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Das Klavier
Wenn ich neuen Besuch bekomme, ist es stets das Klavier, dem der erste Ausruf gilt. Du hast ja ein Klavier! Toll! Spielst du? Dann folgt stets meine Geschichte: Habe mal gespielt. Mit neun angefangen. Schrecklicher Lehrer. Hat mitgesungen, auch wenn es ein instrumentalmusikalisches Stück war. Obwohl es mich rausgebracht hat. Echt? Ja. Das helfe. Hat mich an den Schultern gepackt und wollte mich beim Spielen wiegen machen. Was? Wie verrückt! Ja, sehr. Einziger Lehrer im Dorf. Daher lange bei ihm geblieben. Mit dreizehn dann doch aufgehört. Seither selbstständig Stücke geübt. Aber nur selten. Spaß blieb verloren seit Herrn Bolber. Lachen vom Gegenüber. Herr Bolber! Ja. Passt irgendwie, oder? Will aber bald mal wieder Unterricht nehmen. So einmal im Monat. Eigentlich nämlich Spaß am Klavierspielen. Will mir das nicht genommen haben lassen. Nein, das wäre schade!
Ich hasse das Klavier.
Immer wieder dieselbe Geschichte: Will mir das nicht genommen haben lassen.
Allein sein schwarzer Lack.
Immer wieder: Werde wohl bald Unterricht nehmen.
Seine 240 Kilo, die die Luft zu schwer zum Atmen machen.
Immer wieder: Gibt bestimmt auch gute Lehrende.
Seine Stille stinkt wie ein verwesender Vogel.
Immer wieder: Habe eigentlich Freude daran.
Ich stelle mir oft vor, wie ich das Klavier mit meinem Hammer zertrümmere. In meiner Fantasie können mir die berstenden Saiten nichts anhaben. Sie schlagen mir nicht um die Ohren, sondern sacken einfach in sich zusammen. Alle. Unter meinen unnachgiebigen Schlägen klirren Tasten. Elfenbeinfarbene Keramik und schwarzer Lack splittern, bedecken den Boden, auf dem ich stehe. Mein Schweiß schmiert die Saiten. Lose Filzköpfe der Hämmerchen bleiben an ihnen kleben. Holz bricht krachend auseinander. Der Resonanzboden und das Gehäuse bilden nur noch einen Trümmerhaufen.
Morgen ziehe ich um. Um 11:00 Uhr holt die Transport-Firma das Klavier. Vom dritten in den ersten Stock, das macht 448 Euro. Plus Versicherung von 30 Euro. Es ist der dritte Transport in vier Jahren. Werde wohl bald mal wieder Unterricht nehmen.
„Hallo, hallo“ ruft es im Treppenhaus. „Wir kommen jetzt hochgestiefelt.“ Nicht die Leute vom Sperrmüll, die einen Trümmerhaufen abholen wollen, sondern zwei gut gelaunte Männer, die Klaviere und Flügel transportieren.
„So, so, so. Dann wollen wir Ihre kostbaren 240 Kilo mal abholen. Guten Tag, erst mal“. Ein Grinsen. Auch der zweite Mann erscheint nun vor mir auf dem Treppenabsatz.
„Guten Tag“, grüßt er.
„Wo steht es denn, das gute Stück?“ Ich führe die Männer ins Wohnzimmer.
„Gutes Klima hier. Ob Sie´s glauben, oder nicht, gibt auch immer wieder mal Menschen, die ihr Klavier in die Küche stellen. Auch noch an eine Außenwand. Südseite. Man fragt sich, wieso wer ein Klavier hat, wenn er alles darauf anlegt, es zu beschädigen.“
Die beiden Männer keuchen, prusten, stoßen scharf Luft aus. Pause. Immer wieder sprechen sie sich ab. Du so. Ich so. Wir dann so. Ja, gut so. Pause. Mach du mal das. Genau. Stopp. Alles klar. Ich werd hier mal. Ja, mach. Weiter. Lass es kommen. Letzte Stufe. Das war´s.
„Tja, du besaiteter Mistbock, hättest du wohl nicht gedacht, dass du heute noch mit uns an die frische Luft kommst!
"Sind unten! Adresse haben wir ja. Bis gleich!“, ruft einer hoch.
Ich fahre ihnen hinterher. Wenn ich Gas gebe, könnte ich ihnen reinfahren. Wenn ich Glück habe, steht es ganz hinten im Heck.
Nach 40 Minuten sind wir da. Ich gehe voraus und öffne die Haustür und die Wohnungstür. Im Wohnzimmer warte ich auf die Transporteure.
Das Klavier soll hier in die Wandnische. In der rechten Ecke der Wandnische liegt eine Staubfluse. Ich versuche, sie mit dem Fuß wegzufegen. Es gelingt mir nicht. Ich lecke meine Hand an und haue klatschend auf die Stelle, wo die Fluse liegt. Sie bleibt kurz kleben, fällt aber auf dem Weg zum Mülleimer wieder ab. Ich lecke die andere Hand an, diesmal mit noch mehr Spucke. Endlich bleibt sie kleben. Ich forme einen kleinen Ball aus ihr und werfe sie weg. Als ich mir die Hände wasche, höre ich schweres Atmen im Hausflur.
„Stop! Ich bin noch nicht so weit. Was bist du denn plötzlich so hektisch? Lass uns alles in Ruhe machen.“
„Hast Recht.“
Sie schieben es in die Wandnische und fixieren dann die Rollen.
„Mensch, die ist ja wie gemacht für Ihr Klavier!“
Ich bezahle die Männer und schließe die Haustür.
Die Wohnung ist leer, bis auf das Klavier in der Nische und mich. Ich stelle mir vor, wie sich die Wände links und rechts vom Klavier langsam aufeinander zubewegen und das Klavier zwischen sich zerquetschen.
Inzwischen lebe ich seit sechs Wochen in der neuen Wohnung. Nicht einmal war Besuch da. Ich könnte es nicht ertragen. Nicht wieder dieselbe Geschichte.
An meinem Geburtstag habe ich dann doch Besuch. Die energischen Schritte meines Vaters kommen vor meiner Haustür zum Stehen. Ich öffne die Tür.
„Hallo Sohnemann“, sagt er. „Mensch, jetzt bist du schon fast dreißig. Dann zeig mal deine neue Wohnung.“
„Walter, lass mich meinen Sohn erst mal drücken. Hallo mein Schatz. Alles Gute zum Geburtstag.“ Meine Mutter drückt mich. „Schön, dass wir kommen durften.“
„Klar, Mama.“
„Wie geht es dir? Hast du heute noch was schönes vor?“
„Gut so weit. Ich – “
„He, Sohn, komm mal rüber, dein Geschenk wartet“, ruft mein Vater aus dem Wohnzimmer.
Ich gehe rüber. Ahne es bereits. Meine Mutter ruft hinterher: „Tut mir leid, ich habe ihm gesagt, es ist Schwachsinn.“
Der Deckel des Klaviers ist geöffnet. Auf der Ablage steht aufgeschlagen ein neues Notenheft. Mein Vater sitzt auf dem Hocker und beginnt mühelos zu spielen. Wiegt sich vor und zurück, so wie ich es auch hätte tun sollen. Ich blättere um, er spielt weiter, ich blättere um, er spielt weiter. Zwanzig Minuten Spieldauer hat Schuberts Komposition.
Nach acht Minuten reißt meine Mutter die Noten von der Ablage.
"Genug jetzt, Walter! Werd´ erwachsen. Er spielt nicht mehr."
Er beachtet sie nicht. Lässt die Finger auf der Tastatur liegen.
„Wäre schön, wenn du das an meinem sechzigsten mit mir spielst. Zwei Hände reichen nun mal nicht. Das haben wir gerade gehört.“
„Walter. Nicht heute!“
„Was denn? Andere Väter haben nicht so bescheidene Wünsche! Ich wünsche mir nur zwei weitere Hände für Schuberts Fantasie in f moll. Ich verlange ja gar nicht alle vier von ihm!“
"Du hast keine Ahnung, wie sehr du mir damit auf den Geist gehst, Walter."
"Jetzt werde nicht theatralisch, Anne."
"Sagt der Mann, der acht Minuten lang zweihändig ein Stück für vier Hände spielt. Sagt der Mann, der absurde zwanzig Minuten lang zweihändig ein Stück für vier Hände spielen würde. Er. Spielt. Nicht. Mehr."
Nachdem sie weg sind, gehe ich ins Wohnzimmer und betrachte die Noten. Dann meine Hände. Es sind meine Hände.
Das Klavier muss weg.
Ich bestelle eine Klavierstimmerin.
„Was schätzen Sie, wie viel kann ich dafür nehmen?“
Sie erfragt einige Informationen und untersucht es genau.
„Ich vermute zwölftausend.“
Ich verkaufe es für fünftausend an eine Grundschule und engagiere für achthundert zwei weitere Hände für den sechzigsten. In die Nische lasse ich eine Bar bauen. Noch zwei Wochen bis zum sechzigsten. Ich sende Einladungen für den gleichen Abend raus. Einweihungsparty!