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Das Kennenlernen im Zelt
Die Wetterexperten verkünden, dass es heute wahrscheinlich regnen werde. Kein guter Tag zum Schlendern. Mit einem Schirm bepackt trete ich vor die Tür. Es regnet kaum. Niesel, der in der Luft hängt. Der Dunst erfrischt mein Gesicht. Ich gehe los.
Keine zehn Minuten später erreiche ich den Treffpunkt. Ich schaue mich um. Niemand da. Bin ich zu früh? Ich bin es. Eine Minute. Ich sehe in das Schaufenster zu meiner Rechten, beachte aber nicht die Auslage, sondern nur die Spieglung. Interessant. Ich mustere mich wie ein Angebot.
Nach einigen Minuten erscheint sie. Doch wo kommt sie plötzlich her? Es gibt nur eine Einfahrt auf den Parkplatz und die hatte ich die letzten paar Momente stets im Blick. Ich habe ihr Auto aber nicht einbiegen sehen. Einen Augenblick lang entflammt in mir der Wunsch, sie zu fragen, mit was sie die vergangenen Minuten verbracht habe. Dann wird mir aber schnell bewusst, dass mich das nichts mehr angeht. Die Zeiten, in denen meine Nichte mir noch all ihre Geheimnisse erzählt hat, sind längst vorbei.
Wir gehen los. Vom Treffpunkt bis zum Volksfest in der Kleinstadt ist es nicht weit. Es gilt, einen kleinen Ampel-Hürdenlauf zu bewältigen. Die Lichter schalten schnell von rot auf grün um. Ich wundere mich, weil das sonst nicht so ist. Während wir über die Gehwege spazieren und dabei ein paar Kreuzungen überqueren, fängt sie zu reden an. Mir fällt auf, dass sie ihre Sätze mit derselben Vertrautheit wie früher vorbringt. Der Inhalt dreht sich noch immer um nichts anderes als ihren kranken Mann, dessen Zustand sich von Tag zu Tag verschlechtert. Sie scheut nicht davor zurück, mir auch blutige Details aus ihrem Alltag zu erzählen. Je länger wir gehen, desto schneller rast mein Puls.
Wir erreichen die ersten Buden. Sie scheint es nicht zu bemerken, redet weiter von Geschwüren, Drainagen und Schlafmangel. Ich bleibe stehen und unterbreche sie, einigermaßen sanft, indem ich nach vorne nicke und frage:
„Sollen wir da mal stöbern?“
Sie bejaht und meint mit einem Lächeln, das wahrscheinlich nur ein Reflex ist:
„Oh ja, lass uns doch überall ein wenig gucken!“
Dennoch geht sie weiter. Ich rufe ihr nach:
„Hier! Lass mich kurz drüber gucken!“
Sie kommt zurück, lächelt und stellt sich neben mich, sieht nicht zur mir, aber auch nicht auf die Waren. Ihr Blick scheint an allem vorbeizugehen. Tiefe Falten prägen ihre Stirn. Hatte sie die bei unserer letzten Begegnung vor einem Jahr auch schon?
Nur mit Mühe schaffe ich es, meine Augen von ihr zu nehmen. Die unendlich vielen Buchtitel vor mir erschlagen mich. Dennoch will ich an diesem Ort einen Moment lang verweilen und sprachlos sein.
Doch plötzlich fängt sie wieder zu reden an, setzt ungeniert fort, wo sie gerade aufgehört hat. Da wende ich meinen Kopf ruckartig in Richtung Gehweg zurück und finde:
„Ach, ich komme eh nicht zum Lesen in der nächsten Zeit. Lass uns weitergehen!“
Sie folgt. Anscheinend macht sie ganz willig, was man ihr sagt. So wie sie es gewohnt ist.
Wir schreiten an diversen Ständen vorbei, bleiben nur selten stehen. Da sehe ich auf einmal, dass sie fast in Erbrochenes hineinläuft. Ich reiße sie da weg und rufe:
„Vorsicht! Du liegst gleich da!“
Sie nickt und sieht unglaublich dankbar aus. Wie sie sich da wegziehen ließ – leicht wie eine Feder. Ich schaue sie mir genauer an, erst zaghaft, dann direkter, weil ihr Blick sowieso leer in die Ferne zu schweifen scheint. Dabei fällt mir auf, dass sie noch dünner geworden ist. Womöglich registriert sie doch mehr, als ich denke, denn unvermittelt meint sie:
„In der letzten Woche habe ich drei Kilo abgenommen.“
Weil sie mir den Grund bereits detailreich erklärt hat, setzt sie lapidar hinterher:
„War ja klar. Aber dass es so viel sein würde, hätte ich nicht gedacht.“
Ich nicke und setze einen Blick auf, bei dem meine Mundwinkel nach unten abfallen und meine Stirn in Falten liegt. Das soll mein Bedauern ausdrücken. Ich hoffe, sie versteht das. Ein „Mir tut das sehr Leid“ kommt mir in dieser Situation deplatziert vor.
Wir gehen weiter, müssen noch so manche Pfütze umwandern. Offenbar sieht sie keine einzige davon. Ob es an ihrer starken Fehlsichtigkeit liegt? Ich mache mir ernsthafte Sorgen, dass sie irgendwann, wenn sie alleine durch die Straßen flaniert, auf irgendetwas ausrutschen und sich ein Bein brechen könnte. Dann verdränge ich diese Sorge und zeige auf ein Zelt:
„Da! Das ist doch interessant! Live-Musik, und man kann etwas essen!“
Sie nickt. Ihre Miene ist aber seltsam starr. Der Mund formt eine Linie, der Blick fixiert etwas. Oder irgendwen. Da stehen zig Leute in Trauben herum. Ich kenne keinen einzigen, weiß nicht, ob sie tatsächlich jemanden anschaut oder einfach einen verträumten Moment durchlebt.
Wir kehren in das Zelt ein. Sie schleicht hinter mir her. Eine Bedienung huscht durch die noch spärlich besetzten Reihen. Auf einer kleinen Bühne in der Front spielt eine Band Schlager nach.
Wir visieren eine Bank ganz hinten im Zelt an. Dort sind noch alle Plätze frei. Ich frage mich für einen bangen Moment, ob das so bleiben wird. Dann schiebe ich die Vorstellung, später von Menschenmengen umzingelt zu sein, weit von mir und platziere mich tollkühn auf das glasierte Holz. Kein Quietschen, kein Knarren.
Sie lässt sich neben mir nieder und stellt ihre Handtasche zwischen uns. Wieder wirkt ihr Blick so fern. Ich frage mich, wie traurig sie wirklich ist. Dann rauscht die Bedienung heran und will wissen:
„Was darf's denn sein?“
Recht groß und breit steht sie vor uns, die dunkelblonde Frau mittleren Alters, und hält einen dieser altmodischen Notizblöcke für Gaststätten in der einen sowie einen Kugelschreiber in der anderen Hand. Ihr gutmütiger Blick und ihre bestimmte Sprechweise fallen mir besonders auf.
Mir ist klar, was ich möchte. Dennoch schaue ich erst einmal zu meiner Nichte rüber. Ihr Blick hat sich verändert; sie sieht die Bedienung direkt an und möchte einen Cappuccino sowie eine Waffel mit Sahne. Ich atme auf und bestelle dasselbe. Die Bedienung kritzelt das Gewünschte auf ein Blatt, lächelt uns nacheinander an, murmelt „Danke sehr“ und rauscht wieder ab.
Ich blicke ihr einen Moment lang nach und lasse meine Augen dann über die anderen Bänke streifen. Hier und da sitzen vereinzelt Grüppchen, die angeregt miteinander plauschen. Dazwischen finden sich ein paar Menschen ohne Begleitung. Ich frage mich, ob sie auf jemanden warten oder einfach nur der Musik lauschen. Gerade als ich meinen Blick in Richtung Eingang schwenke und dort ein vermehrtes Menschenaufkommen ausmache, trifft mich die Stimme meiner Nichte recht unvermittelt:
„Die Dora von nebenan hatte einen Unfall! Die ist tot! Ein paar Tage danach gestorben! Das habe ich ihm gar nicht erzählt!“
Unüblich aggressiv schreit sie mir das ins Ohr. Ich sehe sie an und nicke verständig. Dabei fallen mir ihre weit aufgerissenen Augen auf, die von dunklen Rändern gerahmt sind. Ich suche nach einer Antwort, die sie aufheitern könnte, nach Worten, die ihr Kraft und Mut spenden. Mir fällt nur „Sicher besser so“ ein. Sie weiß nichts zu erwidern. Wir blicken stumm durch das Zelt, jeder für sich.
Nach ein paar Minuten sehe ich, wie die Bedienung mit einem großen Tablett auf uns zueilt. Flugs ist sie bei uns und serviert die Cappuccini und Waffeln mit lautem Geklirr. Meine Nichte fragt sofort nach der „Rechnung“. Ich frage mich, warum sie meint, für uns beide bezahlen zu müssen, sage aber nichts. Viel Zeit scheint sie nicht zu haben.
Nachdem sich die Serviererin bei uns verabschiedet hat, schiebe ich mir einen Löffel Kaffeeschaum in den Mund. Das macht meine Begleiterin nicht. Sie rührt in ihrer Tasse herum und nippt schließlich daran, während ihr Blick auf den Zelteingang geheftet ist. Ich frage mich nun wirklich, ob sie auf irgendjemand Bestimmtes wartet oder ob dieses verträumte In-die-Ferne-Gucken in den letzten Jahren zu ihrem üblichen Gesichtsausdruck geworden ist.
Ich lade mir ein Stück Waffel auf die Gabel und starre auch zum Eingang. Erst als ich das Gebäck im Mund spüre, bemerke ich, dass die Herzform zerstört ist.
Während ich vor mich hinkaue, sehe ich plötzlich eine unbekannte Person zielstrebig auf uns zuhasten. Ich schlucke hart, blicke zu meiner Nichte und sehe, dass auch sie in Richtung des Ankommenden schaut. Ich will von ihr wissen:
„Kennst Du den?“
Sie braucht einen Moment, bis ihre Stimme die richtige Tonlage trifft:
„Mmm … hmm. Ja … ja, von der Arbeit.“
Ich sehe ihren gebannten Blick, schaue dann zu dem Mann, der soeben unsere Bank erreicht hat – mittelgroß, schlanke Statur, blaue Augen, graue Haare, ziemlich alt. Ich starre auf den Tisch, mustere die Maserung und nippe für eine Ewigkeit an meinem Kaffee. Der Mann ergreift die Hand meiner Nichte, zieht ihren Leib hoch, umarmt sie heftig und jubelt:
„Oh, ist das schön, dass Du auch hier bist!“
In diesem Moment wünsche ich mich weg, auf irgendeine Insel, zumindest aber fort von dieser Bierzeltbank. Meine Begleiterin windet sich steif aus der Umklammerung, setzt sich wieder hin und ruft mit angestrengter Stimme:
„Oh, hallo! Ja. Schön! Das hier ist übrigens Caro!“
Der Blick des Mannes schnellt zu mir, und sofort geht sein gesamtes Wesen auf Distanz. Anscheinend hat er in diesen Dingen Übung. Seine Worte bleiben freundlich, weich und in einem sauberen Takt, entbehren nun jedoch der Vertrautheit von vorhin:
„Hallo, freut mich sehr.“ Er reicht mir die Hand, ich schüttle sie zaghaft und empfinde sie als erschreckend warm. Dann wechselt er einen Blick mit meiner Nichte, schaut mich mit angestrengter Stirn an und setzt leise hinterher: „Schlimm das alles.“
Ich nicke ihm zu, sehe nur kurz in seine Augen. Natürlich weiß ich, was er mit diesem „schlimm das alles“ meinen könnte. Doch will es mir nicht behagen, dass meine Nichte ihn eingeweiht hat. Er schaut sie noch einmal an und verabschiedet sich dann. Sie bleibt ungewohnt kühl und wortkarg. Ich verkneife mir Fragen. Was geht es mich schon an, was sie treibt?
Ich schaufle mir noch ein Stück der erkalteten Waffel in den Mund und spüle sie mit dem Kaffeerest runter. Widerlich bitter. Dann meint meine Nichte plötzlich:
„Du, ich muss nun gehen. Er wartet sicher schon auf mich.“
Sie sieht mich nicht an. Ich nicke trotzdem.
„Ja klar.“
Wir stehen auf. Ich fühle einen leichten Schwindel über mich kommen. Bevor ich tatsächlich ins Taumeln gerate, fängt sich mein Organismus wieder. In dem Moment, als wir das Zelt verlassen, wird mir erst die beeindruckende Aura der Band bewusst. Unvermittelt berührt sie mich tief. Sie spielt irgendeine romantische Schnulze.