Das Klassentreffen
Das Klassentreffen
15 Jahre waren vergangen, als der sogenannte „Ernst des Lebens“ begann. Oder auch die Schulentlassung und damit der Eintritt ins Berufsleben. Grinsend erinnerte Ben sich daran, dass diese Phrase das erste Mal bereits während der Einschulung gebraucht wurde, als er gerade sechs Jahre alt war. Später nochmals bei der Überreichung des Gesellenbriefes.
„Hätte nur noch gefehlt, dass der Standesbeamte die gleiche Floskel gebraucht hätte“, dachte er sich, als er die Einladung zu einem Klassentreffen erhielt.
Er blickte mit gemischten Gefühlen auf die Schul–und Lehrjahre zurück; war weit davon entfernt, diese Zeit im Nachhinein mit verklärtem Blick durch die rosarote Brille zu betrachten. Allzu oft fragte er sich, warum zum Beispiel die Winkelfunktionen seinerzeit als enorm wichtig dargestellt wurden, für die er jetzt, in leitender Position tätig, keinerlei Verwendung hatte. Denn mit Landvermessung hatte er nichts zu tun. Er brauchte auch keinen komplizierten Winkelmesser und Taschenrechner, um die Höhe eines Baumes zu errechnen: Mit einem Stab und Zollstock ging es auch! *Anmerkung am Ende
Bei der Erinnerung daran, irgendwelche historischen Daten auswendig zu lernen wurde ihm jetzt noch übel. Seit einiger Zeit beschäftigte er sich aus reinem Interesse damit und verglich das in der Schule vermittelte „Rüstzeug“ mit seinen jetzigen Erkenntnissen. „Das war nur stures Einpauken ohne die Zusammenhänge auch nur andeutungsweise zu erklären, geschweige denn zum Denken anzuregen“; so sein ganz persönliche Resümee zu dieser Thematik. Dazu kamen noch die Aussagen von einem Herren in schwarz, der von dem grenzenlosen Erbarmen des Herren laberte und ihm eine saftige Ohrfeige verpasste, weil er einmal den Gottesdienst geschwänzt hatte.
Aber es war ja nicht alles schlecht. Mit etwas Wehmut dachte er an seine erste Freundin aus der Parallelklasse und die sehr attraktive Englisch–Lehrerin, in die er sich damals über beide Ohren verliebt hatte.
Vor einigen Jahren verließ er seine Heimatstadt, weil seine nun Ex-Gemahlin im Norden wohnte und er damals bei ihr sein wollte. Frau und Kinder waren nun weg, dafür der gute Job geblieben.
Sehr frühzeitig machte er sich auf den Weg zum Treffen, weil er vorher noch sehen wollte, wie und ob sich die Stadt verändert hatte. Das Bild war durchwachsen. Einige Gebäude waren sehr gepflegt, während andere verfielen: Ihm fiel dabei auf, dass früher eher unscheinbar anzusehende Fachwerkhäuser einen neuen Anstrich bekommen hatten. Die restaurierten Holzelemente und deren Inschriften bildeten dazu einen harmonischen Kontrast, während sich der frühere Stolz der Stadt – die in den 50er Jahren gebaute Schule - durch Risse in der Fassade und ungepflegtem Vorhof nicht gerade positiv hervorhob.
„Schön war der Bau noch nie … Ist jetzt wohl ein Kandidat für die Abriss-Birne“, dachte sich Ben.
In einer Nebenstraße parkte er sein Auto. Gemächlich ging er durch die Häuserreihen, in denen er seine Kindheit verbracht hatte und hing seinen Erinnerungen nach. Sein Interesse galt dem Stadtpark: Hier hatte er Fußball gespielt, das erste Mal ein Mädchen geküsst und allerlei mehr. „Ich möchte nicht wissen, wie viele Erstgeborene in diesem Stück Wald gezeugt wurden – oder vielleicht immer noch werden“, dachte er sich grinsend, als er einem jungen verliebten Paar begegnete.
Eine der Kirchturmglocken läutete vier Mal, dann ertönte die Stundenglocke mit sieben Schlägen. Der Beginn des Treffens war für acht Uhr angesetzt; bedächtig ging Ben zum Auto zurück und fuhr zu der Gaststätte, wo das Beisammensein stattfinden sollte.
Mit Hallo wurde Ben von seinen früheren Klassenkameraden begrüßt. Schnell merkte er, dass einige ihren jugendlichen Überzeugungen treu geblieben waren. Ben führte ein ganz interessantes Gespräch mit Erwin. Der Sohn eines Landwirts prangerte während der Schulzeit die Belastung der Flüsse und Bäche durch Überdüngung von der Landwirtschaft an, regte sich über die Einleitung von schlecht geklärtem Wasser von Seiten der nahe gelegenen Papierfabrik auf und hatte mit seinem Vater ernsthafte Auseinandersetzungen, weil Erwin seine Art der Viehhaltung als Tierquälerei bezeichnete.
Er charakterisierte seine aktuelle Situation folgendermaßen: „Nachdem mein Vater starb, habe ich den Hof übernommen. Nun … es ist mir nur zum Teil gelungen, meine Vorstellungen umzusetzen. Schließlich muss ich meine Familie vom Ertrag ernähren. Es sind unglaublich viele Vorgaben zu beachten, von denen ich damals keine Ahnung hatte. Denke nur mal an die Krümmung der Gurken oder die Größe und Form der Kartoffeln. Ich konzentriere mich mittlerweile auf den Anbau traditioneller Früchte und Getreidesorten. Oft bin ich hart am Limit der Richtlinien. Nun ja: Mit etwas Mühe und Überredungskunst konnte ich Gleichgesinnte finden, die zu Abnehmern meiner Produkte wurden. Zunehmend kommen Privatleute zu mir, die nicht mehr beim Discounter kaufen wollen. Ich habe dadurch zwar mehr Arbeit und weniger Profit als meine Berufskollegen, aber ich fühle mich besser dabei.“
Sein damaliger Nebenmann Jürgen sorgte bei Ben für eine Überraschung: Nur mit Ach und Krach kam er über die Hürden der Versetzungen, weil er ganz einfach keine Lust zum Lernen hatte. Was nicht heißen soll, dass er dumm war. Aus Sicht der Lehrer war er ganz einfach stinkend faul. Ben erinnerte sich, dass Jürgen mitleidig belächelt wurde, weil er bei seinem Vater Zimmermann lernte. Der war als Hungerleider bekannt; also nicht sonderlich erfolgreich. Und jetzt … Jürgen sagte nur:
„Holz hat mich von klein auf fasziniert. Das ist ein lebendiger Werkstoff; einer der ältesten, den der Mensch kennt. Man muss es fühlen, sehen und riechen. Der Rest kommt dann von selbst.“ Ben konnte zuerst damit nichts anfangen. Aber Jürgen geriet ins Schwärmen. „Nimm mal einen Schrank, der jahrelang irgendwo herumstand. Mit wenigen Mitteln kannst du ihn wieder in altem Glanz erstrahlen lassen. Du vermagst natürlich, ganz was Neues machen. Sieh dir mal die Wurzelholzelemente an, die man in sehr teuren Autos als exklusives Extra verbaut. Das ist eine ganz andere Hausnummer als der Plastik – Müll.“
Der frühere Klassenkasper Rainer hatte immer noch lustige Sprüche drauf, war aber tiefsinniger geworden. In Mathe war der nie eine Leuchte; dafür war sein Umgang mit der deutschen Sprache umso besser. Er war bodenständig wie früher. Lernte erst Buchbinder, um dann Lokal – Redakteur in der örtlichen Provinzzeitung zu werden.
Ben ließ die Kumpels stehen und wandte sich seiner ersten Freundin aus der Parallelklasse zu.
Ben war überrascht von ihrer Erscheinung. Aus dem etwas hausbackenen Mädchen war eine attraktive junge Frau geworden.
„Hallo Heike! Es ist schön, dass du gekommen bist. Und ohne Schmus: Du siehst phantastisch aus!“
Sie freute sich offensichtlich über sein Kompliment. Konnte sich die alten Sticheleien aber nicht verkneifen:
„Du alter Charmeur ... Kannst es einfach nicht lassen, die Mädels anzubaggern. Und? Was treibst du so?“
In aller Kürze war dies erzählt. Bei Heike war es aber noch kürzer: „Lehre, geheiratet; jetzt Hausfrau und Mutter.“
Ben war über diese Ansage geschockt. Zu Schulzeiten hatte sie sich ganz begeistert in der Laienspielgruppe engagiert und brillierte mit sehr guten Beiträgen in den Diskussionen. Dieses früher so aufgeweckte, an vielen Dingen interessierte Mädchen war jetzt das Heimchen am Herd?!
Im Laufe des Abends unterhielt er sich noch mit anderen ehemaligen Mitstreiterinnen. So ähnlich wie mit Heike war es mit den meisten. Herausstechend war dabei neben Heike die blonde Erika aus seiner Klasse. Brav hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht, fiel niemals irgendwie auf. Kennzeichnend war ihre gestochen scharfe und deutliche Handschrift. Immer gute Zensuren; aus Sicht der Lehrer eine sehr fleißige Schülerin. Das Ergebnis: Lehre zur Einzelhandelskauffrau in einem Schuhgeschäft, nach Abschluss geheiratet, Mutter von zwei Kindern. Inzwischen geschieden. Sie beklagte sich über ihren Ex mit den Worten „Der zahlt nicht!“
Ben war innerlich entsetzt und bemühte sich redlich, dies nicht zu zeigen. Später, nach ein paar Bieren, unterhielt er sich mit Rainer darüber. Der winkte nur ab.
„Alles bekannt, Ben. Kalter Kaffee. Mit einigen Lehrern habe ich beruflich zu tun. Die machen auch nur ihren Job und sind noch frustrierter als du. Sie haben ihre Vorgaben und müssen ihren Schützlingen den Müll eintrichtern, der von oben diktiert wird. Wer als Pädagoge im Mittelfeld mitspielt, hat seine Ruhe. Engagierte Quertreiber werden auf vielerlei Wegen aussortiert. Das Phänomen Bulimie – Lernen ist von vielen Seiten so gewollt. Denke nur einmal an Rektor Weißichnichtmehr und Pastor Gottistbarmherzig.“ Grinsend erinnerte Rainer mit einer Handbewegung an die Ohrfeige. „Aber du kannst nicht alles auf die Schule schieben. Jeder ist seines Glückes Schmied. Und … Nicht nur Rainer und Jürgen suchen sich ihre Auswege. Unterschätze die Mädels nicht! Ich vermute zum Beispiel, dass wir von Heike noch was hören werden. Sie schreibt zurzeit hobbymäßig und bildet sich per Fernschule in Sachen Chemie und Elektronik weiter. Hat deswegen auch Stress mit ihrem Göttergatten. Mal abwarten was kommt, wenn ihre Gören aus dem Gröbsten raus sind.“
Ben fiel die Kinnlade herunter. „Tja, mein lieber Ben, da staunst du! Jetzt mal unter uns: Warum bist du in den Norden gezogen? Sie hat Rotz und Wasser geheult als sie erfuhr, dass du dort geheiratet hast. Der Kerl, den sie jetzt an den Hacken hat, ist doch bloß zweite Wahl. Aber so ist Heike nun mal. Die zieht immer ihr Ding ohne Wenn und Aber durch. So sehr sie jetzt vielleicht - aber auch nur vielleicht - noch an dir hängen mag … sie würde sich niemals wegen dir scheiden lassen. Die große Liebe hat sie unter der Rubrik Jungmädchenträume abgebucht, macht jetzt Hausfrau und Mutter. Aber ohne sich dabei aufzugeben.“
Ben trank noch ein paar Bier; ging zur Toilette, übergab sich und schlief im Hotel seinen Rausch aus. Am Nachmittag fühlte er sich fahrtüchtig und fuhr mit Vollgas nach Haus.
*Die Höhe eines Baumes lässt sich folgendermaßen ermitteln: Man nehme einen Stab, der genauso lang wie der Arm ist. Man hält diesen Stab senkrecht, peilt mit der Unterseite des Stabes den Fuß des Baumes an und geht so lange rückwärts, bis das obere Ende des Stabes mit der Baumkrone deckungsgleich ist. Der Abstand vom Baum entspricht dessen Höhe.