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Das Katapult

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28.12.2001
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Das Katapult

Katapult

Was seine Stimme betraf, war sie schon völlig paralysiert, als sie ihn noch gar nicht kannte, sondern nur hören konnte. Wenn ihre Arbeitskollegen mitbekamen, wie das Tippen auf der Tastatur leiser und langsamer wurde, dachten sie sich nichts dabei. Nur Lina selbst wusste, dass es seine Stimme war, die sie unkonzentriert und fahrig machte.
Es heißt, dass der durchschnittliche Radiohörer leiser dreht, sobald jemand spricht. Hypothesen wie diese haben aber eine geringe Aussagekraft, sobald es Menschen wie Lina betrifft. Das meist gleichförmige Gedudel im Radio interessierte sie nicht, sie hörte auf die Stimmen der Sprecher. Bewertete ihren Charakter, ihr Aussehen, ihre Ausstrahlung. Es ging sogar so weit, dass sie die Stimmung der Moderatoren erkennen konnte, auch wenn sie es professionell überspielten.
An seiner Stimme blieb sie jedoch besonders hängen. Diese Stimme hatte einen extrem angenehmen Ton, war tief und brummend und wenn sie es mit einer Farbe beschreiben müsste, wäre es eindeutig ein sattes Gold. Eines Tages fiel Lina auf, dass sie schon bei der Signation, die ihn ankündigte gespannt und konzentriert innehielt.

Einige Wochen später saß Lina nachts in ihrem Auto vor der Wohnung, in der sie und ihr Verlobter, lebten. Es war ein bisschen schade um die Jacke, aber trotzdem rieb sie ihre vor Tränen laufende Nase am Ärmel ab wie ein trotziges Kind.
Das Telefonat mit ihm war längst überfällig gewesen, nach dem, was alles passiert war. Sie waren von ganz oben nach tief unten und wieder zurück gelangt und hatten von Liebesgeständnissen bis zum Kontaktabbruch alles durch.
Es war mitten in der Nacht und Lina hoffte, dass ihr Verlobter so fest wie immer schlafen würde. Er schlief generell sehr tief und bekam nur selten mit, wenn Lina nachts aufstand oder weinte.

Aus dem Handy kam ein tiefer, goldener Seufzer und Lina erinnerte sich wieder daran, dass er ja der Leitung war. Sie hatten bisher nur wenige Telefonate geführt, kamen aber auf einiges an Sprechzeit, denn wenn sie sich etwas zu sagen hatte, dann konnte es auch schon mal drei Stunden dauern.
Die Zeit war überhaupt so ein Thema bei ihnen beiden. Lina fragte sich, wie zwei Wochen eigentlich so vergehen konnten, als wären es Monate und trotzdem in einem kurzen Augenblick schon wieder vorbei waren. Vor zwei Wochen hatte sie das erste Mal in ihrem Leben Kontakt zu einer Stimme aufgenommen, sie hatte einmal kurz geblinzelt und lag schon eine Woche später in seinem Gästezimmer. Sie lag in diesem Bett, blickte lächelnd an die Decke und wartete wie ein Kind auf seine Schritte, denn er hatte versprochen, sie aufzuwecken.
Wieder kam ein goldenes Brummen aus dem Hörer: „Bist du noch da?“ „Ja, tut mir Leid, ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.“

Von der ersten Minute an spürten sie beide die Anziehung, den Gleichklang ihrer Seelen und das Vertrauen. Sie verloren sich in ewigen Gesprächen, in Geständnissen, Gefühlen und Gedanken. Einen kurzen Augenblick später war auch schon dieser Magnet spürbar, der sie über Annäherungsmöglichkeiten, Sehnsucht und Verliebtsein sprechen ließ. Sie waren vorgeprescht wie irre Windhunde, als ob sie etwas jagen würden. Oder – als ob etwas sie jagen würde. Vom ersten intensiveren Mailaustausch am Samstag zum ersten dreistündigen Telefonat am Sonntag verging ein Tag. Vom ersten Telefonat zum ersten kurzen Treffen am Montag ein weiterer. Und von ganz oben, Verliebtsein und Glück nach dem Treffen am Dienstag nach ganz unten verging wieder nur ein einziger Tag. Am Mittwoch waren da auf einmal Tränen, eine unheimliche Schwere, die sich über beide legte. Und Lina bemerkte die Schwere sowohl an ihrer eigenen unkonzentrierten Arbeit wie auch an seiner Stimme auf Sendung.

Sie waren sich wohl beide zu ähnlich, instabil balancierten sie beide auf einem Gummiband ihrer eigenen Stimmung, jederzeit bereit, sowohl nach ganz oben oder auch ganz unten katapultiert zu werden.
Hatte das Gummiband sie nach oben fliegen lassen, sah alles bunt und wunderbar aus. Die Farben leuchteten und so klein und geordnet die Welt unter ihnen schien, wirkte es unkompliziert und weit entfernt.
Bald jedoch konnten sie den Druck der Schwerkraft spüren und mit einem Vielfachen ihres Körpergewichts drückte das Gummiband sie tief in den Boden, der braun und schlammig war.

Während des Telefonats hatte Lina das Gefühl, sie würden sich im Schlamm stehend ansehen und für einen kurzen Moment glaubte sie, ihr eigenes Spiegelbild in ihm zu erkennen. Doch da gab es nicht nur den Schlamm und sie beide, sondern es gab eine ganze Welt über Lina, die sie in diesem Moment zu erdrücken schien. In dieser Welt gab es einen Verlobten, es gab Zukunftspläne, es gab Probleme und Verantwortung, schlimme Erfahrungen und Selbstzweifel.

Lina konnte nicht mehr klar denken. In diesem Auf und Ab mit dem Gummiband hatte sie die Orientierung verloren – in welcher Position war das Gummiband entspannt? Wo stand sie, wenn alles in Ordnung war? Und wer stand neben ihr?
Von hier unten konnte sie das in jedem Fall nicht beurteilen, von oben jedoch genauso wenig.

Das Telefonat dauerte noch lange und obwohl sie sich viel zu sagen hatten, so wäre es wohl nicht notwendig gewesen: Sie wussten ohnehin, wie es um den anderen stand und sie wussten beide von dem Balanceakt des andern. Wichtig und richtig war es wohl jetzt, die Spannung aus dem Gummiband zu nehmen, sich einzupendeln und zur Ruhe zu kommen. Wer wusste schon, ob nicht ihre gemeinsame Welt noch vor ihnen lag? Und die Welt über ihr, die sie zu erdrücken schien, wer weiß, ob sie so schlecht war?
Lina atmete nach dem Auflegen tief durch und ging wieder nach oben in die Wohnung, wo ihr Verlobter in der Tür stand und sie fragend ansah. Er war aufgewacht und Lina wusste, sie musste mit ihm reden.

 

Mein erster Wieder-Versuch nach 10 Jahren. :) Ich kann nicht glauben, dass der Nick tatsächlich noch funktioniert.

Eure Kritik bitte!

 
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Hallo Wundertier,

und nach acht Jahren - Willkommen zurück!

Das ist so eine Geschichte, wo man für eine Situation eine Metapher im Kopf hat und sie dann schreibt. In Deinem Fall das Katapult für die Stimmungsschwankungen, wenn man sich verliebt und doch in einer Beziehung steckt. Ich habe noch keine gelungene Geschichte hier gelesen, wo ein solches Bild in der Lage ist, eine Geschichte zu tragen. Es wirkt viel öfter so, als würde man versuchen, um ein Bild herum eine Geschichte zu stricken. Ein Bild ist weder in der Lage Spannung zu erzeugen, noch Charaktere bunt zu machen, noch ist ein Bild ein Plot. Es ist ein Bild/eine Metapher; nicht mehr, nicht weniger.

An seiner Stimme blieb sie jedoch besonders hängen.

Wie kann man an einer Stimme hängen? Der Satz ist kaputt, irgendwie. Das funktioniert für mich nicht.
Seine Stimme faszinierte ..., der Klang seiner Stimmer erzeugte ... was weiß ich.

Eines Tages fiel Lina auf, dass sie schon bei der Signation, die ihn ankündigte gespannt und konzentriert innehielt.

Eines Tages fiel Lina auf ... das ist auch so ein Allgemeinhalteplatz. Das klingt nicht gut und die Wirkung ist verwässert, weil der Satz nichts konkretes ausdrückt. Irgendwann halt. Nach einer Woche, einem Monat, einem Jahr? Wie lang war die Strecke von magischer Stimme zur Vorfreude auf die Stimme?

Das Telefonat mit ihm war längst überfällig gewesen, nach dem, was alles passiert war. Sie waren von ganz oben nach tief unten und wieder zurück gelangt und hatten von Liebesgeständnissen bis zum Kontaktabbruch alles durch.

Hier fehlt der Bezug zu wem. Wir haben zuvor den Verlobten und die Stimme aus dem Radio. Liebesgeständnisse und Kontaktabbruch - zu wem? Warum?, frage ich mich an dieser Stelle.

Ja, da gibt es noch einige Stellen im Text, die mir nicht ganz rund erscheinen wollen.
Ansonsten, ja - halt eine Geschichte über einen Seitensprung, in de man sich verliebt und zwischenzeitlich mit seinem schlechten Gewissen allein bleibt. Da die Geschichte sich aber im Allgemeinen aufhält, keine besondere Situation oder Charakter aufzeigt bleibt sie halt an der Oberfläche und so wirkt sie auf mich auch - oberflächlich und das erreicht mich nicht. Die Geschichte bräuchte ordentlich mehr Textlänge und Tiefe. Genaueres Hinschauen, eine zerissenene Frau die hier nur als Skelett vorhanden ist.

War jetzt nicht so positiv, was ich zu sagen hatte. Aber ich bin ja auch nur eine von vielen. Vielleicht findet sich ja wer, der an solchen Texten Freude hat.

Beste Grüße Fliege

 

Hallo Wundertier

Der Zustand der Liebesverwirrung, in dem deine Protagonistin sich befindet, vermittelte mir ein recht abstraktes Bild, obwohl die Handlung sich als schlicht erweist. Es ist die Sprache in dieser Geschichte, die mir wie die alte Zeit der Romantik neu interpretiert wirkt, ein Experiment, das sich so aber künstlich darstellt. Nicht lieblos, aber doch entseelt, da die Worte stark an Lebendigkeit vermissen lassen und einen Esprit an Romantik nicht wirklich einfangen.

In den „Irrungen und Wirrungen“ bei Fontane war der Name des Mädchens Lene. Ein Zufall, dass er bei dir Lina lautet?

Beim Lesen hatte ich ein paar Anmerkungen gemacht, die ich dir hier zum Verständnis meiner Sichtweise offenlege. Vielleicht helfen sie dir ja, das eine oder andere zu überdenken.

Was seine Stimme betraf, war sie schon völlig paralysiert, als sie ihn noch gar nicht kannte, sondern nur hören konnte.

Der Einführungssatz wäre für mich als Leser Neugierde erweckend, würdest du nicht den Fehler begehen, einen medizinischen Fachausdruck völlig verfehlt einzusetzen. In einigen Synonym-Wörterbüchern wird er zwar vergleichend als Lähmen und Ähnlichem angeführt, dies ändert aber nichts an seiner eigentlichen Bedeutung und die ist eine Ursache in Krankheitsbildern. Als ihre Vereinnahmung durch seine Stimme führst du besser ein einfaches aber präzises Wort an.

Bewertete ihren Charakter, ihr Aussehen, ihre Ausstrahlung. Es ging sogar so weit, dass sie die Stimmung der Moderatoren erkennen konnte, auch wenn sie es professionell überspielten.

Dies finde ich eine nette Idee, auch wenn sie in der Realität nicht bestehen kann, es sei denn als pures Produkt ihrer Fantasie.

Eines Tages fiel Lina auf, dass sie schon bei der Signation, die ihn ankündigte[KOMMA] gespannt und konzentriert innehielt.

Dachte Lina wirklich so, dass sie spontan einen selten verwendeten Fachbegriff einsetzt, der sich vom lateinischen signatum abgeleitet? Mir war seine Bedeutung zwar sofort klar, doch hier, in einer Kurzgeschichte, hätte sich eine einfache Ansage, oder da es sich ja meist um ein musikalisches Motiv handelt, eine Erkennungsmelodie direkt angedient.

Einige Wochen später saß Lina nachts in ihrem Auto vor der Wohnung, in der sie und ihr Verlobter, lebten.

Hier wäre mir vor dem Miethaus präziser. Da ich mir beim Lesen jeweils Bilder mache, bot sich mir so ein zu komischer Anblick, auch schwankte ich, in welcher Etage ich mir ihre Wohnung vorstellen sollte.

Aus dem Handy kam ein tiefer, goldener Seufzer und Lina erinnerte sich wieder daran, dass er ja der Leitung war.

Hier hat sich vor der Leitung ein in verkrümelt.

und lag schon eine Woche später in seinem Gästezimmer.

Also die Lina und ihr Mod. sind schon sehr eigen, da ist sie hin von ihm und doch schläft sie allein in seinem Gästezimmer. Im modernen Sprachgebrauch deute ich es direkt als platonische Liebe, obzwar diese Redewendung mit der Denkweise von Platon nichts gemeinsam hat.

Er war aufgewacht und Lina wusste, sie musste mit ihm reden.

Das Ende war mir zu gewöhnlich. Es birgt keine Überraschung oder eine Wendung, bei der ich sagen könnte, dadurch bekommt der Inhalt jetzt doch einen tiefen Gehalt.

Obwohl ich meine Lesersicht kritisch und nicht gänzlich ohne ironische Zwischentöne einbringe, habe ich den Text mit Interesse gern gelesen. In seiner Ausgestaltung erinnerte er mich aber mehr an ein Werk der bildenden Kunst, in dem die Facetten und Pinselstriche zu erforschen sind. Es bedarf also noch einer Transformation, damit es mir als wirklich literarisches Werk aufscheint.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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