirklich, der Peter, die Frau und das kleine blonde Mädchen stiegen aus und gingen zur Pforte im Lattenzaun.
„Das sieht aber schlimm aus,“ sagte die Frau.
„Es ist arg verkommen in den letzten Jahren,“ nickte Peter zustimmend, und sein Blick schweifte hinauf bis zum Dach.
„Traurig sieht es aus,“ sagte das kleine Mädchen, „aber hübsch ist es.“
„Viel Arbeit wird es, bevor es wieder hübsch ist,“ sagte die Frau.
„Dann laßt uns mal anfangen,“ kam es auffordernd von Peter.
Bevor sie zu putzen und zu schrubben anfingen öffneten sie alle Fenster, und das kleine, rote Backsteinhäuschen atmete tief durch. Es kicherte leise vor sich hin, als die Frau mit einem Staubwedel die Spinnweben von Wänden und Decken entfernte, das kitzelte so schön. Es räkelte sich und quietschte vor Vergnügen, als seine verstaubten Dielen mit viel lauwarmem Wasser geschrubbt wurden, und es genoss den Augenblick, als der schaumgetränkte Schwamm sanft über seine kleinen Fensteraugen wischte.
Traurig wurde es wieder, als bei Einbruch der Dunkelheit alle hinausgingen, die Eingangstür verschlossen und in das Wohnmobil einstiegen. Wieder war es allein, und wieder beneidete es das Wohnmobil, das nun an seiner Seite auf dem Weg der Entchen stand.
Vor lauter Aufregung war das kleine, rote Backsteinhäuschen am nächsten Morgen schon vor dem ersten Sonnenstrahl wach und wartete ungeduldig, dass Peter und seine Familie aufstehen würden. Selbst die Bäckerei, die doch sonst immer als erste wach war schlief noch tief und fest.
Endlich nach langem Warten öffnete sich die Tür des Wohnmobils. Das kleine, blonde Mädchen kletterte die zwei Metallstufen hinunter und schaute kess nach oben.
„Na“, sagte es, „hast du gut geschlafen, kleines Häuschen? Heute machen wir dich noch viel feiner. Papa wird Farbe kaufen und so. Mama hat gesagt, wir brauchen auch neue Blumen und Sträucher. Dann kommt noch ein Mann, der dein Dach repariert und einen neuen Zaun bekommst du auch.“
„Neue Blumen, ein neuer Zaun und viel frische Farbe,“ wiederholte das kleine, rote Backsteinhäuschen für sich, und es wurde ihm ganz schwindelig vor lauter Glück. Und wirklich, es dauerte nur wenige Tage und die Leute, die am kleinen, roten Backsteinhäuschen vorbei spazierten, blieben stehen und sagten: „Sieh mal, was für ein feines Häuschen das ist!“
Die Entenfamilie, die sonst über alles schnatterte, schimpfte nicht einmal darüber, dass ihr das Wohnmobil den Weg versperrte. Und noch etwas ganz Aufregendes geschah. In allen Zimmern wurden neue Möbel aufgestellt, neue Bilder aufgehängt und bunte Teppiche verlegt. Als dann noch Peter und seine Familie die erste Nacht im kleinen, roten Backsteinhäuschen schliefen, wusste es, dass es nun nicht mehr alleine sein würde.
„Guten Morgen, liebe Freundin,“ säuselte die Bäckerei, „ich habe schon so lange der Metzgerei gesagt, dass du eigentlich etwas ganz Besonderes bist! Aber leider bist du auf der anderen Seite der Straße.“
„Was ist an ihm denn ganz besonders?“ frotzelte die Metzgerei. „So ein bisschen Farbe, ein neuer Zaun und ein repariertes Dach bedeuten doch gar nichts! Es ist klein und unscheinbar, einfach unbedeutend.“
Das Wohnmobil mischte sich ein.
„Es hat immerhin seinen Platz. Es weiß, zu wem es gehört, wer seine Freunde sind.“ „Ach ja, seine Freunde. Wo waren denn die in den letzten Jahre, die Freunde?“ höhnte die Metzgerei.
„Freunde sind dann da, wenn man sie wirklich braucht, glaube ich,“ sagte das Wohnmobil ganz leise und fuhr fort: „Außer dem alten Fritz habe ich niemanden. Ich werde immer nur für eine Woche oder zwei ausgeliehen. Danach stehe ich immer in einer großen Halle oder draußen davor. Der alte Fritz macht mich jedes mal sauber, wenn ich zurückkomme. Ist etwas während der Fahrt zerbrochen oder irgend etwas nicht in Ordnung, so repariert er das. Im Sommer, ja, da ist das toll, da bin ich die ganze Zeit unterwegs. Doch dann im Winter will mir die Zeit nicht vergehen.“
Das Wohnmobil sprach noch eine ganze Weile weiter und das kleine, rote Backsteinhäuschen dachte darüber nach, wie glücklich es doch eigentlich sein konnte. Auch war es gar nicht mehr neidisch auf das Wohnmobil, denn ein solches Leben würde es sich nicht wünschen. Es war zwar wirklich klein, vielleicht auch unbedeutend aber dennoch hatte man es nicht vergessen. Es gab Menschen die es mochten und sich bei ihm wohl fühlten. Das kleine, rote Backsteinhäuschen hatte eine Familie, den Peter, seine schöne Frau und das kleine blonde Mädchen, dass übrigens Lilli hieß, so wie die Großmutter.