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Das Kind, das nicht mehr leben darf
Sie liegt zusammengekrümmt auf den kalten Küchenfliesen und starrt vor sich hin. Starrt ins Leere oder sieht sich etwas an, das andere nicht sehen können. Vielleicht beobachtet sie ihre Gedanken? Vielleicht kann sie in ihren eigenen Kopf hineingucken? Um sie herum liegen die ausgerissenen Haare.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wenn ich diesen kleinen, zarten Körper da liegen sehe und so leise atmen höre, dass ich es gar nicht hören kann, dann tut das so weh, dass man nicht weitergucken will. Das tut so weh, dass man sich entweder umdrehen und alles schnell vergessen möchte oder man will sie hochzerren und sie anschreien. „Hör endlich mit dem Theater auf“, würde man schreien oder etwas wie: „Benimm dich wie ein normaler Mensch, du bist doch krank.“ Aber das würde sie ja gar nicht verstehen, sie kann ja auch gar nichts dafür und es täte mir dann gleich wieder leid , weil ich diese dünnen Ärmchen in den Händen spüre und diese großen dunklen Augen sehe. Da muss ich dann auch mal weinen. Und dann fragt sie „Warum weinst du denn?“ Und ich muss ihr wieder über den Kopf streichen und spüre kleine Stoppelhaare, wie Frauenbeine, die fünf Tage lang nicht rasiert wurden. Dabei passen Frauenbeine gar nicht zu ihr. Für Frauenbeine ist ihre Nase zu klein, ihre Augen zu unschuldig und ihr Nachthemd zu weiß. Aber ich gehe nicht weg und ich zerre sie nicht hoch und streichle ihr auch nicht über den Kopf.
Ich bleibe hier stehen und bewege mich nicht. Erst als sie beginnt ihre zerbrechlichen Hände zu Fäusten zu schließen, so dass ihre Hände ganz weiß und rot werden, wie Blut auf Schnee und als sie ihre Fingernägel in ihre Haut bohrt, da gehe ich zu ihr. Ich muss ihr die Fingernägel bald wieder schneiden, damit sie sich nicht kratzen kann. Vielleicht sollte man die Finger auch gleich abschneiden, damit sie keine Haare mehr ausreißt.
Ich nehme einen ihrer eiskalten Füße in die Hand und sie zieht ihn nicht zurück. Ich betrachte den kleinen, großen Fußzeh, diesen winzigen Fußnagel und fahre mit den Fingern über die zarte Haut bis sie zusammenzuckt. Da erst nehme ich sie in den Arm und muss tatsächlich ein bisschen weinen. Und sie tut gar nichts. Sitzt stocksteif auf meinen Armen, zu ängstlich um sich zu bewegen, damit nichts schlimmes passiert. Sie sitzt da, wie taub und blind und stumm. Vor allem stumm, denn seit dem hab ich ihre helle Stimme nicht mehr gefühlt, wie sie über meine Haut gerast ist und mich glücklich gemacht hat, wenn sie sich gefreut hat. Und das alles hat er uns genommen.
Ich trage sie in ihr Bett, in ihr rosarotes Zimmer, das nicht zu ihrer schwarzen Welt passt, viel eher noch der Teddybär, dem sie die Augen verbunden hat und der Hase, dem sie die Ohren abgerissen hat.
Ich mache das Licht aus und die Tür zu. Als ich selbst im Bett liege, da höre ich zwei kleine, nackte Füße, die über die Küchenfließen laufen. Ich schlucke und schlucke und denke an Pinguine und Sandstrand, nur nicht daran, dass sie gleich wieder auf dem Boden in der dunklen Küche liegt und vor sich hinstarrt.