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Das Karussell

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27.12.2016
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Das Karussell

„Lass mich, ich will aber!“ Leon trug eine üppige rosa Zuckerwatte, löste sich von der Hand seines Vaters und rannte auf das Karussell zu: ein Feuerwehrauto in leuchtendem Rot, eine glänzende goldene Kutsche und ein knallgrüner Frosch drehten sich. „In einem unsichtbaren Land“, tönte Karel Gott durch die Lautsprecher, und der leichte Wind wehte Rauch und den Geruch gegrillten Fleisches von der Würstchen-Bude nebenan zum Karussell.
Feuerwehr – Kutsche- Frosch, Feuerwehr – Kutsche – Frosch, Feuerwe…- Kutsch – Fro - …: Leon beobachtete das sich vor ihm drehende bunte Sammelsurium so, dass ihm schlecht davon wurde, und sah zugleich in die Gesichter der seligen Kinder, die mitfahren durften. Er wischte sich mit der linken Hand durch sein klebriges Gesicht, in der rechten hielt er nur noch den abgefressenen Holzstab. „Maja, erzähle uns von dir.“: Die Musik verstummte, das Feuerwehrauto kam vor ihm zu stehen, als er hinter sich die Stimme Berts, seines Vaters, hörte: „Ich habe dich überall gesucht“, zeterte der.
„Ich! Will! Damit! Fahren!“ Leon ließ nicht locker.
„Also gut, einmal“, willigte Bert ein und kaufte einen Chip.
Leon schwang sich auf den schneeweißen Schimmel, der sich drehte, erst langsam, dann immer schneller, rasend schnell, nun nicht mehr zum Biene-Maja-Lied. „Tausend mal berührt, tausend mal ist nichts passiert“, hörte er, ohne zu wissen, was es bedeutete.
Als Bert ihn vom Schimmel hob, sah Leon in den Augen seines Vaters, dass der das Erbrochene roch; dabei hatte er sich extra nach rechts ins Karussell-Innere gelehnt, als Zuckerwatte, Waffeln und Erbsensuppe hochkamen. „Ich habe doch gesagt, dass das nichts für dich ist“, sagte Bert.
***
Trotzdem bestand Leon auch im folgenden Frühjahr darauf, mit dem Karussell zu fahren. Schon Wochen vor dem Jahrmarkt schwärmte er von dem Schimmel, auf dem er sitzen würde, übte auf dem Klavierhocker eine stolze, aufrechte Haltung für seinen Ritt. Doch Bert packte Leon am Freitag vor dem Jahrmarkt ins Auto und verreiste mit ihm zum Großonkel ins Sauerland, und so machte er es die folgenden sieben Jahre.

***
Leon schwitzte, so heiß war es, obwohl erst Anfang Mai war, wie immer zum Jahrmarkt in Lingen. Von weitem konnte er gar nicht erkennen, ob es das war, was er suchte, denn der grellen Sonne wegen musste er die Augen zukneifen. Er nahm einen Schluck aus seiner Halbliter-Flasche Becks, trat näher, und da sah er: das mattrote Feuerwehrauto, die ockergelb-braune Kutsche, der ergraute Schimmel mit seinen Schrammen. Er stand neben dem Kassenhäuschen.
„Meinst du, dass das noch das Richtige für dich ist?“, fragte der zahnlose Mann hinter dem kleinen Fenster.
„Der Schimmel“, hörte er sich murmeln. „Was haben Sie gesagt“, fragte er zurück.
„Na, du bist doch wohl zu groß dafür“, sagte der Alte und lachte, seinen leeren Mund zeigend.
„Ich weiß. Haben Sie Arbeit für mich? Vier Euro die Stunde, Essen und Schlafplatz, mehr brauche ich nicht.“
Der Alte willigte ein, nicht ohne ihn auf drei Euro fünfzig gedrückt zu haben. Er reiste sonst nur mit Tom, einem Zwerg, der das Wohnmobil fuhr und das Karussell putzte. Zum Aufbauen suchte er immer vor Ort Hilfsarbeiter.
***
Leon und der Alte sprachen kaum miteinander, wenn sie von einer Stadt zur nächsten fuhren, der Alte am Steuer des LKW mit dem Karussellanhänger, Leon auf dem Beifahrersitz, der Zwerg hinter ihnen im Wohnmobil.
Leon schlief auf dem Boden des Wohnmobils, obwohl der Zwerg ihm seine Schlafbank angeboten hatte. Die beiden freundeten sich an. Wenn sie abends zusammen im Wohnmobil saßen, brachte der Zwerg Leon Zaubertricks bei, die er früher auf Jahrmärkten gezeigt hatte. Und obwohl er dafür nicht bezahlt wurde, half Leon dem Zwerg beim Putzen, besonders den Schimmel polierte er jeden Abend.
***
„So, das war’s“, sagte der Alte nach dem Gothaer Kartoffelmarkt, als sie nachts in ihren Daunenjacken vor dem Karussell eine rauchten. „Morgen nur noch abbauen, das war’s für dieses Jahr.“ Er zog ein Bündel Scheine aus der Jackentasche und gab ihn Leon.
„Danke.“
„Weißt du schon, wohin du gehst?“
Leon zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht, aber er wusste, was er wollte. Als der Alte und der Zwerg schliefen, schlich er sich aus dem Wohnwagen – bepackt mit dem Werkzeugkasten, den der Alte neben der Kochnische deponiert hatte. Er schob die Plane über dem Karussell beiseite, leuchtete mit der Taschenlampe, sah zuerst das Feuerwehrauto, dann den Frosch – und endlich den Schimmel, den er in den letzten Monaten wieder blank gewienert hatte. Leon hatte sofort den passenden Schraubenschlüssel parat. Er brauchte nicht lange.
***
Die anderen Passagiere im Zug starrten auf ihn – oder eher nicht auf ihn, sondern auf das weiße Holztier neben ihm. Der Nachtzug fuhr morgens um kurz nach sieben in Osnabrück ein, eine knappe Stunde später war er daheim in Lingen. Die siebenhundert Meter vom Bahnhof lief er zu Fuß. Mit seiner Reisetasche über der Schulter, seinen Schatz mit seinen Armen umklammernd, machte er einen Umweg, damit er nicht durch die Einkaufstraße, an den Bäckereien vorbei, gehen musste.
Er wusste, dass Bert ihm öffnen würde. Seine Mutter blieb immer sitzen, wenn es klingelte. So wartete er, den Kopf nach unten gebeugt, den Schimmel in die Höhe haltend. Als die Tür endlich aufging, wieherte Leon, so laut und echt, dass er selbst davon überrascht wurde, wie die Pferde in den alten Western, die er früher zusammen mit Bert geguckt hatte. Er ließ den Schimmel auf Bert fallen. Sein Vater schrie, stürzte, blutete – und regte sich nicht mehr.
***
Dass es ein Unfall gewesen war, dass Bert ihn bedroht und er in Notwehr gehandelt hatte, dass „die Tat“ Folge traumatischer Erlebnisse in der frühen Kindheit war – nichts davon nahm man ihm ab. Er habe heimtückisch gehandelt, fand der Richter. Obwohl sein Anwalt gute Chancen für eine Berufung sah – das Landesgericht in Hannover galt als moderater als das Amtsgericht Lingen -, akzeptierte Leon das Urteil, wie es war.
Als er seine zehn Jahre Jugendstrafe abgesessen hatte, besuchte er noch einmal den Jahrmarkt in Lingen. Nun saß der Zwerg hinter dem Kassenfenster, sonst war niemand mehr da. Das Karussell hatten sie ausgebessert: Wo das Feuerwehrauto gewesen war, drehte sich jetzt ein Schlitten, an der Stelle der Kutsche rotierten nun zwei Motorräder. Nur eine Lücke entdeckte Leon. Den Schimmel hatten sie nicht ersetzt.

 

Hallo MartinGeschichten,

und willkommen hier!

Erstmal: mir gefällt dein Schreibstil. Ich finds gut, dass du so einfache, kurze Sätze schreibst, ein bisschen minimalistisch, solche Texte les ich ziemlich gern.

So, und jetzt zum Inhalt: ich weiß nicht so recht, was ich von deiner Geschichte halten soll. Sie kommt mir irgendwie zu unrealistisch und ein wenig unglaubwürdig vor - aber nicht unglaubwürdig genug, als dass ich sie in die Kategorie "skurril" stecken würde.
Insgesamt bleiben für mich am Ende viele offene Fragen.

Dass Leon so besessen ist von dem Karrussell - genauer: dem Schimmel - dass er ihn klaut, okay, das nehm ich noch hin, aber dass er damit dann seinen Vater umbringt? Wegen traumatischer Kindheitserlebnisse? Welcher? Da erfahre ich nichts darüber, insofern ist mir das nicht plausibel genug. Oder meinst du mit traumatischem Erlebnis den Vorfall auf dem Jahrmarkt, als er Kind war? Was war denn daran so traumatisch?

Okay, aber ich geh mal der Reihe nach durch.

Der Anfang gefällt mir ganz gut, ich finde, du hast das Geschehen auf dem Jahrmarkt aus Leons Sicht sehr schön eingefangen - die Geräusche, die Musik, der Geruch. Ich finde auch, dass sich die Erzählweise der Perspektive eines Kindes anpasst.

Leon ließ nicht locker.
Wenn er nicht locker lässt, bedeutet das aber, dass es davor schon eine Diskussion mit seinem Vater gegeben hat. Hier ist der Vater aber gerade erst gekommen.

Doch Bert packte Leon am Freitag vor dem Jahrmarkt ins Auto und verreiste mit ihm zum Großonkel ins Sauerland,
warum? nur, weil er sich einmal auf dem Karrussell übergeben hat?

Er reiste sonst nur mit Tom, einem Zwerg, der das Wohnmobil fuhr und das Karussell putzte. Zum Aufbauen suchte er immer vor Ort Hilfsarbeiter.
Da hab ich das Gefühl, der Autor will mir was erklären. Braucht es m.M.n. nicht.

Die beiden freundeten sich an.
Den Satz find ich überflüssig. Das zeigst du ja durch den nächsten schon ein bisschen (dass der Zwerg ihm Zaubertricks beibringt).

Er ließ den Schimmel auf Bert fallen. Sein Vater schrie, stürzte, blutete – und regte sich nicht mehr.
Ich versuch mir das grad mal bildlich vorzustellen: Er hebt ein Karrussell-Pferd (aus Holz?) hoch und lässt es auf seinen Vater fallen? D.h. er müsste irgendwie "über" seinem Vater stehen, oder? Ich kann mir diese Situation an der Tür grad schwer vorstellen.
Und: dadurch stirbt sein Vater sofort? Wie schwer ist denn so ein Pferd? Es kann ja nicht allzu groß sein, wenn es in eine Reisetasche passt und nicht allzu schwer, wenn er es die ganze Zeit mit sich rumträgt. Hm, kommt mir irgendwie unrealistisch vor ...

dass Bert ihn bedroht und er in Notwehr gehandelt hatte
Hä, also dafür gibts hier doch gar keine Anhaltspunkte oder? Er hat doch nur die Tür geöffnet? Und wieso Notwehr?

Er habe heimtückisch gehandelt, fand der Richter.
... und was bedeutet das? (ich denke, du willst darauf hinaus, dass es Mord ist, aber so für sich betrachtet ist dieser Satz bisschen ohne Zusammenhang, finde ich)

Ich hoffe, du kannst mit meinen Anmerkungen etwas anfangen! :)

Liebe Grüße,

Tintenfisch

 

Hi MartinGeschichten

und willkommen hier. Du setzt „Humor“ als Tag, aber ich lese nichts, das mich zum Lachen brächte. Klar, wenn der den Schummel klaut und auf dem Jahrmarkt arbeitet und mit dem Schimmel seinen Vater umbringt, das hast du dir wahrscheinlich als humorvoll gedacht. Ist es für mich nicht, hat eher eine Tragik, hinter der ich mehr vermute, aber nicht geliefert bekomme. Was macht die Beziehung des Protagonisten zu seinem Vater, zu seinen Eltern aus? Wie entwickelt er seine Schimmel-Fixierung und warum? Vor diesem Hintergrund könnte das eine ziemlich gute Geschichte werden.

Sprachlich ist der Text gut, da fällt mir nicht viel auf. Am Anfang finde ich die Sätze etwas zu lang, nach und nach findest du den Ton und sie werden kürzer, das funktioniert ganz gut.

Textstellen:

„Lass mich, ich will aber!“ Leon trug eine üppige rosa Zuckerwatte,
istv das nicht so eine Stange? Und üppig sind die alle :D

Leon schlief auf dem Boden des Wohnmobils, obwohl der Zwerg ihm seine Schlafbank angeboten
ob der wohl auf die Zwergenbank drauf gepasst hätte?

Der Nachtzug fuhr morgens
das ist der lustigste Satz im ganzen Text. Morgens fährt der Nachtzug :lol:

Er ließ den Schimmel auf Bert fallen. Sein Vater schrie, stürzte, blutete – und regte sich nicht mehr.
der muss ja ganz schön schwer sein, der Schimmel? Dass der den tragen konnte wundert mich.

viele Grüße
Isegrims

 

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