Das Kind am Fluss
Das Wasser der Seine floss an mir vorüber, so wie meine Gedanken unaufhörlich weiter zu fließen schienen. Keine Lösung war in Sicht; keine Lösung, trotz der Stunden des Denkens. Ich beobachte die Wellen, die die Seine schlug. Wie seit je her beruhigte mich der Blick auf das Wasser, doch anders als sonst, wenn ich herkam um meine Gefühle und Gedanken zu ordnen, war mir bis jetzt noch gar nichts klar geworden. Ich stand schon eine kleine Ewigkeit hier, nach außen ruhig, mir starrem Blick auf das Wasser, doch ich konnte mich an keinen meiner Gedanken erinnern. Ich war wie benebelt, nichts schien einen Anfang oder ein Ende zu haben, alles floss auf eine eintönige, unauffällige und zugleich auch beängstigende Weise an mir vorüber.
Ich wusste nur, dass ich es getan hatte. Ich hatte es getan, es war leichter gegangen als ich geglaubt hatte. Die stille Wut in mir, die seit Wochen mein ganzer Antrieb gewesen war, hatte es leicht gemacht.
Der Kleine schlief. Er lag in den Körbchen zu meinen Füßen, schlief und ahnte nichts. Er verstand noch nicht, was das alles für ihn zu bedeuten hatte, wie wichtig dies alles nicht nur für sein späteres Lebens sein würde. Plötzlich traten mir Tränen in die Augen. Was hatte ich nur getan? Dieser winzige Wurm, der friedlich zu meinen Füßen schlummerte, tat mir unendlich leid. Ich hob ihn abrupt aus seinem Körbchen, nahm ihn auf meinen Arm und hielt ihn fest an meine Brust gedrückt. Er erwachte aus seinem süßen Schlaf. Diese unschuldigen blauen Babyaugen! Nein, bitte nicht, nicht weinen, mein Kleiner. Doch er hatte schon begonnen zu weinen und auch meine beruhigenden Worte halfen da nicht viel.
Mein Blick wandert zurück auf das Wasser, während ich den Kleinen an meiner Brust gepresst hin und her wiegte. Ich war ein Psychopath, eine Verbrecherin! Ich gehörte für immer weggesperrt! Ich konnte meine Tränen nicht länger zurückhalten. Die Sorgen, der ganze Kummer, den ich die letzten Monate unterdrückt oder in meiner stillen Wut nicht bewusst wahrgenommen hatte, brach aus mir heraus.
Ich weinte lange lautlos vor mich hin, beklagte im Stillen das Schicksal von mir und von dem Kleinen, den unschuldigen, kleinen Wurm.
In der Zwischenzeit hatte sich ein Mann neben mich an das Geländer gestellt. Er schaute aufs Wasser, sprach kein Wort und sah mich nicht an. Ich hatte nicht bemerkt, wie er neben mich getreten war. Stand er schon lange da? Hatte er mich beobachtet? Eine ganze Weile herrschte Schweigen, zwischen dem fremden Mann und mir. Mein Tränenfluss war versiegt und auch der Kleine war wieder eingeschlafen. Ich sah dem Wasser weiter zu, irgendwann würde es im Ärmelkanal angelangt sein, das Ziel seiner langen Reise.
„Das Leben stellt einem manchmal Aufgaben, die man nicht zu bewältigen glaubt. So geht es jedem Menschen einmal. Doch jede Aufgabe, die das Leben an uns stellt kann gelöst werden, mein Kind. Man überfordert uns nicht, mit unseren Aufgaben,“ sprach plötzlich der Mann neben mir mit einen unglaublich sanften Stimme ohne die Augen vom Wasser abzuwenden.
Ich musterte ihn unsicher und prüfend von der Seite. Er war ein älterer Herr, der wohl auf die 70 zuzugehen schien. Er bemerkte meine Blicke und schaute mir ins Gesicht. Seine Augen waren ruhig, weise und sprachen von einer großen Menschenkenntnis. Von ihm ging Sanftheit und Ruhe aus, die Vertrauen schuf. Seinen Kleidern nach zu urteilen, war er ein Geistlicher oder etwas in diese Richtung.
„Ein Kind ist für fast alle jungen Mädchen, Mädchen in den selben Alter, wie du, eine Katastrophe, etwas, das ihr ganzes Leben zerstört. Es zeugt von Mut, sich für das Kind zu entscheiden. Man zahlt einen hohen Preis dafür; ich habe jahrelang die Intoleranz der Gesellschaft, sogar der eigenen Eltern der Mädchen, miterlebt,“ er redete zum Wasser gewandt und beobachte nicht, ob ich zuhörte. „In den seltensten Fällen steht der Vater zu seinem Kind, wenn er denn davon weiß.“
Er machte ein Pause, als er bemerkte, wie ich zusammenzuckte. Er schwieg. Zum ersten Mal an diesem Tag nahm ich die Geräusche um mich herum wahr. Den Verkehrslärm, die lachenden oder redenden Menschen , das Kläffen eines Hundes, das Geräusch eines fahrenden Schiffes. Auch ich schwieg. Der letzte Satz des alten Mannes hatte etwas in mir ausgelöst, etwas getroffen.
„Das ist es, das ist es doch“, beendete ich schließlich das lange Schweigen, „Wenn er es doch niemals erfahren hätte! Er hätte es nie erfahren dürfen, niemals! Dann wäre alles gut geblieben!“, sagte ich tonlos. Der alte Mann stand unbeweglich dort, als ob ich zu dem Wasser gesprochen hätte. Wenn er eine Frage gehabt hatte, so stellte er sie nicht. Wieder Schweigen. Zeit verstrich.
„Wie oft wünsche ich mir, er hätte nie von dem Kind erfahren, wie oft! Doch alles Wünschen ist zwecklos, es ist geschehen.“ Ich machte eine kurze Pause bevor ich fortfuhr: „Es ist nicht mein Kind.“ Wenn den alten Mann diese Aussage überraschte, so zeigte er es nicht.
Der kleine Wurm schlief auf meinem Arm tief und fest, der Vormittag hatte ihn mitgenommen. „Hätte der Vater nie von diesem Kind erfahren, so wäre nun alles gut. – Der Vater ist ein phantastischer junger Mann. Ihm steht eine große Karriere bevor, er hat eine Unmenge Talent, doch das droht nun alles zerstört zu werden. Es wird alles kaputtgemacht, alles. – Diese Frau, diese widerliche Frau, wird alles ruinieren; alles das, was er schon vollbracht hat und vor allem das, was er noch hätte erreichen können. Sie ist dabei alles zu zerstören, ein ganzes Leben, nein, nicht nur ein Leben und ich verstehe nicht warum.“ Ich holte Luft. „Dieses Kind, ihr Kind, dieses arme, ahnungslose, unschuldige Wesen, ist für sie nur Mittel zum Zweck, nur das Werkzeug, was sie braucht um alles zu vernichten.“
Ich seufzte und umschlang den Kleinen fester. Er konnte sich noch nicht wehren, kannte Gut und Böse noch nicht und wusste nicht, was er anrichtete durch seine Existenz. Doch diesen arglosen Wurm traf nicht das geringste einer Schuld. Ich war still und dachte nach. Wieso sprach ich zu einem fremden, alten Mann?
„Der Vater ist ein liebenswürdiger Kerl aus strengem Hause. Seine Eltern sind wohlhabend und konnten deshalb sein unfassbares Talent fördern. Er hat schon viel gewonnen und wird noch viel mehr gewinnen werden. Er hat eine große Karriere vor sich, er wird berühmt und geliebt werden, wenn diese unsägliche Frau vorher nicht alles ruiniert,“ sprach ich leise.
Ich schaute immer noch dem Wasser meines Flusses, der Seine, beim fließen zu. Das Bild Laurent‘s, des Vaters des Kleinen tauchte vor meinem inneren Auge auf. Der lachende, der scherzende Laurent, der Laurent, der als strahlender Sieger nach dem Rennen auf dem Podest steht und die Ehrungen empfängt, der sich ernst auf seine Arbeit konzentriert, der die Reporter auf die Schippe nimmt, der verträumt und mit leichtem Lächeln auf den Lippen im Schatten einer Pappel sitzt, der Laurent, der glücklich meine Schwester küsst.
„Laurent ist Rennfahrer, ein großartiger, exzellenter Rennfahrer, mit einer unbeschreiblichen Fahrzeugbeherrschung und einer Leidenschaft für seinen Sport, die Ihresgleichen sucht. Er hat mit dem, was er kann, eine große Zukunft vor sich und wird es weit bringen.“ Ich biss mir auf die Lippen. „Es ist Wahnsinn, ihn beim Fahren zu beobachten. Selbst ein Laie sieht, was er fähig ist zu leisten. Zwar macht er noch Fehler und ist noch lange nicht perfekt, doch seine Überholmanöver zeigen schon die Klasse, die in ihm steckt.“
Ich dachte an die vielen Wochenenden, die ich mit meiner Schwester an der Rennstrecke verbracht hatte. „Laurent ist trotz des Rummels um seine Person nicht vom Boden der Tatsachen abgehoben, kein bisschen arrogant oder überheblich. Er ist intelligent, witzig, gutaussehend und sehr emotional, - und, er liebt meine Schwester.“
Nach diesen Worten hielt ich inne und ließ der Erinnerung freien Lauf. In Gedanken liefen die Szenen, wie Akte in einem Theaterstück, vorüber. Ich gab mich ganz meiner Erinnerung hin.
Viel Zeit verging, bevor ich weiter sprach:„Ich habe sie beobachtet, diese Hexe. Ihr Lächeln, ihre Bewegungen, ich habe registriert, wie sie immer wieder versucht hat sich gekonnt in das richtige Licht zu rücken. Sie hat ihn provoziert, mit ihrer Stimme, ihren Augen und ihrem Körper. Und sie wusste, dass sie ihn irgendwann, wenn sie lange genug Geduld haben würde, in einem schwachen Augenblick erwischen konnte.“
Verzweifelt wanderten meine Augen über das Wasser, unruhig trat ich von einem Bein aufs andere. „Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, ich weiß nur, dass sie es geschafft hat. Sie hat ihn so lange becirct, so kirre gemacht, dass er in einem verfluchten Moment die Kontrolle über sich selbst verlor,“ sagte ich mit brüchiger Stimme.
Vor mir erschien wieder Laurent. Der Unglaube auf seinem Gesicht, als diese Frau ihm von seinem Kind erzählte. Die völlig Verzweiflung, das Elend, die Hoffnungslosigkeit. Der Ausdruck der Hilflosigkeit Laurent’s, meines Laurent’s, machte mich immer noch verrückt Dieses Bild, hatte mich getroffen, zu Boden geworfen und bis zum heutigen Tage verfolgt. Den starken Kämpfer Laurent so am Boden zerstört zu sehen, so hilflos, so verzweifelt. Für ihn brach eine Welt zusammen, seine Welt. Die Zufriedenheit, die Glücklichkeit, die im letzten Jahr so bezeichnend für ihn gewesen war, war von seinem Gesicht verschwunden und mit eingezogenen Schulter verließ er, fast schon heimlich, die Räume seiner Teammitglieder. Ich hatte ihn den ganzen Tag gesucht, um mit ihm zu reden, doch er war nicht auffindbar.
„Als sie ihm eröffnete, dass sie von ihm ein Kind bekommen hatte, brach die Welt für Laurent zusammen. Seine Miene und der Gesichtsausdruck dieser Frau, dieses Luders – das hat mir den Rest gegeben. Es war für mich wie ein Schlag mitten ins Gesicht. – Und das aller schlimmste dieser ganzen Situation ist, das diese Hexe, diese“, mir fehlten die Worte um das Böse dieser Frau auszudrücken, „sie hatte es eiskalt geplant gehabt, dieses unterdrückte, böse Lächeln auf ihrem Gesicht und die geheuchelte Verzweiflung haben sie verraten. Ich hätte mich auf sie stürzen und sie auf der Stelle erwürgen können!“
Warum tat sie Laurent sowas an? Warum nur? Ich weinte bittere Tränen. Wieso tat sie dem Laurent, dem talentierten, wundervollen Laurent, dem eine große Karriere bevorstand, das an? Laurent, mein Idol, oh Laurent.
„Diese Frau, dieses Luder, hatte es von Anfang an nur darauf angelegt, mit ihm zu schlafen und ein Kind von ihm zu bekommen um ihn dann fertig zu machen.“ Ich blickte auf den ungeliebten, kleinen Wurm. Seine Mutter benutzte ihn nur, liebte ihn nicht, für seinen Vater war er der Untergang.
„Durch dieses Kind kann sie ihn leicht erpressen und alles bekommen was sie will, Geld und Berühmtheit. Laurent ist aus strengem Hause. Er steht zu seinen Fehlern und will zu diesem Kind stehen. Doch wenn er das macht, dann wird seine Familie ihn verstoßen! Es ist eine Schade für diese Familie, wenn ihr einziger Sohn mit einem Model aus unterster Schicht, das er noch nicht einmal liebt, ein uneheliches Kind hat,“ erklärte ich die Lage, in die Laurent gelangt war. „Die Familie bedeutet für Laurent sehr viel.“
Ich schluckte. „Außerdem ist er verlobt, und diese Verlobung wird gelöst werden, wenn die Sache an die Öffentlichkeit gerät. Meine Schwester und er wollten in drei Monaten heiraten. - Sie hat ihm verziehen, nur meine Familie wird ihm diesem unheilvollen Seitensprung nicht vergeben.“
Ich fuhr mir durchs Haar. „Sie lieben sich. Meine Schwester erzählt mir jeden Tag, wie glücklich sie ist, so einem liebenswerten, phantastischen Mann gefunden zu haben. Er vergöttert sie, trägt sie auf Händen.“
Ich schwieg um mich und meine Gefühle in Griff zu bekommen. Nachdem ich mich gesammelt hatte, redete ich stockend weiter:„Wenn er meine Schwester und seine Familie verliert, wird er daran zu Grunde gehen. Er wird für den Rest seines Lebens ein gebrochener Mann sein.“
Ich zitterte am ganzen Körper, musste Luft holen um weiter sprechen zu können. Ich musste weiter erzählen, es musste aus mir heraus. Seit Monaten quälten mich die Sorgen, seit Monaten hatte ich meine Tränen unterdrückt. „Es klingt unwahrscheinlich, aber er wird an der ganzen Geschichte eingehen. Er liebt meine Schwester zu sehr, ich weiß es, es ist nicht zu übersehen. Ein gebrochener Mann, kann kein guter Rennfahrer mehr sein, so wird auch das auf der Strecke bleiben und ihm verloren gehen.“
Kaum noch verständlich, von dem Kummer der letzten Monate geschüttelt, schluchzte ich: „Dann hat diese hinterhältige, grausame Frau endlich das erreicht, was sie wollte. Dann hat sie ihm die beiden Dinge, die er über alles liebte, meine Schwester und den Motorsport, geraubt, und ihn zerstört. Dann kann sie ihn ausnehmen, wie sie es möchte.“ Meine Stimme versagte. „Dann hat sie ihn vernichtet.“
Ich klammerte mich am Geländer fest und umschlang mit dem anderen Arm den Kleinen fester um die Wärme des kleinen Kindes an meiner Brust zu spüren und weinte hemmungslos. Laurent, oh, Laurent! Und meine geliebte Schwester! Und dieses unglückliche Wesen hier, dieses Werkzeug des Bösen, dieses unschuldige Kind! Oh, Laurent, die Strafe für dein Vergehen ist zu hoch! Ich stand da, und heulte einfach. „Laurent“, wimmerte ich immer wieder, „mein Laurent!“
Ich weiß nicht, wie lange ich weinte, es muss eine lange Zeit gewesen sein. Ich weinte so lange, bis keine Tränen mehr da waren. Der alte Mann stand neben mir, blickte auf das Wasser, bewegte sich nicht. Er stand da, wie ein Standbild aus Stein gemeißelt. Er ließ mich meinen ganzen Kummer ausweinen, bis keine Tränen mehr da waren. Dann hob er seinen Kopf und sah mich mit seinen, ruhigen, weisen Augen, blau wie das Eismeer, an. Er sah mich nur an, mehr tat er nicht. Und ich wusste, dass er mich verstanden hatte.
Ich hatte mir, bevor ich das Verbrechen beging, geschworen, niemals ein Wort darüber zu verlieren, doch nun war es sowieso zu spät. Ich hatte schon zuviel gesagt, den Rest der Geschichte konnte ich jetzt auch noch zu Ende bringen. Ich blickte zu dem alten Mann, und laß in seinen Augen, dass er über das, was ich nun berichten würde, schwiege, so wie er die ganze Zeit geschwiegen hatte. Er nickte unmerklich und wandte sein Gesicht erneut dem Wasser zu. Auch ich gab mich dem Anblick des Wassers hin, der Fließbewegung. Dann begann ich:
„Es ging leicht. Es war leichter gegangen, als ich geglaubt hatte. Die stille Wut in mir, die in diesen Wochen mein ganzer Antrieb gewesen war, hatte es mir leicht gemacht. Eine Woche lang habe ich sie beobachtet, ihr Kommen und Gehen. Es war einfach gewesen, ihren Schlüssel zu klauen. – Ich wusste, dass sie heute Morgen nicht da sein würde.“ Ich sprach schnell und ohne Pause.
„Die Nachbarn waren verreist, ich habe keine Zeugen gehabt. Die Wohnung war unordentlich, Kleider und Make up lagen im ganzen Wohnzimmer verstreut. Ich fand das Schlafzimmer schnell. Der Kleine lag in seinem Körbchen und schlief. Sie ließ ihn wohl oft allein zu Hause, weil sie sich nicht um ihn sorgte, und das gab mir meine Möglichkeit. Ohne mich weiter in der Wohnung umzuschauen, verließ ich dieselbe. Niemand hat mich gesehen. Es ging leicht.“
Der Kleine war aufgewacht, doch diesmal schrie er zum Glück nicht. „Was wird nun aus dem Kinde. Was willst du tun, mein Kind?“, fragte der alte Mann, mit seiner sanften, ruhigen Stimme.
Ich sah über die Seine hinweg, auf das andere Ufer, ich nahm nichts wahr, ich sah nichts. „Ich weiß es nicht, oh mein Gott, ich weiß es nicht.“
Eure
kaschi
P.S. Vielleicht ein bisschen lang geraten, die Geschichte, aber ich kann mich halt nich kurz fassen. Danke, dass ihr euch trotzdem die Zeit genommen habt, sie zu lesen, denn es ist mein erster Versuch was ordentliches zu schreiben...
[ 28.06.2002, 22:48: Beitrag editiert von: kashila ]